Adolf Muschg zählt zu den letzten Grossen seiner Art. Der Dichter und Denker spricht auch mit 88 Jahren so furchtlos wie heiter über die Lage der Welt. Im Gespräch mit René Scheu in seiner Männedorfer Idylle äussert sich Muschg humorvoll zum nahenden Tod, zum möglichen Atomkrieg – und zur anödenden Humorlosigkeit der neuen Tugendterroristen.
Blick: Herr Muschg, Sie sind, es ist kaum zu glauben, 88 Jahre alt. Wenn Sie an Ihr potenzielles Ende denken, sind Sie dann gelassener oder besorgter als noch vor zehn Jahren?
Adolf Muschg: Die Antwort darauf suche ich in meinem nächsten Buch. Mal sehen, was der nahe Tod mit meiner Sprache macht.
Sie schreiben bis zuletzt, so viel ist also schon mal klar. Worum gehts im neuen Projekt?
Es hat mit einer Grabmiete angefangen – nicht einer fiktiven, sondern einer wirklichen, nämlich meiner. Das ist eine der wenigen Dispositionen über das Jenseits, die man schon im Diesseits treffen kann.
Sie wollen Ihr eigenes Ende nachempfinden, indem Sie es vorwegnehmen?
Eher folge ich einem bestimmten Toten ins Leben zurück, an den Punkt, wo es sich mit dem meinen berührt hat. Meine Erzählung geht von einer Begebenheit vor 75 Jahren aus, die jetzt erst richtig bei mir angekommen ist. Haben Sie Zeit?
Klar. Deshalb bin ich zu Ihnen nach Männedorf gekommen – Sie leihen mir Ihre kostbare Zeit, ich leihe Ihnen mein Ohr.
Also: Für meine japanische Frau würde es viel bedeuten, einen Platz in der fremden Erde auf sicher zu haben. Wir wohnen gewissermassen auf dem Lande; sie ist in Kyoto aufgewachsen, und es hat sie immer in die Stadt gezogen. Wir haben einen Platz gesucht, der für beide stimmt, und sind im Friedhof Enzenbühl fündig geworden. Er liegt an meinem ehemaligen Schulweg nach Zürich und wird auch von der Stadt verwaltet. Aber ein Stück davon dehnt sich auf den Boden von Zollikon aus. Hier wurde mein Vater als Lehrer eingebürgert und schrieb regelmässig für den «Zolliker Boten», hier habe ich meine Kindheit erlebt. Auf dem Boden dieses interkulturellen Kompromisses können wir allem weiteren doch mit Ruhe entgegensehen. Kennen Sie den Friedhof Enzenbühl?
Vage. Der Schriftsteller Urs Widmer ist da begraben, wenn ich mich richtig erinnere.
Und viele andere Freunde auch, zum Beispiel mein Psychoanalytiker Paul Parin und seine Frau Goldy. Aber auch ein vor hundert Jahren hoch gefeierter Schweizer Schriftsteller, Ernst Zahn, der heute fast vergessen ist. Wir entdeckten, dass sein umfangreiches Familiengrab dem von uns gewählten Plätzchen genau gegenüberliegt.
Adolf Muschg, 1934 in Zollikon bei Zürich geboren, ist einer der grossen Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Er wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, zuletzt mit dem Gottfried-Keller-Preis. Muschg hat ein umfassendes Werk geschaffen. Zu seinen letzten Veröffentlichungen zählen u.a. «Aberleben» (Beck 2021), «Heimkehr nach Fukushima» (Beck 2018) und «Im Erlebensfall. Versuche und Reden 2002–2013» (Beck 2013).
Adolf Muschg, 1934 in Zollikon bei Zürich geboren, ist einer der grossen Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Er wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, zuletzt mit dem Gottfried-Keller-Preis. Muschg hat ein umfassendes Werk geschaffen. Zu seinen letzten Veröffentlichungen zählen u.a. «Aberleben» (Beck 2021), «Heimkehr nach Fukushima» (Beck 2018) und «Im Erlebensfall. Versuche und Reden 2002–2013» (Beck 2013).
Ernst Zahn, das war doch ein ziemlich patriotischer Schriftsteller. Wie passt das zu Ihnen?
Die Nachbarschaft hat zweifellos ihre Ironie, denn mit grosser Heimatliteratur kann ich nicht dienen. Aber Ernst war der Sohn eines Wilhelm Zahn, des einstigen Inhabers des Café littéraire an der Storchengasse in Zürich. Später bewirtschaftete er das berühmte Bahnhofrestaurant Göschenen am Eingang des Gotthardtunnels, wo selbst Mäjestäten kurz abstiegen – weil die Dampfloks zum Nachfüllen von Kohle pausieren mussten. Sein Sohn, der besagte Ernst Zahn, führte das Buffet einige Jahre selbst, bevor ihm der literarische Erfolg ein Seegut in Meggen bei Luzern bescherte. Er behielt auch einen Sitz auf der Göscheneralp. Also begann ich, angesichts unserer kommenden Nachbarschaft, seine durchaus nicht gering zu schätzenden Werke zu lesen. Aber was mich ernsthafter beschäftigt, ist etwas anderes. Am Fuss des monumentalen Grabmals, ganz am Rande, entdeckte ich eine bescheidene Bronzeplatte mit einem Namen, der mich elektrisierte.
Jetzt wirds noch spannender. Welcher Name hat Ihre Fantasie beflügelt?
Robin P. Marchev.
Der Name sagt mir nichts.
Das war auch nicht zu erwarten. Ein Junge dieses Namens hat in der Evangelischen Lehranstalt in Schiers meine arme Seele gerettet – wo ich 1948/49 nach dem Tod meines Vaters die Genesung meiner psychisch erkrankten Mutter absitzen musste. Das damals frömmelnde Internat war eine wahre Strafe für ein pubertierendes Einzel- und Heimwehkind wie mich. Robin war schon älter, gehörte zu den sogenannten Selbstregenten und durfte in der Turnhalle Grillparzers Stück «Weh dem, der lügt!» inszenieren – für mich mehr als ein Lichtblick. Eine Erlösung!
Immer der Reihe nach – was genau hat Marchev mit den Zahns zu tun?
Seine Mutter war eine Tochter des Dichters. Sie hatte in Zürich den Arzt Dr. Marchev geheiratet, dessen jüdische Familie, aus Polen zugewandert, in Zürich getauft und wohlhabend wurde. Er war etwa Hausarzt des berühmten Hotels Baur au Lac. Nach der Scheidung der Eltern riss die Verbindung der Familien nicht ab. Robin behielt den Namen seines Vaters, als er bei seiner Mutter lebte, ohne materielle Sorgen, aber auch unbesorgt um die Regeln seines Zürcher Gymnasiums. So wurde er zur Besserung nach Schiers verschickt, das seinen Eigensinn auch nicht brechen konnte. Darum stand seine Ausweisung wieder kurz bevor, als er die Regie eines Schultheaters übernahm – eben des Lustspiels von Grillparzer, zu dem er seine eigene Musik lieferte, und er dirigierte sie auch selbst. Und als der Hauptdarsteller ausfiel, übernahm er dessen Rolle zusätzlich, und in jeder spielte er in einer eigenen Liga.
Sie erinnern sich an jedes Detail.
Ja, denn da ging mir eine andere Welt auf, in der ich atmen konnte und leben wollte. Dabei haben wir uns persönlich nie kennengelernt. Dass er damals nicht nur mich, sondern auch seine Matur gerettet hatte, dürfte ihn wenig gekümmert haben. Er wollte Komponist werden und wurde bei seinem Studienaufenthalt in Paris, wo er Sartre kennenlernte, bereits als grosse Hoffnung gehandelt. Sie sehen: Ich habe recherchiert – und damit erst angefangen. Je mehr ich über ihn weiss, desto mehr erfahre ich über mich selbst. Ich mache mich fein für unser erstes Rendez-vous im Enzenbühl. Es ist nie zu spät, einem grossen Bruder zu begegnen.
