«Am 1. Mai kursierten Gerüchte über grosse Arbeitsniederlegungen in Amazon-Lagerhallen im gesamten Land», schreibt der amerikanische Investigativ-Journalist Alec MacGillis in seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch über den US-Versandhandelsriesen. Doch im Stammland deutete nichts auf Unruhen hin. Das war vor einem Jahr. Und dieses Jahr nimmt Anfang April über die Hälfte der Arbeitenden in einem Amazon-Logistikzentrum im Südstaat Alabama an einer Urabstimmung teil und entscheidet sich zu 71 Prozent dagegen, sich gewerkschaftlich zu organisieren.
Also alles paletti bei den fast 1,3 Millionen Angestellten weltweit, davon über 800’000 alleine in den USA? Nein! Denn MacGillis, früher Reporter bei der «Washington Post» und heute Chefredaktor bei der «New Republic», recherchierte über zehn Jahre und zeichnet in seinem Buch mit dem doppelsinnigen Titel «Ausgeliefert» ein anderes Bild: «In den US-Lagern bahnte sich die Unzufriedenheit mangels Gewerkschaften andere Wege», schreibt er. «‹WILLKOMMEN IN DER HÖLLE›, verlautbarten Graffitis an den Innenseiten von LKW-Anhängern, ausser Sichtweite der Lagerhallen-Kameras. ‹FUCK BEZOS›.»
Jeff Bezos (57) ist Gründer von Amazon und mit einem Vermögen von 179,6 Milliarden US-Dollar aktuell der reichste Mann der Welt. 1994 will er Konsumgüter übers immer stärker genutzte World Wide Web verkaufen und zieht dafür mit seiner Frau nach Seattle, dem heutigen Hauptsitz der Firma. Sie mieten ein Haus und entscheiden sich bewusst für eines mit Garage, auch wenn diese zu einem Hobbyraum umgebaut ist. «So konnte Bezos später den üblichen Garage-Start-up-Mythos für sich reklamieren», so MacGillis.
Amazon beginnt als Buchhändler – und das aus simplem Grund, wie MacGillis schreibt: «Es gab so unendlich viele unterschiedliche Titel, dass ein Onlinehändler gegenüber dem Einzelhandel einen Vorteil genoss, den er bei anderen Waren nicht hatte.» Heute verkauft Amazon alles, vom TV-Gerät über Kleider bis zu Beauty-Produkten, von der Waschmaschinen-DVD zum Notfall-Schnurrbart bis zum Hühnersuppen-Spray. Damit das alles schnell zur Kundschaft kommt, hat das Unternehmen weltweit über 175 Logistikzentren mit einer Fläche von 14 Millionen Quadratmetern.
«Ich gratuliere. Ihr geht heute den ersten Schritt, um Amazonianer zu werden.» Das ist die Begrüssung für neue Mitarbeitende in den Lagern. Sie dürfen ihre Hunde mit zur Arbeit bringen, es gibt Coffee-Shops und gratis Bananen. Aber zum Job gehört auch, Waren bis zu 22 Kilogramm zu heben und alles Erdenkliche einzupacken, «von Kaugummis bis Kajaks». Die Arbeit in den Sortierzentren sei nicht nur anstrengend, sondern auch gefährlich. MacGillis: «Eine 23 Amazon-Lagerhallen umfassende Studie ergab, dass dort mehr als doppelt so viele schwere Verletzungen gemeldet wurden wie im landesweiten Durchschnitt der Lagerhallenbranche.»
Verletzte und gar Tote auf dem Werksgelände, ein Massaker im ganzen Land: Das Buch zeigt vor allem auf, wie das weltweit viertwertvollste Unternehmen mit einem Börsenwert von 1,6 Billionen US-Dollar die USA verändert: «Amazon hat etwa doppelt so viele Arbeitsplätze bei unabhängigen Händlern vernichtet, wie es selber geschaffen hat», bilanziert MacGillis.
Alec MacGillis, «Ausgeliefert – Amerika im Griff von Amazon», S. Fischer