Die SBB konnten diese Woche zum ersten Mal seit der Pandemie wieder einen Gewinn präsentieren. CEO Vincent Ducrot (61) sagt im Interview mit SonntagsBlick, wieso er sich trotzdem grosse Sorgen um die Finanzen seines Konzerns macht. Zudem skizziert er, wie der öffentliche Verkehr in der Schweiz in einigen Jahren aussehen soll.
Herr Ducrot, Journalisten verteilen selten Komplimente. Zeit für eine Ausnahme: Ich muss deutlich seltener auf meinen Zug warten als noch vor ein paar Jahren. Wie haben Sie das geschafft?
Vincent Ducrot: Wir haben stark in die Planung und interne Kommunikation investiert. Die Bereiche Personenverkehr, Infrastruktur, Sicherheit, IT und Immobilien arbeiten heute deutlich enger zusammen als früher. Mit der neuen Leitstelle Bahnverkehr Schweiz im Bollwerk in Bern gehen wir nun noch einen Schritt weiter: Hier laufen alle Fäden der integrierten Bahn zusammen. So können wir sofort reagieren, wenn irgendwo Probleme auftauchen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir eine Baustelle, bei der die Züge aus Sicherheitsgründen langsamer fahren müssen. Nach Plan beträgt die Verzögerung 10 Sekunden, in der Realität sind es aber 20 Sekunden. Das kann ausreichen, um unser fein abgestimmtes System aus dem Takt zu bringen. Wenn der Personenverkehr einen direkten Draht zur Infrastruktur hat, so hilft dies, das Problem rasch zu beheben.
Die Pünktlichkeit stimmt, der Komfort lässt aber oft zu wünschen übrig: Zu Stosszeiten muss ich zwischen Winterthur und Zürich auf der Treppe sitzen. Heute Morgen hatten – von Zürich nach Bern – ebenfalls nicht alle einen Sitzplatz. Müssen wir uns daran gewöhnen?
Auf kurzen Strecken von weniger als 15 Minuten während der Rushhour gibt es oft wie in einer Metro keine freien Sitzplätze. Auf längeren Strecken ist es aber selbstverständlich unser Anspruch, dass niemand stehen muss. Aufgrund unseres offenen Systems, das keine Reservierung erfordert, ist es aber nicht möglich, das immer zu garantieren. Hier wollen wir ansetzen, indem wir flexibler dort mehr Züge fahren lassen, wo sie gefragt sind.
Vincent Ducrot (61) ist seit rund vier Jahren CEO der SBB. Der Freiburger arbeitete schon früher, von 1993 bis 2011, im Projektmanagement bei den Bundesbahnen – bis er 2011 zum Generaldirektor der Freiburgischen Verkehrsbetriebe (TPF) ernannt wurde. Privat musste Ducrot 2017 einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen: Seine Frau, mit der er sechs Kinder hat, starb nach langer, schwerer Krankheit.
Vincent Ducrot (61) ist seit rund vier Jahren CEO der SBB. Der Freiburger arbeitete schon früher, von 1993 bis 2011, im Projektmanagement bei den Bundesbahnen – bis er 2011 zum Generaldirektor der Freiburgischen Verkehrsbetriebe (TPF) ernannt wurde. Privat musste Ducrot 2017 einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen: Seine Frau, mit der er sechs Kinder hat, starb nach langer, schwerer Krankheit.
Die SBB sind unter Ihrer Ägide wieder zuverlässiger geworden. Die Finanzen hatte Ihr Vorgänger Andreas Meyer aber besser im Griff. Einverstanden?
Der Vergleich ist nicht ganz fair: Wir hatten fast drei Jahre lang mit Corona zu kämpfen. Das hat uns Reisende und viel Geld gekostet, rund drei Milliarden Franken. Die zunehmende Verschuldung ist fast ausschliesslich auf die Pandemie zurückzuführen. Dieses Jahr konnten wir wieder einen Gewinn erwirtschaften. Das freut uns, reicht aber nicht.
Trotzdem entsteht der Eindruck, dass Sie viel Geld in Infrastruktur, Personal und Betrieb investieren – und darauf spekulieren, dass am Ende der Bund die Rechnung übernimmt.
Das stimmt nicht, ganz im Gegenteil. Wir haben unter meiner Leitung Kosten- und Effizienzmassnahmen ergriffen: Bis 2030 wollen wir sechs Milliarden Franken weniger ausgeben. Die öffentliche Hand finanziert die Infrastruktur und den Betrieb. Die SBB müssen aus eigener Kraft in Rollmaterial und Bahnhöfe investieren. Wir fühlen uns aber dem Service public verpflichtet. Ein möglichst hoher Gewinn ist deshalb nicht unser Ziel, sondern ein guter Service für unsere Kundinnen und Kunden.
Peter Füglistaler, Chef des Bundesamts für Verkehr (BAV), ist der Ansicht, dass Sie zu wenig Wert auf die Eigenwirtschaftlichkeit der SBB legen.
Herr Füglistaler hat einen anderen Blickwinkel als wir: Er hat den Eindruck, dass die Bahnen sich darauf beschränken, öffentliches Geld zu verlangen. Wir wollen unseren Transportauftrag möglichst gut erfüllen – und gleichzeitig einen riesigen Schuldenberg für die SBB verhindern, wie es der Eigner von uns verlangt.