In Grillparzers Lustspiel geht es darum, dass Leon, ein junger Koch im Dienste des Bischofs zur Zeit der Merowinger, den Neffen ebendieses Bischofs aus den Fängen der bösen Germanen befreien soll. Und er darf nicht ein einziges Mal lügen, um sein Ziel zu erreichen.
Ja, nur geht es dann gar nicht anders. Um auch nur in die Nähe der Geisel in der germanischen Wildnis zu kommen, muss Leon bluffen, sich verstellen und übernehmen, zum Beispiel als Meisterkoch auftrumpfen – und dann alles, was er vorgibt, auch noch wahrmachen. Es ist ein Tanz auf dem hohen Seil, und als er sich in die Tochter des Burgherrn verliebt, muss er auch noch den Salto mortale lernen. Sein Trick ist: Die Wahrheit so faustdick aufzutischen, dass sie die Gegenspieler nur für gelogen halten können. Das ist eine Tour de Force der Vorstellungskraft, ein Triumph der Fantasie – und im Kern: der Humanität. Wenn diese ehrlich sein will, kann sie keine grade Linie fahren, sonst müsste die Erde platt sein, und der Mensch auch. Man lacht bei einem guten Lustspiel keine Tränen, aber man lernt unter Tränen lachen. Das war ungefähr das Gegenteil von allem, was wir im Internat lernen und beherzigen sollten.
Wer war dieser Marchev, was hat er bewegt – was hat ihn bewegt?
Das recherchiere ich eben. Seine Todesanzeige war unterschrieben von einem einzigen Freund – und als ich diesen im Tiefschnee des Appenzellerlandes heimsuchte, wurde er bald auch der meine. Ihm verdanke ich Robins Lebensdaten. Er war Pressechef des Lucerne Festival und Präsident des Schweizer Aero-Clubs. Als Kandidat für die Kurdirektion in St. Moritz wurde er hochgelobt, aber nicht genommen. Es gab auch – unter Pseudonym – einen Aufenthalt in einem israelischen Kibbuz. Die richtige Stelle fand er als Bruder und Meister der Freimaurerloge Libertas et Fraternitas. Sie wurde am Ende des Ersten Weltkriegs auf dem Monte Verità über Ascona von Künstlern gegründet und auf dem Zürcher Lindenhof von Bürgern fortgesetzt – nach dem zugleich ernsten und verspielten Regelwerk, das er für sie verfasst hat. Es hat viel mit Mozarts «Zauberflöte» zu tun – für seine Loge war Robin zugleich der Hohepriester Sarastro und der Spassmacher Papageno. Er hatte auch etwas von einem Zen-Meister – und nicht umsonst Altchinesisch gelernt. 2019 ist er in Zürich gestorben, immer noch Junggeselle, nicht auf Rosen gebettet, aber ein Mann der «Freiheit und Brüderlichkeit» bis zum letzten Atemzug.
Er ist sozusagen Ihr künftiger Grabes-Bruder. Ein Kreis schliesst sich. Sind Sie also mit Ihrem Leben versöhnt?
So weise – oder so einfältig – bin ich noch nicht. Ich bin Robin und mir noch eine Brudergeschichte schuldig. Real hat es sie nie gegeben – umso mehr werde ich daran noch einmal schreiben lernen müssen. Jetzt ist es an mir, sein Leben zu retten – für Leserinnen und Leser.
Sie sind ein Hypochonder, das ist gut dokumentiert. Die späte Begegnung mit Robin P. Marchev nimmt Ihnen nun die Angst vor dem Tod?
Schauen Sie: Solange der Wolf nicht da ist, hat man leicht «Wolf» rufen. Wenn er an der Tür kratzt, ändern sich die Umgangsformen – es wird buchstäblich lebenswichtig zu hören, was er dir zu sagen hat. Dann outet er sich als ein Stück von dir selbst, und Angst ist nicht mehr die passende Antwort darauf.
