Die SBB sind gemäss dem Behinderten-Gleichstellungsgesetz (BehiG) verpflichtet, alle Bahnhöfe bis Ende nächsten Jahres barrierefrei umzubauen. Das heisst, auch Personen mit eingeschränkter Mobilität sollen die Angebote der SBB ab 2024 möglichst autonom nutzen können. «Zu unserem Bedauern ist dies aktuell an zu vielen Bahnhöfen nach wie vor nicht gewährleistet», sagt Jonas Gerber vom Dachverband Inclusion Handicap zu Blick. Dabei ist das Gesetz 2004 in Kraft getreten!
Bei den Umbauten werden vor allem Perrons erhöht sowie Rampen und zusätzliche Lifte gebaut. Aber diese laufen nicht planmässig. Der Verzug der Umbauarbeiten ist massiv, wie ein heute veröffentlichter Bericht zeigt.
«Wir haben viel für den barrierefreien ÖV getan, es gibt aber noch einiges zu tun. Wir werden das Ziel bis Ende 2023 nicht erreichen», bestätigt Andrés Doménech Nothhelfer (54) gegenüber Blick. Er ist bei der SBB seit 2015 zuständig für die bauliche Umsetzung des BehiG.
Bis Ende 2023 werden die SBB voraussichtlich 434 Bahnhöfe von insgesamt 746 umgebaut haben, heisst es in einer Mitteilung der SBB. «Dann können drei Viertel der Reisenden unser Angebot barrierefrei nutzen», sagt Doménech Nothhelfer.
Verbände kritisieren Fortschritt
«Wenn 20 Jahre nach Inkrafttreten des BehiG nur drei Viertel der Reisenden autonom in Züge ein- und aussteigen können, dann wird klar, dass der Barrierefreiheit bis heute viel zu wenig Priorität eingeräumt wird», sagt Gerber vom Dachverband Inclusion Handicap. Weil die ersten Jahre der BehiG-Frist verschlafen wurden, entstehe bei der Umsetzung der Massnahmen kurz vor Ende der Frist nun ein Flaschenhals. Auch der schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen kritisiert, dass die Barrierefreiheit in den vergangenen 20 Jahren lange Zeit zu wenig prioritär behandelt wurde.
Denn 300 Bahnhöfe werden erst nach 2023 umgebaut. Und bei rund 30 Bahnhöfen sind die Investitionen unverhältnismässig, so dass die Anpassungen beim nächsten ordentlichen Umbau erfolgen, schreiben die SBB.
An diesen 300 Bahnhöfen werden ab 2024 Ersatzmassnahmen zur Verfügung gestellt. Beispielsweise kann das Personal Reisenden im Rollstuhl oder einer Gehbehinderung mithilfe von Rampen oder einem Mobillift helfen, in den Zug ein- oder wieder auszusteigen.
2019 wurde das Angebot der SBB über 150'000 Mal genutzt. Gemäss Gerber entsprechen diese Hilfeleistungen aber nicht einer Barrierefreiheit im Sinne des Gesetzes. Eigentlich standen diese nur als Zwischenlösung bis Ende 2023 zur Option.
Immer wieder neue Details
Ein Grund für den Rückstand ist, dass die Umsetzung des BehiG komplexer ist als zu Beginn angenommen. Es kommen laufend Details hinzu. «Am Anfang sind wir davon ausgegangen, dass wir rund 150 Bahnhöfe umbauen müssen», sagt Doménech Nothhelfer von den SBB. Nun sind in den vergangenen Jahren aber weitere Präzisierungen hinzugekommen. «Mittlerweile wissen wir, dass es 400 Bahnhöfe sind, die es umzubauen gilt.» Bis Ende 2028 werden die SBB über 2,5 Milliarden Franken in die Bahnhöfe investiert haben.
Aber nicht der gesamte öffentliche Verkehr (ÖV) liegt in den Händen der SBB. Für den Bus- und Tramverkehr sind die Kantone und Gemeinden jeweils selber verantwortlich. Auch viele Bahnhöfe werden von regionalen Anbietern betrieben.
Das Bundesamt für Verkehr (BAV) teilt mit, dass der gesamte ÖV ab 2024 von 82 Prozent der Reisenden barrierefrei genutzt werden kann. Das sind sogar noch 3 Prozent weniger als vor einem Jahr angenommen. Das grosse Ziel des BehiG ist die Barrierefreiheit des gesamten ÖVs in der Schweiz. Dieses wird somit nicht erreicht.