Nach Bekanntgabe der Jahresergebnisse sprach sich Füglistaler dagegen aus, dass Ihnen das Parlament zum Schuldenabbau einen einmaligen Kapitalzuschuss von 1,15 Milliarden Franken gewährt. Was wären die Konsequenzen?
Wir müssten mit unserem Eigner, dem Bund, unsere finanziellen Ziele neu aushandeln. Unsere Schulden sind während der Pandemie auf über elf Milliarden Franken gestiegen. Das ist deutlich mehr, als uns die Vorgaben erlauben. Aus eigener Kraft werden wir diese Schulden nicht im geforderten Masse reduzieren können. Und um das Angebot der kommenden Jahre fahren zu können, sind massive Investitionen nötig. Es braucht deshalb die Unterstützung durch den Bund, wir sind froh um jeden Franken. Wir wollen um jeden Preis verhindern, dass den SBB irgendwann nur noch die Totalsanierung bleibt.
Ist das eine realistische Gefahr?
Nicht heute und nicht morgen. Aber wenn wir so weitermachen wie in den vergangenen Jahren, kommt es nicht gut. Wir müssen mit den Gewinnen, die wir im Fernverkehr und mit unseren Immobilien erwirtschaften, enorme Kosten tragen. Selbst 267 Millionen Franken Überschuss wie in diesem Jahr sind zu wenig, um die Schulden zu reduzieren und Investitionen zu finanzieren, beispielsweise in neue Züge. Um wirtschaftlich nachhaltig zu sein, brauchen wir einen Gewinn von jährlich 500 Millionen Franken.
Sie mahnen die Politik deshalb zur Zurückhaltung beim weiteren Ausbau der Infrastruktur.
Wir bauen, während die Züge fahren. Unser System kommt an seine Grenzen. Jeder Franken, den wir in den Ausbau investieren, verursacht Folgekosten von drei Prozent – Jahr für Jahr. Ein Infrastrukturprojekt von einer Milliarde Franken kostet uns also jährlich 30 Millionen Franken im Substanz-Erhalt der neuen Bahnanlagen. Wir müssen uns deshalb sehr genau überlegen, wo die Kosten-Nutzen-Rechnung stimmt. Zudem müssen wir bei der Infrastrukturplanung wieder vermehrt das grosse Ganze vor Augen haben und nicht nur lokale Bedürfnisse befriedigen.
Sie fordern, dass das ÖV-Angebot in der Schweiz künftig «flexibler, häufiger, schneller» wird. Gleichzeitig wehren Sie sich gegen weitere Ausbauprojekte. Wie passt das zusammen?
Wir wollen in der Schweiz möglichst flächendeckend den 15-Minuten-Takt einführen. Das ist dank der Digitalisierung mit dem bestehenden Schienennetz möglich. Teure Infrastrukturen, die nur wenige Sekunden Fahrzeitgewinn bringen, sind dafür nicht nötig. Allerdings müssen wir auf Dinge verzichten, an die wir uns über die Jahre gewöhnt haben: Wir sollten Zentren flexibler anfahren und uns von der starren Knotenstruktur 0/15/30/45 lösen. Bei kleineren Bahnhöfen müssen wir uns überlegen, wo ein Zug sinnvollerweise hält.
Und wie kommen die Pendler dann vor ihre Haustür?
Für die Feinverteilung, die letzten 15 Minuten, müssen wir den lokalen ÖV ausbauen und vermehrt auf Trams, Rufbusse oder sogenanntes Light Rail setzen. Dass dies funktionieren kann, zeigt etwa die Limmattalbahn zwischen Zürich-Altstetten und Spreitenbach AG. Diese neue Strassenbahn ist sehr gut ausgelastet. Das Schienennetz, das wir brauchen, um den 15-Minuten-Takt zu gewährleisten, wird derweil entlastet. Unser Ziel ist, dass die Reisenden schneller von Tür zu Tür kommen. Die Bahn ist auf mittleren und langen Distanzen stark.
Ein solcher Paradigmenwechsel erfordert eine ganzheitliche Planung. Wer soll den ÖV der Zukunft aufgleisen?
Die Federführung hat das BAV. Allerdings braucht es eine enge Zusammenarbeit mit den Kantonen, Städten sowie den kleinen und grossen Verkehrsbetrieben. Wir möchten mit unseren Ideen eine breite Diskussion über die Bahn ab Mitte des Jahrhunderts anstossen.
Das ist das Problem: In der Schweiz reden bei der Verkehrsplanung viel zu viele Player mit. Nicht nur Bund, Kantone, Städte und SBB, sondern auch 250 Transportunternehmen und 18 Tarifverbünde.
Die Schweizer Bahn ist ein Erfolgsmodell, darum beneidet uns das Ausland. Unser Föderalismus und die direktdemokratischen Prozesse sind eine Herausforderung. Ich bin aber davon überzeugt, dass es möglich ist, gemeinsam den ÖV in der Schweiz zu reformieren. Wir müssen dabei den Mut haben, auch über Tabus nachzudenken wie das Knotenprinzip oder die Haltepolitik.
Welche Rolle hat dabei Verkehrsminister Albert Rösti? Bisher sorgte er vor allem in Zusammenhang mit der Energiewende, der SRG und dem Wolf für Furore.
Herr Rösti kennt die Bahn sehr gut und auch unsere Zukunftsideen. Er hat sich intensiv damit beschäftigt. Ich gehe deshalb davon aus, dass er sich zu gegebener Zeit auch verstärkt in diese Diskussion einbringen wird.