Wir hatten uns ausgerechnet an jenem Tag zu einem Gespräch mit anschliessendem Essen im Sushi-Restaurant verabredet, als Russland in die Ukraine einmarschierte. Also wurde aus der Reise nach Düsseldorf (D) nichts, wo der Bestseller-Philosoph Richard David Precht (57) wohnt. Stattdessen führten wir das Interview ein paar Tage später via Videocall. Precht war trotz düsterer Weltlage in aufgeräumter Stimmung.
Blick: Verbringen Sie diese Tage ununterbrochen vor dem Bildschirm?
Richard David Precht: Nein. Auszeiten sind wichtig – sonst wird der Blick unscharf. Ich verfolge aber natürlich die aktuelle Weltenlage, vor allem mit Blick auf den russischen Krieg in der Ukraine. Und es wird Sie nicht erstaunen zu hören, dass ich sehr beunruhigt bin, so wie viele Menschen in Europa.
Wie schauen Sie auf den Krieg, eher empathisch oder ganz kühl?
Maximal mitfühlend und maximal kühl, beides nebeneinander, unversöhnt. Es geht um das Einstehen für Menschlichkeit – und um das Einhegen des Kriegs. Diesen Widerspruch müssen wir wohl aushalten. Mehr will ich dazu nicht sagen. Denn was immer wir heute besprechen, morgen – oder in einer Stunde – ist es womöglich schon veraltet und klingt hohl.
Ich präsentiere ein Begriffstrio. Es stammt aus Ihrem neuen Buch «Freiheit für alle»: Komfort, Sicherheit und Freiheit. Was ist Ihnen am wichtigsten?
Solche Rankings zu veranstalten, wie das Platon zu tun pflegte, liegt mir eigentlich fern. Ich bin da eher auf der Seite von Aristoteles, der gesagt hätte, dass die drei Begriffe durch die Klugheit ausbalanciert werden müssen.
Dann anders. Wie definieren Sie Freiheit unter gesellschaftlichen Bedingungen?
Freiheit bedeutet die Möglichkeit, ein erfülltes Leben zu leben, ohne dabei in unzulässiger Art und Weise eingeschränkt zu werden. Und was «unzulässig» heisst, haben die beiden Denker Wilhelm von Humboldt und später John Stuart Mill klar gesagt: Da wo die Freiheit der anderen beginnt, hört meine Freiheit auf.
Diese Definition ist so beliebt wie vage. Was heisst dies im Einzelfall?
Es gibt nur den Einzelfall. Was es bedeutet, muss man eben von Fall zu Fall entscheiden. Deshalb gibt es ja auch die ideale Gesellschaft nicht, ebenso wenig wie den Einzelnen, der nur für sich lebt. Der Mensch ist ein Hordenwesen, das sich in der Gruppe bewähren muss, sei dies nun die Familie, die Bürogemeinschaft oder gar der Staat. Das macht es so schwierig – und so interessant.
Richard David Precht (57) zählt zu den produktivsten und meistgelesenen Philosophen der Gegenwart. Er ist Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg und an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin und moderiert die nach ihm benannte Sendung im ZDF. Zuletzt hat Precht die ersten drei Bände seiner Philosophiegeschichte («Eine Geschichte der Philosophie») und den Essay «Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens» veröffentlicht. Dieser Tage kommt sein neues Opus «Freiheit für alle: Das Ende der Arbeit wie wir sie kannten» heraus. Sein Werk erscheint im Goldmann Verlag.
Richard David Precht (57) zählt zu den produktivsten und meistgelesenen Philosophen der Gegenwart. Er ist Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg und an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin und moderiert die nach ihm benannte Sendung im ZDF. Zuletzt hat Precht die ersten drei Bände seiner Philosophiegeschichte («Eine Geschichte der Philosophie») und den Essay «Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens» veröffentlicht. Dieser Tage kommt sein neues Opus «Freiheit für alle: Das Ende der Arbeit wie wir sie kannten» heraus. Sein Werk erscheint im Goldmann Verlag.
Was zeichnet eine freie Gesellschaft aus?
Da gibts eine Menge bekannter Kriterien: unabhängige Presse, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Privatsphäre, politische Partizipation. Und die Kriterien gelten für alle. Von Freiheit kann man vernünftigerweise nur da reden, wo es nicht die Freiheit einiger Privilegierter, sondern die Freiheit aller ist.
An erster Stelle kommt also die Meinungsfreiheit. Ich gehe mit Ihnen einig.
Nur, was nützt mir die Meinungsfreiheit in einer Gesellschaft, die mir nicht die Chance gibt, anständig zu leben?
Klar. Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral. Aber gleich danach kommt die Meinungsfreiheit. Denn wenn sie gewährleistet ist, kann ich durch Ideen, Positionen und Meinungen die Gesellschaft ändern. Und das ist ja, wiederum, der starke Grundimpuls von John Stuart Mill.
Das ist idealistisch gedacht, aber dennoch wahr. Mill hat dies im Jahr 1859 in seinem Buch «Über die Freiheit» geschrieben, als es noch viel weniger liberale Demokratien gab als heute. Das war mutig.
In seinem Essay schreibt Mill: «Wenn alle Menschen ausser einem derselben Meinung wären und nur dieser einzige eine entgegengesetzte hätte, dann wäre die ganze Menschheit nicht mehr berechtigt, diesen einen mundtot zu machen, als er, die Menschheit zum Schweigen zu bringen, wenn er die Macht hätte.» Unterschreiben Sie diesen Satz?
Das ist eine schöne Formulierung. Aber das ist zugleich ein Satz, den heute sehr viele Querdenker für sich an Anspruch nehmen.
Dennoch halte ich ihn für richtig. Sie nicht?
Man muss sich aber stets fragen, ob dieser Satz, der edel gemeint ist, nicht brutal missbraucht werden kann. Er muss einhergehen mit gesellschaftlicher Wachsamkeit.
Der Missbrauch der Freiheit gehört auch zur Freiheit – sonst ist es keine.
Einverstanden.
Mill geht noch weiter: Ihm zufolge sollte man Meinungen nicht unter Strafe stellen, auch die dümmsten und verwerflichsten nicht. Denn an ihnen kann man die Wahrheit erproben. Teilen Sie Mills Optimismus im 21. Jahrhundert?
Ich teile ihn nicht uneingeschränkt. Ich würde differenzieren. Man kann sich zwar auf einen Marktplatz stellen und stalinistische Propaganda verbreiten, das wäre in Deutschland nicht strafbar. Man kann sich aber nicht hinstellen und vor Publikum den Holocaust leugnen, denn das ist in Deutschland strafbar. Und dafür gibt es gute Gründe.
Die gibt es zweifelsohne. Und der geschichtliche Kontext spielt hier eine entscheidende Rolle. Die Überlegung ist: Wer den Holocaust heute in Mitteleuropa leugnet, verbreitet nicht einfach eine dumme Meinung, sondern schürt Antisemitismus. Wären für Mill, den Freiheitsfundamentalisten, solche Einschränkungen denkbar gewesen?
Das ist natürlich hypothetisch, aber ich würde meinen: ja. Denn ihm ging es darum, dass am Ende die Wahrheit obsiegt. Und dass der Holocaust stattgefunden hat, ist ja eine historische Tatsache.
Wie stehen Sie sonst zur Kriminalisierung von Meinungen, und seien sie noch so dumm oder verwerflich?
Ich halte sie für problematisch. In angespannten Situationen wie der Corona-Pandemie oder des Krieges der Russen gegen die Ukraine neigen Gesellschaften zu Überreaktionen. Konkret: Wenn jetzt jemand irgendein noch so abwägendes Verständnis für die russische Sichtweise zeigt, eine neutrale Pufferzone zu brauchen, dann wird er medial niedergemacht, so als legitimiere er damit etwa diesen unrechtmässigen schrecklichen Krieg. Denn auch wenn ich diese Meinung politisch nicht teile, so ist die gesellschaftliche Abstrafung gleichwohl sehr heikel. Das Gegenbeispiel führt die Problematik vor Augen: Putin hat ja umgekehrt Meinungen, die die russische Propaganda infrage stellen, de facto kriminalisiert. Dies nicht zu tun, sondern abweichende Sichtweisen zum Mainstream zuzulassen, ohne sie zu skandalisieren, ist das, was liberale Demokratien auszeichnet.
