Frauenrechtlerin Ayaan Hirsi Ali gegen Gender-Aktivismus
«Der Feminismus, der sich für alle Frauen einsetzt, ist tot»

Die international bekannte Politologin und Frauenrechtlerin Ayaan Hirsi Ali (52) kritisiert Gender-Aktivisten und Feministinnen im Westen. Sie schadeten der Sache. Mehr noch: Sie förderten die Unterdrückung von Frauen.
Publiziert: 25.04.2022 um 08:59 Uhr
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Aktualisiert: 25.04.2022 um 13:20 Uhr
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Frauenrechtlerin Ayaan Hirsi Ali kritisiert den Gender-Aktivismus.
Foto: Martin Lengemann/laif
Interview: René Scheu

Ayaan Hirsi Ali (52) ist die Ruhe selbst. Sie spricht leise und überlegt, zwischendurch lacht sie herzhaft. Es ist nicht einfach, ein Interview mit ihr zu bekommen – die gebürtige Somalierin ist eine gefragte Intellektuelle. Als wir unser Gespräch über Zoom führen, sitzt sie auf einem Liegestuhl irgendwo auf dem Land an der amerikanischen Westküste. Sie trägt eine grosse schwarze Sonnenbrille. Wie es mir, meinem Job und meiner Familie gehe, will sie wissen. Danach legen wir los.

Blick: Ich beginne ganz elementar. Würden Sie von sich behaupten, Sie seien eine Frau?
Ayaan Hirsi Ali: Hahaha! Fragen Sie mich das im Ernst?

Klar. Ernst.
Sie wollen mich aufs Glatteis führen?

Höchstens ein wenig.
Okay, ich spiele mit: Ja, ich bin eine Frau. Absolut. Ohne Zweifel. Und ich sage es nicht nur, ich bin tatsächlich eine, ich kann das belegen. Denn ich verfüge über ein Chromosomen-Paar XX. Aber das war nicht die Antwort, die Sie haben wollten, oder?

Durchaus. Als Nächstes möchte ich von Ihnen wissen, was eine Frau ist. Bitte definieren!
Eine Frau ist ein weibliches erwachsenes menschliches Wesen. Zufrieden?

Halb. Was heisst das genau?
Nun ja, erst mal bin ich ein Individuum, das sich nicht über Geschlechtsmerkmale definiert. Aber wenn es unbedingt sein muss, dann so: Im Gegensatz zu Ihnen, einem männlichen Exemplar der menschlichen Gattung, bin ich in der Lage, Kinder auszutragen. Insofern kann, biologisch gesehen, kein Zweifel daran bestehen, dass ich eine Frau bin. Das ist keine Frage des persönlichen Fühlens oder der eigenen oder fremden Wahrnehmung. Nein. Das ist eine biologische Tatsache.

Fühlen Sie sich denn auch als Frau?
Oha! Natürlich kann, ja muss ich mich zu mir als geschlechtlichem Wesen verhalten. Das tun wir alle. Ich kann es mögen oder nicht, eine Frau zu sein. Aber der Punkt ist: Unabhängig davon bin ich eine. Und in meinem Fall bin ich sogar gerne eine – ich habe mich vor vielen Jahren aus den Fängen des Patriarchats in Somalia befreit. Ich liebe es, mich für die Freiheit der Frauen einzusetzen, ich habe mich politisch betätigt, ich habe Bücher geschrieben, ich bin verheiratet und habe zwei Kinder.

Ketanji Brown Jackson, mittlerweile designierte Richterin am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, ist ebenfalls verheiratet und hat zwei Kinder. In einer Anhörung vor dem Senat antwortete sie jüngst auf die Frage, ob sie eine Definition des Wortes Frau liefern könne: «Nein, das kann ich nicht. Nicht in diesem Kontext.»
Dieses Statement ist heuchlerisch – zumal Ketanji Brown Jackson von Joe Biden ja explizit deshalb nominiert wurde, weil sie eine schwarze Frau ist. Der US-Präsident wollte mit seiner Wahl – das waren seine Worte – Geschichte schreiben. Also muss mindestens er wissen, was eine Frau ist, auch wenn er selbst keine ist. Dies im Gegensatz zur nominierten und mittlerweile designierten Richterin, die offensichtlich ein weibliches Exemplar der menschliches Spezies ist, aber so tut, als wüsste sie nicht, was das sei.

Frau Jackson war zweifellos klar, dass diese Antwort bei den meisten Menschen Kopfschütteln auslösen würde. Die Frage ist: Warum hat sie die Sätze trotzdem zu Protokoll gegeben?
Sie wollte damit Un- bzw. Überparteilichkeit signalisieren. Doch eine simple Frage verlangt nach einer ehrlichen, simplen Antwort. Zum Beispiel so, einer künftigen Richterin würdig, in meiner Diktion: Eine Frau ist eine weibliche erwachsene Person, aber das Geschlecht soll für mich als Richterin keine Rolle spielen. Brown Jackson hingegen wich aus. Und die Pointe ihrer Nicht-Antwort besteht gerade darin, dass diese politisch nicht neutral ist, sondern letztlich eine klare Parteinahme bedeutet – zugunsten jener Gender-Theoretikerinnen, die leugnen, dass es überhaupt so etwas wie ein natürliches Geschlecht, also eine weibliche Natur gebe. Und das halte ich in diesem Zusammenhang für besonders problematisch.

Inwiefern?
Brown Jackson hat künftig das höchste Richteramt inne. Sie wird in ihrer neuen Funktion über menschliche Streitigkeiten letztgültig entscheiden. Gerade sie müsste die faktische Wirklichkeit und rechtsstaatliche Prinzipien als Richtschnur ihres Handelns begreifen, nicht ideologische Konstruktionen und Wortklaubereien. Ihre Nicht-Antwort bedeutet insofern einen Kniefall vor einer weltfremden Ideologie. Diese Politisierung des höchsten Gerichts der USA wird dessen Glaubwürdigkeit auf Dauer unterminieren. Aber ich muss bei all dieser Kritik im Umgang mit der Frage nach der geschlechtlichen Identität etwas Wichtiges sagen.

Jederzeit. Was denn?
Es gab und gibt Menschen, die tatsächlich an Geschlechtsdysphorie leiden.

Also daran, sich nicht mit ihrem Geschlecht zu identifizieren.
Das ist selten, aber nicht trivial. Diese Menschen gehen durch die Hölle, sie haben mein volles Mitgefühl und meinen ganzen Respekt. Wir sollten sie ernst nehmen – aber gerade deshalb sollten wir ihre Perspektive nicht zur Norm aller Menschen erheben, so hart das klingen mag.

Provokation für viele

Ayaan Hirsi Ali ist 1969 in Mogadischu (Somalia) geboren. Sie flüchtete vor einer Zwangsehe nach Europa, 1992 reiste sie über Deutschland in die Niederlande ein, wo ihr 1997 die niederländische Staatsbürgerschaft verliehen wurde. Sie studierte Politikwissenschaften und wurde als Vertreterin der Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) ins niederländische Parlament gewählt. Seit 2006 lebt die Frauenrechtlerin und Islamkritikerin in den USA, seit 2013 ist sie amerikanische Staatsbürgerin.

Mit ihren pointierten Äusserungen ist sie zum Feindbild konservativer Muslime geworden, aber auch vieler linker Frauen. Gegenwärtig arbeitet sie als Research Fellow an der Hoover Institution in Stanford. Zuletzt ist von ihr das Buch «Beute: Warum muslimische Einwanderung westliche Frauenrechte bedroht» (Bertelsmann 2021) erschienen. Für ihr Schaffen wurde Ayaan Hirsi Ali mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Ayaan Hirsi Ali ist 1969 in Mogadischu (Somalia) geboren. Sie flüchtete vor einer Zwangsehe nach Europa, 1992 reiste sie über Deutschland in die Niederlande ein, wo ihr 1997 die niederländische Staatsbürgerschaft verliehen wurde. Sie studierte Politikwissenschaften und wurde als Vertreterin der Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) ins niederländische Parlament gewählt. Seit 2006 lebt die Frauenrechtlerin und Islamkritikerin in den USA, seit 2013 ist sie amerikanische Staatsbürgerin.

Mit ihren pointierten Äusserungen ist sie zum Feindbild konservativer Muslime geworden, aber auch vieler linker Frauen. Gegenwärtig arbeitet sie als Research Fellow an der Hoover Institution in Stanford. Zuletzt ist von ihr das Buch «Beute: Warum muslimische Einwanderung westliche Frauenrechte bedroht» (Bertelsmann 2021) erschienen. Für ihr Schaffen wurde Ayaan Hirsi Ali mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Sie haben die Gender-Theorie angesprochen. Gender meint das soziale Geschlecht, Sex das biologische. Halten Sie diese Unterscheidung denn nicht für sinnvoll?
Natürlich gibt es Stereotype über Weiblichkeit, wie auch über Männlichkeit, das ist doch völlig klar und auch trivial. Aber die weibliche Natur ist keine ideologische Konstruktion, ebenso wenig wie die männliche. Die Natur determiniert uns nicht, aber sie prägt uns. Stereotype über das Geschlecht und die geschlechtliche Natur selbst sind zwei verschiedene Dinge. Wenn wir uns darüber nicht mehr verständigen können, wenn wir die Natur nicht mehr als objektive, universale Wirklichkeit anerkennen, wenn Wissenschaft nicht mehr die Erforschung des Bestehenden meint, sondern eine ideologische pädagogische Agenda verfolgt, wenn wir unseren eigenen bewährten Institutionen misstrauen, nun ja, dann ist unsere Zivilisation von innen bedroht. Und dann sollten wir dringend mal innehalten.

Sie sehen in der Gender-Ideologie den Anfang vom Untergang des Abendlandes?
Nein. Aber ich erkenne darin einen gesellschaftlichen Rückschritt. Denn wenn jede Gruppe ihre eigene Wahrheit behauptet, dann reden wir irgendwann nicht mehr miteinander, sondern schlagen uns die Köpfe ein. Dann haben wir nichts mehr, worauf wir bauen können. Dann gibt es keine Möglichkeit mehr für einen Konsens. Dann ist, anders gesagt, alles politisiert – genauer: Dann ist alles dem politischen Kampf untergeordnet. Dann gilt tatsächlich der Kampf aller gegen alle, und der Stärkere – das ist in der Mediengesellschaft oftmals der Schrillere – gewinnt. Ist es das, was wir wollen?

Das Private ist politisch – das war einst die Losung der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren.
Gewiss. Aber gemeint war damit: Die Frauen sollten über ihren eigenen Körper bestimmen. Heute jedoch wird merkwürdigerweise gerade die Tatsache dieses Körpers geleugnet – der Feminismus hat sich im Westen in sein Gegenteil verkehrt. Ging es einst darum, den weiblichen Körper zu stärken, wird er in den postmodernen, angeblich fortschrittlichen Diskursen zum Verschwinden gebracht. Das Frausein wird auf eine blosse Selbstzuschreibung reduziert – und damit de facto getilgt. Was für ein Hohn!

Wenn ich Sie so reden höre, ist die Kämpferin in Ihnen erwacht. Sehen Sie sich als Feministin?
Das bin ich. Und deshalb beobachte ich mit Bedauern, was gerade um uns herum geschieht, oftmals im Namen eines angeblichen progressiven Feminismus. Denn der Feminismus als echte Emanzipationsbewegung, die sich für alle Frauen gleichermassen einsetzt, ist tot. Stattdessen gibt es verschiedene Untergruppen von Aktivistinnen, die ihre eigene Agenda verfolgen – die Gender-Aktivisten, die Aktivisten der Postcolonial Studies, die Aktivisten der Critical Race Theory.

Im Ursprung vertrat der Feminismus die Haltung: Frauen und Männer sind zwar anders, aber sie sind gleichwertig und sollten deshalb auch die gleichen Rechte und Chancen haben. Die Frauen mussten hierfür noch vor einigen Jahrzehnten kämpfen, was für später Geborene kaum zu glauben ist …
… Frauen und Männer weichen, statistisch gesehen, in Bedürfnissen und Interessen voneinander ab, hierüber gibt es eine Menge alltäglicher und wissenschaftlicher Literatur. Der frühe Feminismus hat dies als Bereicherung empfunden, und um ehrlich zu sein: Ich tue dies noch immer. Aber ja, es stimmt: Frauen hatten bis vor einigen Jahrzehnten auch im Westen weniger Chancen als Männer. Unglaublich, ärgerlich, stossend. Das dürfen wir nicht vergessen. Allerdings ist dies heute nicht mehr so, der gesellschaftliche Fortschritt verlief in Windeseile. Heute kann ich als gut ausgebildete Frau tun, was immer ich will, und dies macht mich stolz und glücklich.

Hat der Feminismus im Westen also alles erreicht, was er wollte: Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung?
Im Grundsatz ja. Der Feminismus war im Westen zum Glück sehr erfolgreich – er hat sich zu Tode gesiegt, jedenfalls fast. Die grosse Mehrheit der Frauen ist frei in der Wahl ihrer Biografien, zuweilen sind sie besser ausgebildet und in der Jobsuche mittlerweile sogar bevorteilt. In der Arbeiterklasse haben Mädchen und Frauen hingegen immer noch weniger Berufs- und Lebenschancen als Männer. Dasselbe gilt für Frauen in sehr religiösen Gemeinschaften, auch da werden Frauen in den USA oder Europa benachteiligt. In anderen Teilen der Welt herrscht demgegenüber tatsächlich noch das Patriarchat, nicht symbolisch, sondern real. Wir sollten bedenken, dass der Westen nur einen kleinen Teil der Welt ausmacht. Die Feministinnen – und Feministen – sind global gesehen eindeutig in der Minderheit. Wir sollten deshalb unseren Feminismus stärken und nicht durch abstruse postmoderne Theorien in Misskredit bringen.

Wäre es denn an der Zeit für Feministinnen im Westen, aufzustehen und sich gegen die neuen antifeministischen Bewegungen zu wehren?
Es gibt antifeministische Impulse von Immigranten, die patriarchalisch sozialisiert wurden – und davon nicht abrücken. Darüber reden wir im Westen viel zu wenig. Und es gibt antifeministische Impulse von Gender-Theoretikerinnen, die die Frauen aus den Diskursen canceln wollen, weil Frausein angeblich ein blosses Stereotyp sei. Die Ironie des Schicksals will es sogar, dass diese beiden Gruppen zuweilen zusammenspannen: Gender-Theoretiker sehen sich als Verteidiger aller möglichen benachteiligten Minderheiten, und dazu zählen für gewöhnlich auch Immigranten, egal, welches Frauenbild diese haben. Es ist höchste Zeit, aufzuwachen – und sich gegen beide Impulse zur Wehr zu setzen.

Wo sehen Sie Anzeichen für eine Bewegung gegen die antifeministische Agenda mancher Gender-Aktivistinnen?
Meine persönliche Heldin ist J. K. Rowling, die Autorin von «Harry Potter». Sie weiss, was eine Frau ist, und sie sagt es auch. Dabei kümmert sie sich nicht um die Transgender-Aktivistinnen, die in den sozialen Medien mobilmachen, was wiederum von den etablierten Medien genüsslich aufgenommen wird. Und es gibt mittlerweile immer mehr J. K. Rowlings, die aufstehen und sagen: Stopp. Jetzt reichts. Wir wollen nicht, dass der Begriff der Frau aus Enzyklopädien gestrichen wird. Wir wollen nicht, dass geborene Männer – auch nach einer Hormonbehandlung – im Frauensport mittun. Und wir wollen auch nicht, dass geborene Männer auf Frauentoiletten oder in Frauengefängnissen verkehren. Vielleicht wird daraus eine neue Bewegung.

Sie exponieren sich gerade ziemlich stark, ich sehe schon den nächsten Shitstorm aufziehen. Denn die Gender-Theorie ist längst im akademischen Mainstream der Geisteswissenschaften angekommen.
Einspruch. Das ist nicht der Mainstream – es ist die Position einer kleinen radikalen Minderheit, die laut schreit und gut organisiert ist. Und alle anderen halten still, weil sie eingeschüchtert sind. Also entsteht der Eindruck, dies sei der Mainstream. Und Sie haben dieses Framing in Ihrer Frage übernommen, Sie sind den angeblich Progressiven in die Falle getappt!

Touché. Verstehe ich Sie richtig: Sie sagen, dass die Progressiven unserer Tage oftmals die rückschrittlichen Kräfte sind?
Was ich sage, ist Folgendes: Gesellschaftlicher Fortschritt ist grossartig. Gäbe es ihn nicht, könnten wir dieses Gespräch nicht in dieser Offenheit führen. Zugleich nehmen jedoch Leute das Prädikat Fortschrittlichkeit für sich in Anspruch, die dazu kaum berufen sind. Als progressiv gilt heute, wer die Atomkraft ablehnt – wollen wir denn zurück in die Selbstversorgungswirtschaft? Dies wäre mit unglaublichen Wohlstandseinbussen verbunden, die wir uns nicht einmal auszumalen vermögen. Dasselbe gilt für den sozialen Fortschritt – ist es fortschrittlich zu sagen, es gebe kein biologisches Geschlecht? Nein, dies führt zu einer Fortführung der Unterdrückung von Frauen. Ist es progressiv zu sagen, alle westlichen Institutionen seien Ausdruck eines tief verwurzelten weissen Patriarchats? Nein, denn so zerstören wir die einzigen liberal-demokratischen Institutionen, die wir bis heute auf diesem Planeten geschaffen haben. Das Steinzeit-Leben ist nicht wie jenes der Flintstones – naturverbunden, aber mit einer Menge Spass. Es ist gerade umgekehrt – brutal und patriarchisch.

Sie selber sind Autorin, Referentin und Dozentin – welches Verhältnis haben Sie zu den Universitäten?
Ein ambivalentes. Noch immer werden grossartige Erkenntnisse vermittelt und fruchtbare Forschung betrieben – in den Naturwissenschaften. In den Geisteswissenschaften hingegen, in denen ich mich besonders gut auskenne, werden junge Menschen indoktriniert. Sie sollen nicht auf den neusten Stand des Wissens und der Methodik gebracht werden, und sie sollen auch nicht befähigt werden, selber kritisch zu denken. Nein, sie sollen dazu gebracht werden, unsere Institutionen zu kritisieren, die Wirklichkeit infrage zu stellen und von Wahrheiten im Plural zu sprechen. Ich halte dies – sorry für den alarmistischen Ton – für eine höchst problematische, ja geradezu zivilisationsfeindliche Entwicklung.

Postmoderne Denker werden Ihnen sagen: Sie halten mit Ihren Statements die heteronormativ-patriarchalische Ordnung in der westlichen Gesellschaft aufrecht.
Klar. Das sagen sie. Denn eigentlich müsste ich – als Frau, als Schwarze – ein Opfer sein und mich über die herrschende Ordnung beklagen. Aber das tue ich nicht, weil es keinen Grund hierfür gibt. Stattdessen beklage ich mich über jene, die unsere freiheitliche Ordnung mit ihren bewährten Institutionen abschaffen wollen. Sie sind die neuen Kulturkämpfer, und wir sollten sie nicht gewähren lassen.

Gehen wir einmal davon aus, dass Sie recht haben – warum verfangen diese Theorien, zumal ja angeblich die meisten Leute nicht daran glauben?
Ganz einfach – weil es bequemer ist, den Kopf einzuziehen. Niemand will unnötig Ärger, niemand erleidet gerne den sozialen Tod. Und den erlebt man heute in den sozialen Medien ziemlich schnell. Dadurch erlangen die Aktivisten, die eine Kulturrevolution angezettelt haben, immer mehr Macht. Und genau das ist es, was sie anstreben: gesellschaftliche und politische Macht.

Gilt für diese Kulturrevolution, wie schon für manche zuvor, was der Girondist Pierre Vergniaud am 31. Oktober 1793, kurz vor seiner Hinrichtung, sagte: Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder?
So geht es mit den meisten Revolutionen, auch jenen der kulturellen Art. Zuerst sind alle vereint gegen einen gemeinsamen Gegner, in diesem Fall: das Zerrbild des weissen, heterosexuellen Manns. Aber schon bald beginnen die internen Streitigkeiten. Was ist nun höher zu gewichten, um den Opferstatus zu bestimmen – das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, die Hautfarbe oder die Ethnie? Nach den Männern sind die Frauen dran, die gecancelt werden sollen. Andere Gruppen werden folgen. Diese extremen Aktivisten wollen zurück in die Stammesgesellschaft. Aber das wird ihnen nicht gelingen.

Warum nicht?
Weil die ganze Theorie eine Ausgeburt der Wohlstandsgesellschaft ist, frei nach dem Motto: Je wohlhabender, desto frivoler!

Wird also der Kulturkrieg angesichts des echten Kriegs, den Russland gegen die Ukraine führt, verblassen?
Putin attackiert den Westen, weil er sich vor dessen freiheitlicher Ordnung fürchtet. Die Islamisten, von denen gerade kaum jemand spricht, führen ebenfalls einen Krieg gegen den Westen. Und Xi Jinping ist ebenfalls alles andere als ein Engel – der Westen ist als Vor- und Gegenbild ein Hindernis auf seinem Weg zu einem totalitären kommunistischen bzw. staatskapitalistischen China. Der äussere Druck auf die liberalen Demokratien nimmt ständig zu. Und wir wollen diese freiheitliche Ordnung mit ihren bewährten Institutionen von innen unterminieren? Come on! Freiheit ist nicht Frivolität …

… sondern?
Freiheit ist das Versprechen, dass jeder nach seiner Façon selig werden kann. Deshalb flüchten Menschen aus aller Welt in den Westen. Diese Ordnung gilt es zu verteidigen – mit der nötigen Gelassenheit, aber auch mit der notwendigen Entschlossenheit.

Interviewer René Scheu ist Blick-Kolumnist, Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.

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