Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
«Initiativen gegen Regierungspolitik wären nicht möglich»

«Das Covid-Gesetz entrechtet die Bevölkerung», argumentieren die Gegner. Doch das Leben in einem Staat beinhaltet nicht bloss Rechte, sondern auch Pflichten, wie der Philosoph Richard David Precht ausführt.
Publiziert: 08.06.2021 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 06.06.2021 um 14:14 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Deckung, Distanz, Desinfektion: In diesen Zeiten der Pandemie monieren manche, man beraube sie ihrer Rechte. «Angemessenen Anstand und abgemessenen Abstand zu wahren nötigt einem der liberal-demokratische Staat gemeinhin nicht ab», schreibt der deutsche Philosoph Richard David Precht (56) in seinem neuen Buch, «sondern überlässt es jedem Einzelnen, mehr oder weniger anständig zu sein.» Doch in besonderen Situationen kann eine Regierung das Volk zum Wohl aller in die Pflicht nehmen.

«Von der Pflicht», lautet der Titel von Prechts «Betrachtung». Der Medienstar der deutschen Denker geht darin der Frage nach, wie heutige Menschen Rechte und Pflichten – seit jeher ein grosses Thema der Philosophie – wahrnehmen. «‹Pflicht› fühlt sich an wie Zähneputzen, Vorsorgeuntersuchungen, Spülen und Aufräumen», so Precht. «Pflicht» klinge in den Ohren vieler so, wie sie der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen (1828–1906) beschrieben habe: «Kalt, spitz und stechend.»

Dabei sei Pflicht kein Ding, das man vor sich hertrage, sondern man trage sie in sich als Teil einer Haltung; einer Haltung zu anderen Menschen und manchmal einer Institution, die Pflichten auferlege. «Jede Haltung, die wir im Umgang mit dem Virus einnehmen, ist damit keine reine Privatangelegenheit mehr», schreibt Precht und aktualisiert den berühmten «kategorischen Imperativ» von Immanuel Kant (1724–1804): «Handle so, dass dein Vorsorgeverhalten jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Regel zur Erhaltung der Gesundheit aller gelten kann.»

Precht führt weiter aus, dass das Wort «Pflicht» – in seinem alt- und mittelhochdeutschen Ursprung die Fürsorge und Obhut, die Teilnahme und der Dienst an der Gemeinschaft – ein hohes Gut der Gesellschaft bezeichne. Und zeigt auf uns: «Dass die Pflicht, seinem Land zu dienen, positive soziale Auswirkungen hat, ist zum Beispiel in der Schweiz seit jeher ein wichtiges Argument für den Militärdienst.» Und trotzdem finden sich auch bei uns einige Menschen, die etwa die Maskenpflicht als Zumutung empfinden.

Mehr noch: «Die Aufforderung, als Staatsbürger seinen Pflichten nachzukommen, wird mit Faschismus und Diktatur gleichgesetzt.» Den Faschismusvorwurf bezeichnet Precht als «Treppenwitz der Geschichte»: «Seit wann schlägt das Herz der Faschisten für die Schwachen?» Und zum Diktaturvorwurf entgegnet er: «Organisationen und Initiativen gegen Regierungspolitik wären nicht möglich.» Wir könnten also nicht über das Covid-19-Gesetz abstimmen, wie wir das am kommenden Sonntag tun.

«Es ist völlig richtig, dass der Staat nicht die Pflicht hat, alle erdenklichen Erkrankungen zu verhindern und alle Todesrisiken auszumerzen», schreibt Precht. Beim Alkohol, wo sich Menschen in erster Linie selbst gefährden, setze er auf Selbstverantwortung; und im Strassenverkehr errichte er mit Promillegrenzen und Tempolimits Leitplanken. «Zwar ist unser Leben heute durch eine Vielzahl von Regelungen und Auflagen eingehegt», so Prechts Fazit, «dafür aber nötigt der Staat seinen Bürgern im Normalfall weit weniger grosse Pflichten und Zumutungen ab als in allen früheren Zeiten.»

Richard David Precht, «Von der Pflicht. Eine Betrachtung», Goldmann

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