Sehr altersweise formuliert! Woher kamen früher diese Angstzustände, diese Gewissheit, an etwas Schlimmem erkrankt zu sein?
Ich hatte einen frommen Vater, der eine Hölle brauchte, um sich an seinem Gott festzuhalten. Schuldgefühle mussten ihm teuer sein, und das Böse heilig – wider Willen. Und in dieser Welt gab es auch keine Gnade für die eigene Schwäche. Er starb zu früh für eine reale Auseinandersetzung zwischen uns. Dafür erbte ich gewissermassen, was meiner Mutter gefehlt hatte. Warum musste sie in eine mehrjährige Depression fliehen, vor ihrer Ehe, aber auch vor mir? Da musste es etwas Unausgesprochenes geben, das ich bis in mein erwachsenes Leben weiterschleppte und für das ich den Freispruch der Ärzte brauchte: Ihnen fehlt nichts Ernstes! Eigentlich war das Gegenteil wahr, aber vorübergehend hat es geholfen, wie ein starkes Schmerzmittel. Was mir am meisten fehlte, war die nötige Heiterkeit mit meinen Defiziten. Dafür sitze ich jetzt bei Robin nach – mit 88 nicht zu früh.
Die Ärzte waren für Sie die Priester, die es im Protestantismus nicht gibt?
Ein Reformierter müsste lernen, sich selbst Absolution zu erteilen – das heisst: sich anzunehmen, wie er ist, ohne Zensuren, dafür mit Neugier, Fantasie und Humor. Die Frage, ob er dann noch ein guter Christ ist, darf er Gott überlassen. Eine schwierige Übung – ich fürchte, sie gelang mir bisher nicht immer.
Wenn wir miteinander telefonieren, sprechen wir jeweils kurz über Ihren Krebs. Täuscht mein Eindruck oder ertragen Sie ihn ziemlich stoisch?
Die Diagnose habe ich 2001 erhalten. Damals war ich geschockt. Doch ich habe gelernt, den Krebs nicht nur ernst zu nehmen. Ich ignoriere ihn die meiste Zeit. Und er revanchiert sich, indem er mich ebenfalls ignoriert. Es scheint, wir brauchen einander immer weniger. Dass ich als Geschöpf nicht nur begrenzt bin, sondern befristet, steht auf einem andern Blatt. Als Schriftsteller lernst du: Ohne Grenze gibt es keine Form, und umgekehrt. Diese Chance wahrzunehmen, betrachte ich inzwischen auch als A und O der Lebenskunst.
Wir sitzen hier in Ihrem malerischen Garten – das Wasser plätschert, die Vögel zwitschern, ein sanfter Wind weht. Wäre nicht der knatternde Rasenmäher des Nachbarn, man müsste sagen: Es ist die perfekte Idylle. Aber natürlich herrscht keine Idylle. Die Welt ist in Aufruhr wie lange nicht mehr. Fürchten Sie sich vor einem Krieg in Europa, gar vor einem Atomschlag?
Wenn ich nicht gerade schreibe oder diskutiere, wie jetzt mit Ihnen, kann ich mich Tag und Nacht fürchten. Besonders für meine Enkelinnen: Ich wünsche ihnen ein Leben ohne tödliche Strahlen. Die Kernspaltung ist eine Technik, mit der sich der Mensch übernommen hat. Und in der Ukraine können jetzt, nach Tschernobyl, noch ein Dutzend A-Werke hochgehen. Davon ist kaum die Rede – auch darum, weil ausgerechnet die Kernkraft plötzlich wieder zur Diskussion steht, als umweltschonende Alternative zu den fossilen Energien. Prometheus, der uns das Feuer vom Himmel stahl, hat wieder die Vorhand über seinen Bruder Epimetheus, der die warnende Erinnerung verkörpert. Die Büchse der Pandora bleibt offen, so oder so: Der Mensch muss mit dem, was er anzurichten vermag, leben, sogar wenn er die Grundlage dafür selbst zerstört. Vielleicht war Homo sapiens in der Evolution eine Mutation zu viel. Aber die Hoffnung ist immer noch in der Büchse – ich glaube daran, nicht obwohl, sondern weil es absurd ist.