Woher kommen diese ständigen Aufwallungen und Shitstorms?
Ganz einfach: Wir leben heute im Westen nicht mehr in Gesellschaften, die in rechts und links gespalten sind, sondern in grossen Konsensgesellschaften. Früher gab es in den sozialdemokratischen Parteien auch Platz für hartgesottene Linke und in den liberal-konservativen Parteien Platz für nationalkonservative Rechte. Heute gibt es eine Mehr-Parteien-Partei in der Mitte, die aus Grünen, Sozialdemokraten und Liberal-Konservativen besteht, die in kleinen Nuancen voneinander abweichen. Und es gibt einen äusseren linken und rechten Rand, deren Anhänger zu Randfiguren der Gesellschaft werden und als abständig betrachtet werden.
Die grosse weite Mitte – das ist im Grunde genommen der Mainstream in Politik und Medien. Ist das Zustandekommen des Mainstreams aus Ihrer Sicht eher eine Errungenschaft oder ein Problem?
Die Entwicklung ist ambivalent. Es ist schön zu sehen, dass die Mehrheit der Menschen sich über die wesentlichen politischen Fragen einig ist. Zugleich trägt diese Entwicklung zur Radikalisierung der Ränder bei. Dies wiederum halte ich für problematisch.
Wie würden Sie die Position des Mainstreams beschreiben?
Es ist ein Bekenntnis zur Mitte.
Wir haben in der Schweiz neuerdings eine Partei, die so heisst – aber die Mitte ist ja eigentlich keine Position, sondern ein «moving target», je nach Zeitgeist.
Ich würde es so sagen: Die Mitte, das ist der Wunsch, die Gegenwart so festzuschreiben, wie sie nun mal ist. De facto kein Verzicht, keine Verbote, ja überhaupt keine grössere Veränderung. Und es bedeutet zugleich die Ächtung von allem, was davon abweicht. Aber wenn sich dann die Welt trotzdem ändert, dann ist die Mitte sehr anpassungsfähig, eben um die Mitte zu bleiben. Gestern noch war die Mitte für Abrüstung, heute für Aufrüstung. Vorgestern war sie gegen die Impfpflicht, gestern dafür und heute wieder dagegen. Die Mitte hält sich für wertegeleitet, aber sie hat äusserst flexible Grundsätze.
Wie sehr schätzen wir die Freiheit in unseren Demokratien?
Freie Menschen haben das Privileg, über Freiheit nicht nachdenken zu müssen. Das tun sie für gewöhnlich nur, wenn sie sich bedroht fühlen. Und diesen Umstand werte ich als Fortschritt.
Warum steigen dann gerade in unseren freien Gesellschaften die Klagen darüber, an der Entfaltung der eigenen Kräfte gehindert, sprich: diskriminiert zu werden?
Das ist ein Ausdruck steigender Ansprüche. Je mehr man hat, desto raffinierter wird das, woran man leidet. Als positiv werte ich die Zunahme der menschlichen Sensibilität. Als störend empfinde ich hingegen die erhöhte Reizbarkeit, die um das eigene Ich kreist. So unglaublich es klingt: Wir leben in der mitfühlendsten und zugleich egozentrischsten Gesellschaft, die es wohl je auf Erden gab.
Wenn Karl Marx heute durch zentraleuropäische Städte flanieren und Tagebuch führen würde, was würde darin stehen?
Er käme erst mal aus dem Staunen nicht mehr heraus. Marx würde sich wundern, dass der Kapitalismus solche wirtschaftlichen Segnungen für einen erheblichen Teil seiner Bevölkerung geschaffen hat. Und er müsste seinem Erzfeind, dem Schweizer Ökonomen Jean Charles Léonard Simonde de Sismondi, den heute leider keiner mehr kennt, recht gegeben: Der Kapitalismus ist lernfähig, und wenn man seine Arbeiter anständig bezahlt, dann erlebt man eine gesellschaftliche und kulturelle Blüte.
De facto sind sieben der zehn Forderungen von Marx im «Kommunistischen Manifest» heute erfüllt: die «starke Progressivsteuer», «die Zentralisation des Kredits in den Händen des Staates durch eine Nationalbank», «Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staates», die Industriepolitik, die faktische Verstaatlichung des Bauernstandes, die Urbanisierung, «die öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder».
Das kann man so sehen. Dann hätten die Kapitalisten den Kommunismus nach Marx umgesetzt. Sein Erfinder müsste schmunzeln. Zugleich wäre er auch sehr enttäuscht, weil er sich fundamental geirrt hätte: Der Kapitalismus hat sich nicht selbst in die Luft gesprengt, wie er bewiesen zu haben glaubte, sondern auf der ganzen Linie gesiegt.
Für Sie ist dieser Sieg allerdings nur temporärer Natur. Ihre These: Im zweiten Maschinenzeitalter des Kapitalismus, in dem die Maschinen nicht nur den Körper, sondern auch das Gehirn des Menschen ersetzen, geht uns irgendwann die Arbeit aus …
Falsch. Das sage ich nicht. Ich sage: Die geistige Routinearbeit, die heute noch weitgehend in Menschenhand ist, wird in absehbarer Zeit von Maschinen erledigt. Banking, Verwaltung, medizinische Versorgung, juristische Beratung, vieles von dem. Millionen von Menschen werden deshalb allein in Deutschland und der Schweiz über kurz oder lang ohne Arbeit dastehen. Aber das heisst nicht, dass es in der Gesellschaft nichts mehr zu tun gibt. Die interessante Frage ist, ob es für die meisten Tätigkeiten noch einen angemessenen Lohn gibt.
Die Frage ist nicht neu. Seit den 1980er-Jahren wird darüber spekuliert, dass es zu einer Zwei-Job-Gesellschaft kommen könnte: auf der einen Seite die Arbeit der Hochqualifizierten, auf der anderen die Service-Jobs der Niedrigqualifizierten. Warum soll sich die Lage gerade heute zuspitzen?
Wegen der Technik. Künstliche Intelligenz und Deep Learning machen eine Menge Jobs überflüssig – und dieser Prozess ist bereits im Gange. Früher konnte man Leute weiterbilden oder umschulen. Die Weiterbildung war eine grosse Erfolgsgeschichte, die Umschulung weniger, weil die meisten Leute Mühe haben, ihr Berufsleben vollständig umzupflügen. Beides wird aber in Zukunft nicht mehr wie bisher möglich sein. Denn die technischen Anforderungen an die Arbeit steigen, die Menschen werden jedoch nicht im gleichen Masse intelligenter.
Wir sind zu dumm für die technische Umwelt, die wir selbst geschaffen haben?
Das ist brutal gesagt, aber ja, so ist es. Alle Menschen haben Talente, aber nicht alle haben wahnsinnige Skills, die sich im Beruf verwenden lassen. Dieser Tatsache sollten wir ins Auge sehen. Und auch der Frage, die daraus folgt: Was soll die Gesellschaft mit all diesen Leuten machen?
Ich wäre gelassener: So wie immer schon Jobs verschwanden und neue entstanden, wird es auch in Zukunft sein. Zudem kennt der Mensch sowieso potenziell unendlich viele Bedürfnisse im zwischenmenschlichen Bereich. Die Empathie-Berufe werden also einen Boom erleben.
Einspruch. Natürlich entstehen auch im zweiten Maschinenzeitalter neue Jobs für Hochqualifizierte – Programmierer, Entscheider, Supvervisor, Problemlöser. Aber das sind nur wenige, und das löst unser Problem nicht. Und was die Empathie-Berufe angeht, so täuschen Sie sich. Die sind auf ihre Weise oft so anspruchsvoll wie ein IT-Beruf.
Es gäbe auch das neue Berufsbild des Mitspielers oder des Zuhörers, die ganz elementare Bedürfnisse abdecken.
Schön, aber wer soll die angemessen bezahlen? Das geht nie und nimmer auf.
Aber geht denn diese Vorstellung auf, dass die meisten Arbeiten von Maschinen erledigt werden? Das ist eine alte menschliche Fantasie – die Sozialisten haben sie im 19. Jahrhundert in allen möglichen Varianten durchgespielt, auch Marx im «Maschinenfragment» von 1857/1858. Die Grundidee: Die Maschinen sind gleichsam moderne Sklaven, die an unserer Statt arbeiten, und wir können uns derweil als Jäger, Hirten und Kritiker selbst verwirklichen. Ist das wirklich mehr als eine Fantasie?
Na ja, die Reise geht nach meinem Dafürhalten tatsächlich in diese Richtung. Schon ein halbes Jahrhundert vor Marx hat der englische Gelehrte William Godwin solche Gedanken gewälzt, der Vater von Mary Shelley, der Autorin von «Frankenstein». Seine Idee: Die Befreiung der Menschen kommt nicht über die Revolution, sondern über die Evolution der Technik. Und das stimmt ja heute schon: Dank der Maschinen schuften wir heute körperlich viel weniger intensiv als zu Godwins Zeiten, und die Arbeitszeiten der Angestellten haben sich deutlich reduziert. Wir arbeiten immer weniger, und trotzdem steigt das Bruttoinlandprodukt. Das liegt am Einsatz der Maschinen, und das ist doch echter Fortschritt!
Zugestanden. Aber die Maschinen fallen nicht vom Himmel, sondern werden von innovativen Menschen unter kompetitiven Bedingungen entwickelt und implementiert.
Meinerseits zugestanden. Aber es stellt sich heute dringender als früher die Frage, wie die Wohltaten dieses Fortschritts möglichst vielen Menschen zugutekommen, damit nicht das gesellschaftliche Chaos ausbricht.
Deshalb fordern Sie in Ihrem Buch «Freiheit für alle» ein bedingungsloses Grundeinkommen. Die Idee wurde ebenfalls von manchen Sozialisten im 19. Jahrhundert gewälzt, aber auch von wenigen liberalen Denkern wie Milton Friedman oder Ralf Dahrendorf im 20. Jahrhundert vertreten. Warum soll es diesmal klappen?
Dahrendorf sprach von Bürgergeld, und das scheint mir auch der richtige Ausdruck zu sein. Die liberale Argumentation geht so: Man gewährt allen Menschen die gleiche materielle Grundsicherung, damit sie von ihren Freiheitsrechten den optimalen Gebrauch machen können. Das würde den Begriff der Arbeit neu definieren: weniger «labour» und mehr «work», weniger Arbeit für andere um jeden Preis und mehr Arbeit für sich. Weniger alte Arbeitsgesellschaft und mehr neue Sinngesellschaft – das ist ein Wandel, der ohnehin längst begonnen hat.
Das Bürgergeld würden alle Bürger erhalten, unabhängig davon, ob sie bedürftig sind oder nicht, unabhängig davon, ob sie durch eigenes Verschulden oder unverschuldet in Not geraten sind.
Genau. Das sind ebenfalls noch Denkmuster der Arbeitsgesellschaft. Aber in der Überfluss- und Sinngesellschaft, in der wir de facto bereits leben, erhalten die Menschen ein Einkommen, ohne dafür etwas zu leisten – einfach nur, weil sie Bürger sind.
In Ihrem Modell würde der heutige Sozialstaat mit der dazugehörigen Bürokratie weitgehend hinfällig. Man würde einen Freibetrag für Einkommenssteuern einräumen, um Arbeitsanreize zu setzen. Und man müsste die Staatsbürgerschaft streng definieren – denn es ist klar, dass nicht jeder Arbeitsmigrant Bürgergeld bekommt. Damit machen Sie sich auf allen Seiten Feinde.
Seis drum. Ich wollte einen Gedanken konsequent durchdenken – ohne mich auf politische Spiele einzulassen. Wir müssen raus aus den alten Denkschemata des 19. und 20. Jahrhunderts.
Und wer soll all dies bezahlen – die Unternehmer, die ohnehin am meisten schuften?
Die Frage ist ja heute schon: Wer soll denn den Sozialstaat bezahlen? Wir fahren in unseren Ländern die Altersvorsorge sehenden Auges gegen die Wand. Darum sollten wir diesmal eben weitsichtiger denken. In einer Sinngesellschaft, die sich nicht mehr allein über Arbeit definiert, müsste die Besteuerung der Arbeit sinken. Es müsste attraktiver werden, Menschen zu beschäftigen. Das ist auch eine gute Nachricht für die Unternehmer. Im Gegenzug würde ich eine Maschinensteuer als Teil der Gewinnsteuer einführen – und eine Finanztransaktionssteuer. In Deutschland wäre ein Bürgergeld von 1500 Euro realistisch, in der Schweiz wohl von 2000 oder 2500 Franken.
Das klingt abenteuerlich. Aber lassen wir mal die Detailberechnungen, die Sie in Ihrem Buch anstellen. Wenn viele Menschen nicht mehr arbeiten müssen, dann freuen sie sich zwar über die Freizeit. Aber bald darauf werden sie sich zu Tode langweilen.
Nein. Es gibt eine Menge historischer Evidenz dagegen. Denken Sie zum Beispiel nur an den wohlhabenden griechischen Bürger, der nicht schuftete. Er hatte eine Menge freier Zeit. Doch er hat sich nicht gelangweilt, sondern sich der Politik hingegeben. Das heisst, die Sinngesellschaft mit Bürgergeld muss zugleich eine Bildungsgesellschaft sein. Sonst landen wir in einer Gesellschaft, die aus wenigen Menschen besteht, die sich in der Arbeit selbst verwirklichen, und all denjenigen, die mit immer ausgefuchsterer Unterhaltungselektronik in ein digitales Nirwana abgleiten. Aber ganz ehrlich, das droht uns auch jetzt.
Brot und Spiele.
Furchtbar.
Wie dröhnen Sie sich denn nach getaner Arbeit zu?
Mit einem Glas Wein und Kerzenlicht auf dem Sofa, Zweisamkeit mit meiner Partnerin. Ansonsten bin ich jemand, der während des Tages ganz viel schweigt.
Schweigen heisst lesen und schreiben?
Vor allem. Es heisst aber auch: Mittagsschlaf machen, Sport treiben und die Natur geniessen. Und Freunden zuhören.
Ihre Idee des Bürgergeldes in Ehren, aber die Umsetzung hat keine Chance. Die damit verbundenen Ungewissheiten – Kosten und Wirkungen – sind zu gross. 2016 haben wir in der Schweiz über eine entsprechende Initiative abgestimmt. 80 Prozent waren dagegen.
Die Welt hat sich seither verändert und wird sich weiter rasant verändern. Der technische Fortschritt schreitet voran. Unsere Gewissheiten bröckeln. Sobald die Menschen erkennen, dass die alte Arbeitsgesellschaft sich nicht mehr retten lässt, werden sie hellhörig. Und neugierig. Ich bin überzeugt, dass die Zeit für die Idee des Bürgergeldes bald gekommen ist. Und Sie wissen ja, die Mitte wird alles dafür tun, die Mitte zu bleiben. Und wenn die Zeiten sich ändern, ändern sich auch die vertrauten Gewissheiten über die Arbeitswelt und den Sozialstaat. Das kann schneller gehen, als mancher glaubt.
Interviewer René Scheu ist Philosoph, Blick-Kolumnist und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern.