Mitte September im Bahnhof von Rothenburg LU: An einem Freitagmorgen, kurz vor 9 Uhr, wird ein 46-Jähriger von einem durchfahrenden Zug erfasst. Der Mann starb noch an der Unfallstelle. Er war als Mitarbeiter einer sogenannten Drittfirma im Auftrag der SBB mit Bauarbeiten beschäftigt.
Dies ist nicht der erste tragische Vorfall, der sich in den vergangenen Monaten in Gleisnähe ereignet hat. Im laufenden Jahr starben durch Unfälle auf SBB-Baustellen drei Menschen, drei wurden schwer verletzt, ein weiterer kam beim Rangieren ums Leben.
CEO spricht zu Angestellten
Nun nimmt sich SBB-CEO Vincent Ducrot (60) des Themas an. Vergangene Woche wandte er sich in mehreren Videoschaltungen an die 4000 Beschäftigten, die in Gleisnähe arbeiten.
«Ich habe ihnen erzählt, dass ich dieses Jahr die Beerdigung mehrerer Mitarbeiter erleben musste», sagt Ducrot auf Anfrage von SonntagsBlick. Erst vor wenigen Tagen sei er an der Beerdigung eines jungen Mannes in Erstfeld UR gewesen, der Frau und Kinder hinterlässt. «Das sind unglaublich emotionale Momente im Leben eines CEO. Das vergisst man nie.»
«Es herrscht Nachholbedarf»
Mit der Videoansprache wollte Ducrot seinen Leuten klarmachen, dass sie es zum grossen Teil selbst in der Hand haben, solche tragischen Ereignisse zu verhindern. Hundertprozentige Sicherheit gebe es zwar nie. Der Faktor Mensch spiele aber eine Schlüsselrolle, so der Bahnchef. «Ich habe deshalb darauf aufmerksam gemacht, dass es extrem wichtig ist, nie die Aufmerksamkeit und den Respekt vor potenziellen Gefahren zu verlieren – auch wenn man seit vielen Jahren in Gleisnähe arbeitet.»
Das Bundesamt für Verkehr (BAV), als Aufsichtsbehörde für die Sicherheit im öffentlichen Verkehr zuständig, nimmt derweil die Infrastrukturbetreiberinnen in die Pflicht, zu denen auch die SBB gehören. Gegenüber SonntagsBlick hält das BAV unmissverständlich fest: «Bei der Sicherheit auf Arbeitsstellen im Gleisbereich herrscht Nachholbedarf.»
Im Europa-Vergleich weit hinten
Im jüngsten BAV-Sicherheitsbericht, der Mitte Juli publiziert wurde, schrieb Vizedirektor Rudolf Sperlich im Vorwort: «So stolz wir auf unsere Infrastruktur sind, so wenig können wir uns leider über die Baustellen-Sicherheit freuen.» Während der öffentliche Verkehr der Schweiz punkto Sicherheit europaweit generell an der Spitze liege, rangiere man bezüglich der Unfälle auf Arbeitsstellen im Schienenverkehr weit hinten.
SBB-CEO Ducrot lässt die Kritik nicht auf sich sitzen: «Wir investieren enorm viel in die Sicherheit unserer Baustellen», betont er. In absoluten Zahlen gebe es zwar mehr Unfälle, das sei aber in erster Linie darauf zurückzuführen, dass derzeit sehr viel gebaut werde.
Massnahmen getroffen
Wenig anfangen kann Ducrot auch mit dem Auslandsvergleich: «Die internationalen Rankings sind nicht sehr aussagekräftig, da werden Äpfel mit Birnen verglichen», sagt er. Der Grund: Die Schweiz sei das einzige Land, das ihre Gleise in diesem Ausmass während des laufenden Betriebs repariere.
«In anderen Ländern werden dazu ganze Strecken gesperrt. Es ist deshalb nur logisch, dass es bei uns mehr Unfälle gibt.»
Gleichwohl haben die SBB eine Reihe von Massnahmen ergriffen, um die Zahl der Unfälle in Zukunft möglichst zu verringern – und vor allem keine tödlichen mehr zu riskieren. Ducrot: «Wir versuchen das Personal weiter zu schulen und zu sensibilisieren – auch das Personal von Drittfirmen, die für uns arbeiten.»
Warnsysteme sollen helfen
Des Weiteren sei man an der Entwicklung neuer Warnsysteme, welche die Sicherheit weiter erhöhen sollen, insbesondere auf kleinen Baustellen, wo im Gegensatz zu grossen keine festen Warnanlagen installiert sind. «Auch auf diesen Baustellen, wo nur kurz gearbeitet wird, sollen die Arbeiter automatisch vor herannahenden Zügen gewarnt werden», so Ducrot. Zudem wolle man intelligente Warnwesten entwickeln, die jeden Arbeiter einzeln warnen. In dieser Hinsicht stehe man aber erst am Anfang.
Beim Bundesamt für Verkehr werden diese Bemühungen honoriert. «Unsere Rückmeldungen zeigen, dass die überwachten Infrastrukturbetreiberinnen das Verbesserungspotenzial erkannt und entsprechende Massnahmen ergriffen haben», sagt ein Sprecher.
Die positiven Bemühungen würden sich jedoch noch nicht in absoluten Zahlen niederschlagen.