Das ist die grosse metaphysische Frage. Konkret ist es nun aber Wladimir Putin, der vor den Toren Europas einen Krieg gegen die Ukraine führt. Die westlichen Werte – unsere Freiheitsrechte und demokratischen Errungenschaften – sind bedroht. Haben Sie sich vorstellen können, so etwas noch zu erleben?
Ich habe gelernt, auch ohne Hypochondrie, dass immer alles möglich ist, das heisst: auch das Schlimmste. Wir haben ein paar Jahrzehnte von der vermeintlichen Friedensdividende flott und fantasielos gelebt, jedenfalls im reichen Westen, und uns eingebildet, das Ende des Kalten Kriegs sei wirklich das Ende der Geschichte – von wegen! Es war gerade diese bequeme Zuversicht, die uns angreifbar gemacht hat. Was wir Globalisierung nennen, brach ein, weil es für die Benachteiligten untragbar wurde. 9/11 war eine Explosion, die eine Lawine lostrat: Die Vormacht USA reagierte mit Kriegen, die sie nicht gewinnen konnte und die, wie sich zeigt, ihre eigene Freiheit beschädigten. Und im Osten, nah, aber auch fern, entstanden autokratische Regime.
Auf welchen Zusammenhang spielen Sie an?
Auf der einen Seite ruft einer unter dem Vorzeichen des nationalen Egoismus – «America first»! – unbeschränkte Macht aus. Auf der anderen Seite begründet einer den unbeschränkten Autoritarismus eines selbst ernannten Gottesstaats. Putin braucht kein freies Russland, sondern ein heiliges. Hier die Freiheit, dort das Imperium, beide Karikaturen des eigenen Anspruchs, und darum umso mehr gezwungen, ihn mit Gewalt durchzusetzen. Putin, der sich in den 1990er-Jahren auf den Westen zubewegt, sogar bei der Nato angedient hat, wurde sich immer sicherer: Wo keine eiserne Ordnung herrscht, bricht das Chaos aus. Sein Schlüsselerlebnis waren wohl die Erfahrungen, die er als KGB-Offizier im aufständischen Dresden der Wendezeit gemacht hat.
Putin will also die Welt durch die Etablierung der alten Ordnung retten – was macht Sie da so sicher?
Wie kann ich sicher sein? Aber seither habe ich die Schriften seines Propheten gelesen, Iwan Iljin, die er an seine Verwalter als Pflichtlektüre verteilt. Darin erscheint Russland als Grösse, der die Rettung der Menschheit vor der Dekadenz aufgetragen ist. Es ist ein autoritärer Heilsplan, der in Putins Kopf offenbar zur persönlichen Mission geworden ist, weil er auch den beleidigten Stolz Russlands wiederherzustellen verspricht.
Und warum hat der Westen dies jahrelang nicht bemerkt?
Weil wir nicht sehen konnten, was wir nicht sehen wollten. Zu gut hatten wir gelernt, auf Russland herabzuschauen. Aber es bleibt eine Atommacht und das flächengrösste Land der Erde, und seine gering geschätzte Ökonomie ist, wie sich zeigt, durchaus imstande, schwere Sanktionen in Instrumente der Erpressung zu verwandeln. Sie bringen den westlichen Energiehaushalt ausser Rand und Band und können uns mehr als einen kalten Winter bescheren.
Das sind in der Tat höchst ungemütliche Aussichten, und sie schmerzen. Was folgt aus Ihrer Sicht daraus?
Ich bin weder Geostratege noch Hellseher, nur ein Zeitgenosse, der Kriege nicht erleben möchte. Auch keine Stellvertreterkriege, in denen der Westen seine Freiheit bis zum letzten Ukrainer verteidigt und das gepeinigte Land zugleich als Testgelände für neue Waffensysteme nützt. Dabei wäre ein Waffenstillstand das Einzige, wofür sich zu kämpfen lohnt – und daran führt ohne Verhandlung mit Putin kein Weg vorbei. Von mir aus darf die List der Vernunft auch wie ein böser Witz aussehen – etwa, wenn lupenreine Demokraten wie Erdogan und der iranische Grossmufti dem Putin den Weg dazu öffnen. Was diesen Krieg beendet, darf meinetwegen auch zum Lachen sein. In der Weltgeschichte sind solche Wendungen normal – für einen Schriftsteller sind es genau die Einfälle, auf die er erst kommen muss. «Mir gefällt zu konversieren / Mit Gescheiten, mit Tyrannen», liest man bei Goethe.
Warum sollte Putin verhandeln wollen, solange er sich seines Siegs sicher ist? Aber lassen wir das. Was mich am dichterischen Blick auf den Menschen mehr interessieren würde – verzweifeln Sie manchmal am Tyrannen, der wohl in jedem von uns steckt?
«Machet euch die Erde untertan» – das ist ein tyrannisches Programm des Menschen von Anfang an. Dass wir selbst – über viele Stufen – dieser Mutter Erde entsprungen sind und wieder in sie hinein müssen, könnte uns im Umgang mit ihr bescheiden machen, dankbar für ihre Gaben. Und damit wir sie lange geniessen können: haushälterisch in ihrem Gebrauch, geschwisterlich im Umgang mit anderen Geschöpfen. Aber wir lernen schwer, da wir bisher nur als Räuber an der Natur zu überleben glaubten. Bleiben wir dabei, so zerstören wir den Boden unter den eigenen Füssen. Dann rettet uns nur noch die Auswanderung zum Mars, wenn wir dafür bei Elon Musk rechtzeitig gebucht haben.
Sie sind nicht nur ein altersweiser Dichter und alterskluger Erzähler – Sie sind auch ein altersmilder Denker. Wir brauchen also mehr Distanz, vielleicht auch mehr Mass und Mitte – und dann wird alles gut?
Achtung: Balancieren ist eine Kunst, die gelernt sein will. Wenn man mit Mass und Mitte anfängt, wird man nichts als ein Langweiler, ein Bünzli, und verblendet sich durch Selbstgefälligkeit – die esoterische inbegriffen.
Einverstanden. Aber anderseits – wenn der Mensch seine Zerrissenheit anerkennt, verschwindet sie deshalb noch lange nicht.
Natürlich nicht. Aber wir werden verständnisvoller und empathischer gegenüber anderen – und uns selbst. Wir verabsolutieren nichts mehr, wir sehen nicht mehr bloss unsere Freiheit, unseren Anspruch, unser Recht. Vielmehr erkennen wir auch die Leiden, Freuden, Freiheiten und Ansprüche der anderen, das Chaos, die Unordnung in uns und um uns. Das macht uns gelassener und demütiger zugleich. Verstehen Sie, was ich meine?
Ich verstehe. Sie werben für mehr Toleranz unter diesen widersprüchlichen Tieren, die die Menschen nun mal sind, in Friedens- und in Krisenzeiten.
Ja, aber keine Toleranz von oben herab – als würde man den anderen bloss dulden. Man muss sich an seine Stelle versetzen können, wie im therapeutischen Theater. Und das geht nur, wenn man sich selber in seiner ganzen Widersprüchlichkeit anerkennt und annimmt – anders als die Anhänger der woken Tugendlehre, die jede Ambivalenz, jede Ironie, jeden gedanklichen Grenzgang aus der Welt tilgen wollen. Mein Grabbruder Robin hat diese Tugend in einem Aufsatz über «Humor und Freimaurerei» einmal «die höchste Stufe humaner Grösse» genannt. Der Humorvolle ist demnach «stark genug, nicht recht haben zu müssen, und somit tolerant». Ist das nicht schön formuliert?
Das ist es. Also lachen Sie heute über die neuen woken Jakobiner?
Hoffentlich, denn ich kenne ihre Motive nur zu gut von mir selbst. Humorfreie Tugendterroristen, die sich unfehlbar wähnen, sind für mich unnötige Karikaturen ihrer selbst. Sie reklamieren für sich eine Reinheit, die sie nicht haben können, weil es sie nicht gibt. Und weil sie das insgeheim wissen, sind sie so intolerant. Sie ertragen nur ihresgleichen – und leben von den Feinden, die sie sich fabrizieren.
Der Wokeismus ist der neuste Kulturimport aus den West- und Ostküsten-Universitäten der Vereinigten Staaten. Woran nehmen Sie genau Anstoss?
Am Schwarz-Weiss-Denken. Menschen werden wieder vor aller Augen nach Rasse, Geschlecht und sexueller Orientierung sortiert, wie in den finstersten Zeiten des vergangenen Jahrhunderts. Nur Schwarze dürfen über Schwarze reden, nur Frauen über Frauen, nur Schwule über Schwule – und die Normalos haben sowieso den Mund zu halten. Das ist auch Rassismus, eine neue Form der Apartheid, die sich auch noch im Namen des Antirassismus breitmacht.
Die intellektuelle Dürftigkeit des Kultus liegt eigentlich auf der Hand, und niemand wäre gezwungen mitzumachen, am wenigsten die Universitäten. Warum aber gibt es in den Schulen und Medien kaum Widerstand gegen diese seltsame Art der geistigen Selbstpeinigung und -verknechtung?
Die Leute haben Angst – vor einem Shitstorm. Sie wollen nicht an den Pranger der «sozial» genannten Medien gestellt werden. Eine Probe davon habe ich auch schon selbst abbekommen – da der Erkenntnisgewinn und die Dialogchance gleich null waren, muss ich diese Nicht-Erfahrung nicht wiederholen. Dafür ist mir meine Zeit zu schade, selbst wenn ich sie noch im Überfluss hätte.
Das Netz vergisst nicht.
Es vergisst nichts und alles – denn es kennt keine Erinnerung; es ist zugleich Durchlauferhitzer und Gedächtnislücke. In der Datenmenge, die es sammelt, kommt die Menschengeschichte nicht vor: Die kann ja auch nie das Neueste sein, das wir gerade auf dem Schirm haben – was nach Gestern riecht, verschwindet, es sei denn für nostalgische Effekte zu brauchen. Das Gehirn, auch das des IT-Experten, funktioniert fundamental anders als sein Gerät. Von diesem sind wieder nur neue Daten zu erwarten, kein Zusammenhang, keine Erfahrung und schon gar nicht, was man Bildung nennt – sie hat mit «Information» nichts zu tun. Wo kommt der User selbst her, wo geht er hin, what makes him tick? Darüber sagen ihm seine Programme nichts, sie fördern nicht ihn, nur bestenfalls seine Karriere.
Ich möchte Ihnen gerne ein paar modische Begriffe vorlegen und schauen, was passiert, wenn Sie auf Ihren so wachen wie erfahrenen Geist treffen. Was halten Sie von Political Correctness?
Davor gruselt mich noch mehr als vor grenzenloser Selbstgefälligkeit – mit der sie allerhand gemeinsam hat. Dahinter steht binäres Denken: Entweder-oder, Eins oder Null, Freund oder Feind, Wir oder Sie. So etwas hat einmal «pharisäisch» geheissen – jetzt entscheidet es darüber, ob ich dazugehöre oder nicht, ernst genommen werde oder nicht. Wer nicht korrekt ist, mit dem brauchen wir gar nicht erst zu sprechen. Eine junge Biologin, die die Zweigeschlechtigkeit der höheren Säugetiere nicht etwa verteidigte, sondern einfach festhielt, durfte ihren Vortrag an einer Berliner Universität nicht halten. Als die Uni daraufhin einen Shitstorm abbekam, durfte die Biologin ihn plötzlich trotzdem halten, vor vollem Haus – das sind die Kapriolen der Correctness. Nicht nur Gruppen, auch Individuen fällt nichts so schwer wie die Anerkennung von Widersprüchen, obwohl die gute Politik nicht nur mit ihnen, sondern von ihnen leben müsste. Das gilt auch für die persönliche Bildung, denn Widersprüche gefährden keine Identität, sie machen sie aus. Die grosse Kunst – etwa im altgriechischen Theater – hat mit dem Verhandeln unerträglicher Widersprüche angefangen, und dem Erlebnis ihrer Berechtigung. Heute sucht und verfolgt die Zensur der Correctness nicht nur in Meinungen, die nicht sein dürfen, sondern auch in der Sprache, in inkorrekten Wörtern, sogar in alten Brunnenfiguren oder Hausinschriften, aber auch in korrekten Statements, zu denen derjenige, der sie äussert, kein Recht haben soll, etwa, wenn er, wie ich, ein alter weisser Mann ist. Zum Glück ist mir meine Anfechtbarkeit auch ohne Nachhilfe der Korrekten bewusst.
Das war wiederum cool und altersweise! Die Woken finden auch hierzulande immer mehr Anhänger.
Ja, wie Evangelikale im katholischen Brasilien.
Was halten Sie selbst von Gender Studies, die in ihrer Extremform behaupten, Geschlecht sei keine biologische, sondern einzig eine soziale Kategorie, also nichts Naturgegebenes, sondern etwas, das jeder nach eigenem Gusto wählt?
Grossartig! Zur Lösung dieser Frage schlage ich, statt des Streits um korrekte Toiletten, einen Komödienwettbewerb vor. Prämiert wird, wer diesen Stoff am witzigsten darstellt. Die Darsteller: jemand, der sein will, was er nicht ist; jemand, der nicht sein will, was er ist; und jemand, der nichts sein will und doch ständig etwas sein muss. Und als Hauptrolle: einer, der gar nichts weiss und mit Fragen nicht aufhören will, er kann Sokrates heissen, oder auch Xanthippe. Das Ende: Bitte keinen Schierlingsbecher, sondern allgemeine Heiterkeit. Päpste und Ketzer lachen sich tot oder liegen sich in den Armen.
Ich präsentiere den nächsten Modebegriff: Cancel Culture.
Habe ich dazu nicht schon das Nötigste gesagt? Aber um mal krass inkorrekt zu sein, hier zitiere ich ein Wort von Karl Kraus aus dem Jahr 1933: «Zu Hitler fällt mir nichts ein.» Zu seinem Glück hat er den Anschluss Österreichs nicht mehr erlebt.
Herr Muschg, da fällt mir ein – schreiben Sie eine Komödie über unsere gegenwärtige Verwirrung als Ihr Vermächtnis!
Dafür müsste ich Aristophanes heissen – oder Dürrenmatt. Ich schreibe einstweilen getrost an meinem Robin weiter und erinnere mich daran, dass er auf Englisch ein Rotkehlchen wäre, und das Wort «englisch» im älteren Deutsch mit «Engeln» verbunden war. Beides würde ganz gut zu unserm gemeinsamen Aufenthalt passen. Seit im Friedhof so viele Gräber aufgehoben und überwachsen sind, beginnt er über weite Strecken einer englischen Heide zu gleichen. Viele kleine und grosse Marmorengel sind dabei heimatlos geworden. Ob sie auf unsere Gräber passen, werde ich mit Robin kaum zu diskutieren brauchen. Als Dünger für den Nachwuchs der Natur sind wir in unserer Komödie besser besetzt – und haben dabei auch kein Gesicht mehr zu verlieren. Korrekt?
Ich danke Ihnen für dieses berührende und vergnügliche Gespräch.
Interviewer René Scheu ist Philosoph, Blick-Kolumnist und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern.