Philosoph Richard David Precht
«Niemand braucht diesen Hyperkonsum-Wahnsinn»

Der populärste Philosoph Deutschlands, Richard David Precht (56), setzt sich gerade wegen der Impffrage schwer in die Nesseln. Mit uns spricht er darüber, warum die Politik im Klimaschutz so oft versagt und was ein gutes Leben ist.
Publiziert: 07.11.2021 um 15:34 Uhr
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Aktualisiert: 07.11.2021 um 16:46 Uhr
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Philosoph Richard David Precht schreibt über unsere Zukunft – etwa die der Arbeit. Er plädiert für ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Foto: Peter Rigaud/laif
Interview: Silvia Tschui

Herr Precht, Sie stehen gerade etwas in der Kritik …
Richard David Precht: Wegen der Impffrage, meinen Sie?

Genau. Sie haben in Ihrem letzten Buch über die Pflicht jedes Einzelnen auch gegenüber der Gesellschaft gesprochen. Jetzt haben Sie gesagt, Sie würden Kinder nicht gegen Covid-19 impfen lassen. Wie geht das zusammen?
Das passt sehr gut zusammen. Wir haben die Pflicht zum Schutz der Vulnerablen, also der Vorerkrankten und der Alten. Die sind aber, so sie wollten, geimpft. Eine Pflicht, sich gegen Corona zu impfen, habe ich nie behauptet, und die ist auch nicht gegeben. Natürlich ist es wünschenswert, dass sich viele impfen, aber eben nicht verpflichtend. Was die Kinder anbelangt, so habe ich dazu die gleiche Meinung wie die zuständige Impfkommission in Deutschland. Wir wissen nicht genug darüber, um verantworten zu können, Kinder gegen Corona zu impfen.

Nun, führende Infektiologen widersprechen Ihnen vehement. Aber lassen wir die Impffrage – wenn man schon einmal mit einem Philosophen spricht: Was ist Ihrer Meinung nach ein gutes Leben?
Das ist doch eine Binsenwahrheit – ein gutes Leben ist, wenn man ein glückliches, sinnerfülltes Leben führt und das weder auf Kosten anderer noch allzu sehr auf Kosten der Natur.

Denken Sie, es gelingt in unserer Zeit dem grossen Teil der Menschen in unserer Gesellschaft, ein solches Leben zu führen?
Gar nicht. Wir können das in unseren Industrieländern schon deswegen nicht, weil wir immensen Raubbau an der Natur betreiben, um unseren für normal gehaltenen Lebensstandard zu leben, der die Bilanz sehr negativ färbt. Es gibt ja so einen World Happiness Index, da wird immer mit einberechnet, was der Preis ist, den wir für unser Glücklichsein bezahlen. Und da kommen verständlicherweise die Industrieländer nicht sehr gut weg.

Was verstehen Sie denn unter unserer «für normal gehaltenen» Lebensweise?
Wir leben in einer Art Hyperkonsumismus. Wir meinen einen Bedarf an Unmengen von Dingen zu haben, die man zum Leben überhaupt nicht braucht, die uns auch überhaupt nicht glücklicher machen. Das wäre auch nicht schlimm, wenn wir das nicht mit einem immensen Raubbau an der Natur bezahlen würden. Wir können so nicht mehr lange weitermachen.

Was muss sich verändern?
Entweder wir versuchen, unseren Bedarf zu reduzieren, oder wir versuchen, den Raubbau an der Natur zu reduzieren. Die Option, nur den Bedarf zu reduzieren, ist nicht realistisch. In demokratischen Gesellschaften bekommt damit kein Politiker Mehrheiten. Wir sollten aber dringend beides tun.

Sie haben aber doch letzthin in einer Fernsehsendung gesagt, Menschen würden Verbote lieben?
Ja, das stimmt, Kinder tun das ja auch. Menschen brauchen, um sich entfalten zu können, einen Ordnungsrahmen. Kinder, denen man alles erlaubt, werden deswegen keine glücklichen Menschen. Beispiel Rauchverbot in Restaurants: Da haben sich auch viele gewehrt damals. Und heute kann sich keiner mehr vorstellen, sein Essen in einem verqualmten Restaurant zu essen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Verboten und Freiheit.

Das müssen Sie genauer erklären.
Eine Gesellschaft, in der nichts verboten ist, totale Anarchie, da ist ein Menschenleben nichts wert. Verbote schützen die Freiheit des Einzelnen. Wir sind zum Beispiel froh, dank Verboten im Verkehr sicher von A nach B zu kommen. Verbote im Strassenverkehr schützen das Leben und die Freiheit des Einzelnen.

Dann müssten doch sinnvolle Verbote seitens des Staats möglich sein?
Bei sinnvollen Verboten geht es aber nicht darum, dass der Staat einfach sagt: Ich weiss, was für dich gut ist, und das einfach bestimmt. Das wird niemand akzeptieren. Das Problem ist doch, dass bei vielen Menschen die Bereitschaft da wäre, etwas zu verändern, er das aber privat einfach nicht kann. Da müsste der Staat eingreifen.

Können Sie ein konkretes Beispiel geben?
Viele Menschen würden gerne auf Plastik verzichten. Wenn sie das aber ernsthaft versuchen, wird das Leben unglaublich kompliziert bis unmöglich. Und wenn ich dann noch CO2 einsparen möchte und nur Bioäpfel aus der Umgebung essen möchte – ich müsste arbeitslos sein, um das zu schaffen. Wenn nun aber der Staat nicht recyclingfähiges Plastik verbietet, dann fällt doch jedem, der sich Sorgen macht, ein Stein vom Herzen. Dann werde ich nicht damit belastet, ein Problem selbst lösen zu müssen, das ich gar nicht selbst lösen kann.

Weshalb agieren Politik und Staat im Umweltbereich nicht viel stärker?
Sie haben Angst vor Arbeitsplatzverlusten. Ob das nun die Verpackungsbranche ist oder die Automobilindustrie oder die Flugindustrie. Dabei wäre es sehr einfach, gerade in der Flugindustrie, eine Veränderung zu bewirken.

Wie denn genau?
Man könnte zum Beispiel Inlandflüge von unter 500 Kilometern verbieten. Es muss doch keiner, sagen wir, von Zürich nach Basel oder Genf fliegen. Damit wäre schon viel gespart – auch weil keine einzige Airline bei solchen kurzen Strecken Gewinn erwirtschaftet. Und die Staaten, die Schweiz wie auch Deutschland, subventionieren im Übrigen im grossen Stil Flugbenzin und halten so die Vielfliegerei künstlich am Leben. Das ist doch wirtschaftlicher und ökologischer Schwachsinn, das sieht doch eigentlich jeder ein. Dasselbe gilt für Kreuzfahrtschiffe. Es gibt kaum grössere Dreckschleudern, was wir da unseren Kindern und Enkeln ins Meer kippen, das ist eine Schande.

Nochmals: Weshalb handelt die Politik denn nicht?
Aus Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen. Dabei wäre es am Beispiel der Kreuzfahrtschiffe recht einfach: Staaten könnten die Produktion von Schiffen subventionieren, die den Müll zum Meer rausholen – so wäre der Industriezweig ohne den Verlust von Arbeitsplätzen überlebensfähig.

Staaten können ja aber doch nicht alle Industriezweige subventionieren, die in Zukunft Arbeitsplätze verlieren.
Da müssen wir völlig neu denken. Arbeitsplätze werden im Zuge der Digitalisierung so oder so im grossen Stil verloren gehen. Solange Politiker aber durch den Verlust von Arbeitsplätzen politisch bedrohbar sind, wird kein Politiker die grosse ökologische Wende schaffen.

Wie und was müsste man denn genau neu denken?
Die Zeiten der Nahezu-Vollbeschäftigung werden bald vorbei sein. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde den Zustand, zeitweilig ohne Arbeit zu sein, aufwerten.

Klingt wunderbar – weshalb haben wir das nicht schon längst?
Der soziale Druck muss viel grösser werden, was Klima- und Umweltschutz und was die Zukunft der Arbeit betrifft. Aus der Geschichte sehen wir: Jede soziale Errungenschaft kam immer auf Druck der Öffentlichkeit zustande. Beispiel Kinderarbeit, da haben bei uns alle Ökonomen gewarnt: Ohne dass Kinder in Bergwerke steigen, ohne dass Waisenkinder Textilien weben, sind wir wirtschaftlich nicht überlebensfähig. Doch heute wünscht sich ja niemand bei uns Kinderarbeit zurück.

Aber die Frage stellt sich schon: Wer soll denn ein bedingungsloses Grundeinkommen bezahlen, wenn immer weniger Menschen arbeiten?
Alles ist bezahlbar, wenn man nur will. Alles. Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine wäre eine Maschinensteuer. Das bedeutet, dass jede Tätigkeit, die neu von Maschinen ausgeführt wird und somit Personalkosten einspart, besteuert wird. Besser noch wäre aber eine Mikrosteuer.

Mikrosteuer müssen Sie bitte genauer erklären.
Man könnte jede finanzielle Transaktion mit einer winzig kleinen Summe besteuern, 0,2 Prozent etwa. Wenn Sie als Einzelperson für jeden Hunderter, den Sie ausgeben, zwanzig Rappen bezahlen müssen, spüren Sie das kaum. Bei grossen Transaktionen, etwa an der Börse, kommen so aber Milliardenbeträge zusammen – ohne dass es dem Handel stark schadet. Damit könnte man ein bedingungsloses Grundeinkommen locker finanzieren.

Bleibt die Frage: Was tun all die beschäftigungslosen Menschen dann?
Da wiederum müsste man bei unserem Schulsystem ansetzen. Auch das gehört komplett neu gedacht. Unser Schulsystem stammt aus dem 18. Jahrhundert und diente damals dazu, in Monarchien gute Befehlsempfänger zu trainieren. Seither wurde immer wieder etwas am Stoff und an Unterrichtsmethoden herumgeflickt, aber das Ganze nie neu gedacht. Wir brauchen aber in Zukunft keine Befehlsempfänger mehr, sondern Menschen, die innovativ und interessensgesteuert handeln und denken.

Wie müsste denn eine Schule Ihrer Meinung nach aussehen?
Man muss doch auf die eigene Motivation und Stärke jedes Einzelnen setzen, statt alle den gleichen Stoff lernen zu lassen und Kinder sozusagen zwangszuvergesellschaften. Hierzu könnte man Klassen abschaffen und diese durch interessensgesteuerte Lerngruppen ersetzen. Man hätte dann die an Naturwissenschaften Interessierten zusammen oder die Theatergruppen. Gut wäre auch eine gesunde Konkurrenz gleicher solcher Gruppen untereinander, ein bisschen wie in Harry Potters Hogwarts, in welchem die einzelnen Häuser miteinander konkurrenzieren. Denn später, in Wirtschaft und Forschung, konkurrenzieren auch Teams gegeneinander.

Wenn Sie jetzt abschliessend jedem unserer Leser etwas sagen können, das Ihnen wichtig ist – was wäre das?
Dass man sich einmal fragt, ob wir mit all unseren Dingen, die wir glauben, haben zu müssen, glücklicher sind als die Generation vorher. Ich glaube nicht. Niemand muss zweimal im Jahr mit dem Billigflieger nach Ibiza reisen, niemand braucht wirklich das neuste Handy, niemand braucht jedes Jahr leicht anders geschnittene Jeans, niemand braucht diesen Hyperkonsumwahnsinn. Er macht uns nicht glücklich, im Gegenteil. Wenn sich das alle immer mal wieder vergegenwärtigen würden, wäre schon sehr viel für den Planeten getan.

Richard David Precht referierte letzte Woche am Schweizer Wissenschaftsfestival «Salon Public». Dieses Interview ist im Anschluss entstanden.

Der Pop-Philosoph

Richard David Precht (56) ist Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg (D) und an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit 2012 moderiert er die ZDF-Talkshow «Precht». Sein 2007 veröffentlichtes erstes Sachbuch «Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?», in dem er grundlegende philosophische Fragen allgemeinverständlich erörtert, stand jahrelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste. Seither sind unzählige Sachbücher entstanden, die sich unter anderem mit der Digitalisierung, Tierethik oder dem Bildungswesen befassen. Precht wohnt in Düsseldorf und hat einen erwachsenen Sohn.

U. Baumgarten via Getty Images

Richard David Precht (56) ist Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg (D) und an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit 2012 moderiert er die ZDF-Talkshow «Precht». Sein 2007 veröffentlichtes erstes Sachbuch «Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?», in dem er grundlegende philosophische Fragen allgemeinverständlich erörtert, stand jahrelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste. Seither sind unzählige Sachbücher entstanden, die sich unter anderem mit der Digitalisierung, Tierethik oder dem Bildungswesen befassen. Precht wohnt in Düsseldorf und hat einen erwachsenen Sohn.


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