Militärexperte über die Ukraine und die Folgen für die Schweizer Armee
«Den Ernstfall kann nun leider niemand mehr ausschliessen»

Auch im Hightech-Krieg spiele der Mensch eine zentrale Rolle, ist der Militär- und Leadership-Experte Ulrich Zwygart überzeugt. Seine Lehren für die Schweiz aus dem Ukrainekrieg: Das Milizsystem stärken – und keine chinesischen Waffen kaufen.
Publiziert: 07.04.2022 um 10:18 Uhr
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Aktualisiert: 07.04.2022 um 10:46 Uhr
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Ulrich Zwygart (69) ist ehemaliger Rechtsanwalt, Divisionär und Managing Director von international agierenden Unternehmen.
Foto: Biljana Bili Wechsler Photographie
Interview: René Scheu

Wir treffen uns an einem sonnigen Frühlingsnachmittag im Grundhof in Luzern, dem Gebäude des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik. Ulrich Zwygart (69) ist ein erfahrener Militär- und Leadership-Experte. Die grosse Frage unseres Hintergrundgesprächs zu Russlands Krieg gegen die Ukraine: Welche Rolle spielt der Mensch eigentlich in einem Krieg im 21. Jahrhundert? Und wie wird der Krieg unser Denken über uns und die Schweiz verändern?

Blick: Herr Zwygart, in einem Krieg gilt die Ökonomie der Kräfte. Wer ist im 21. Jahrhundert entscheidend – der Mensch oder die Maschine, Erfahrung oder Technik?
Ulrich Zwygart: Beides! Zum einen war es illusorisch zu meinen, im 21. Jahrhundert werde es keine Kriege mehr geben. Zum anderen werden Eroberungskriege auch in Zukunft nicht ohne Menschen geführt. Es braucht, wie die Amerikaner sagen, «boots on the ground». Mensch und Technik gehören untrennbar zusammen. Genau das können wir seit Wochen in der Ukraine beobachten.

Aber es zeigt sich auch, dass unbemannte Flugkörper – Kampfdrohnen – auf beiden Seiten eine zunehmend wichtige Rolle spielen.
Kampf- und Aufklärungsdrohnen gehören zur modernen Kriegsführung, ebenso wie Cyberattacken. Alles völlig unbestritten. Doch fliegen Drohnen nicht einsam durch die Luft – ihr Gebrauch ist eingebettet in einen komplexen Gefechtskontext. Und die Drohnen müssen von einer kundigen Person bedient werden, die den Zweck der ganzen Operation begreift und das Kriegsgerät gezielt im Sinn des Auftrags einsetzt. Um diesen Zweck, diesen Kontext, dieses Zusammenspiel von Mensch und Technik geht es auch in einem modernen Krieg des 21. Jahrhunderts.

Zu Beginn des Kriegs fand man im Netz alle möglichen Gegenüberstellungen, die auf quantitative Angaben abzielten: Russland und die Ukraine haben so und so viele Gefechtspanzer, Angriffshelikopter, Kampfflugzeuge, Maschinengewehre, Panzerabwehrlenkwaffen. Nach einigen Wochen zeigt sich nun aber: Es gibt nicht nur eine Quantität, sondern auch eine Qualität der Kriegsführung.
Russland hat, rein materialtechnisch gesehen, eine grosse Armee, natürlich mit älteren und neueren Technologien. Und die Russen haben, verglichen mit den Ukrainern, ein x-Faches an Waffen und Maschinen. Diese Ausgangslage hat die Russen zu falschen Annahmen verführt, an erster Stelle Putin. Für sie war der Fall klar: Einmarsch, Schock, Regime-Wechsel, Installation einer prorussischen Marionettenregierung in der Ukraine. Doch ist diese Sicht sehr verkürzt.

Führend in Führungsfragen

Ulrich Zwygart (69) ist ehemaliger Rechtsanwalt, Divisionär und Managing Director von international agierenden Unternehmen. Er ist Absolvent der US-amerikanischen Generalstabsschule, wo er mit dem Eisenhower Award ausgezeichnet wurde. Heute lehrt er Leadership/Management an der Executive School der Universität St. Gallen und berät Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen.

Ulrich Zwygart (69) ist ehemaliger Rechtsanwalt, Divisionär und Managing Director von international agierenden Unternehmen. Er ist Absolvent der US-amerikanischen Generalstabsschule, wo er mit dem Eisenhower Award ausgezeichnet wurde. Heute lehrt er Leadership/Management an der Executive School der Universität St. Gallen und berät Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen.

Inwiefern genau?
Soldaten sind entscheidend, also ihre Ausbildung – und Motivation, wie sie geführt werden. Der Mensch muss wissen, was er tut und warum er es tut, und er muss sich respektiert fühlen. Dann erst kann er seine ganze Leistung abrufen. Das gilt für jeden Beruf, zeigt sich aber besonders drastisch im Krieg.

Wurde mit der Entwicklung der Militärtechnik die Bedeutung des Menschen sogar aufgewertet?
Das ist pointiert formuliert, aber ja, so würde ich das auch sehen. Der moderne Krieg wird technisch, logistisch und kommunikativ immer komplexer – und umso wichtiger wird der Mensch, der diese Komplexität zu meistern versteht.

Könnte man also sagen: Der Krieg im 21. Jahrhundert ist das Gegenstück zum Ersten Weltkrieg, als sich Soldatenheere mit Maschinengewehren und Artillerie zu Hunderttausenden abschlachteten?
Im 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg galt das Motto: Angriff bis zum Äussersten und Letzten. Aber das änderte sich schon gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Beispielhaft hierfür steht die Zwölfte Isonzo-Schlacht im Oktober 1917, als sich Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich auf der einen und Italiener auf der anderen Seite gegenüberstanden. Aus der Materialschlacht wurde ein Bewegungskrieg. Operations- und Führungskonzepte wurden entscheidend – und damit der Mensch. Seither stand der Mensch auch im 20. Jahrhundert eigentlich immer im Zentrum der Kriege.

Oberleutnant Astabek O. holte Segen der Kirche
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Vor Massaker in Butscha:Oberleutnant Astabek O. holte Segen der Kirche

Der Mensch stand auch im Zentrum der jüngsten Gräuel in Butscha. Wie ist es möglich, dass Menschen andere Menschen aus nächster Nähe so brutal abschlachten?
Für den befriedeten und fernen Bürger scheinen solche Schreckenstaten, wie sie russische Soldaten an ukrainischen Zivilisten verübten, undenkbar zu sein. Und die Bilder sind auch kaum zu ertragen. Aber der Krieg verändert die Menschen – sie agieren enthemmt. Deshalb müssen Offiziere im Krieg beispielhaft vorangehen und solche Taten verhindern. Genau das fehlt der russischen Armee: die Befolgung des Kriegsvölkerrechts und Führungskräfte, die diesen Werten Nachahmung verschaffen.

Wie konnten die Russen die Lage so falsch einschätzen?
Das war das Resultat der Selbstüberschätzung ihrer materialmässigen Überlegenheit. Russland hat vom Material her aufgerüstet und jedes Jahr Milliarden in die Armee gesteckt, es hat seine Panzer kampfwertgesteigert und sich eine Menge hochwertige Flugzeuge und Kampfhelikopter zugelegt. Aber die Russen haben ein paar wesentliche Fragen vernachlässigt: Wie wird geführt? Wie wird kommuniziert? Welche Bedeutung hat die Logistik? Wie wird mit den Menschen umgegangen? Wie steht es um die Motivation? Diese Fragen, die uns alle so sehr vertraut sind, spielen auch im Kriegsalltag eine entscheidende Rolle. Sie entscheiden mitunter über Sieg oder Niederlage.

Man hat ja diese langen russischen Panzerkolonnen vor Kiew gesehen. Da war auch dem unbedarftesten Beobachter klar, dass etwas schiefgelaufen sein musste. Nur was genau?
Das entscheidende Konzept hier heisst: Gefecht der verbundenen Waffen, das Zusammenspiel von Panzern, Panzergrenadieren, Panzersappeuren, Artillerie, Kampfhelikoptern und Luftwaffe. Jede Armee muss dies üben und wieder üben, wochen-, monate-, jahrelang. Bekannt ist, dass die russischen Kampfpiloten kaum 100 Stunden auf ihren Maschinen trainiert haben. Und ich habe auch sonst stark den Eindruck, dass das russische Militär hier über ein fundamentales Übungsdefizit verfügt. Technik ersetzt den Menschen nicht, sie setzt ihn voraus.

Wie sieht es auf der Ebene der Führungslehren aus – unterscheiden sich hier die russische und die ukrainische?
Die Russen pflegen traditionell die Befehlstaktik. Das heisst, vereinfacht gesagt: Der Soldat tut nichts, bis er einen Befehl erhält. Den führt er aus – und wartet auf den nächsten Befehl. Er kennt den grösseren Zusammenhang seiner Operation nicht, er handelt bei veränderter Lage nicht auf eigene Faust im Rahmen seines Auftrags. Er ist ein reiner Befehlsempfänger und wird darüber hinaus noch schlecht behandelt. Anders die Ukrainer. Sie haben offensichtlich aus dem Krieg um die Krim von 2014 gelernt. Seither haben sie, mit westlicher Hilfe, die Auftragstaktik eingeübt und das selbständige Handeln kleinerer Formationen ermöglicht.

Auftragstaktik – was hat der Laie sich genau darunter vorzustellen?
Jeder einzelne Soldat kennt den Gesamtrahmen. Er kennt den Zweck des Kriegs und das Ziel der Operation, in die er involviert ist. Im Rahmen des Auftrags und der Absicht der übergeordneten Kommandostelle können die Führungskräfte selbst entscheiden und handeln, wenn sie plötzlich mit einer neuen Situation konfrontiert sind. Sie agieren selbständig im Sinn des Gesamten. Der Mensch wird als Entscheider und Akteur ernst genommen – er steht im Zentrum. Er wird zum kriegsentscheidenden Faktor.

Im Nachhinein ist man immer schlauer: Haben Sie geahnt, dass Russland den Krieg nicht in wenigen Tagen für sich entscheiden würde?
Nein. Im Gegenteil. Ich erinnere mich noch genau, wie ich Mitte Februar 2022 einen Bericht des Schweizer Fernsehens sah, als Reporter die Stellungen in der Ostukraine besuchten. Der Eindruck: altes Material, improvisierte Ausrüstung, lotterige Kommandoposten, eine Art Freizeit-Armee. Mir wurde angst und bange, denn zugleich war ja damals schon bekannt: Russland hat 150'000 bis 200'000 Mann mobilisiert, modernes Kriegsgerät inklusive. Ich habe mich getäuscht – zum Glück.

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Wer ist heute dank ausgefeilter Technik im Vorteil – der Angreifer oder der Verteidiger?
Zunächst der Angreifer. Er hat einen Wissensvorsprung und das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Er weiss, wann er wo und womit zuschlägt. Der Verteidiger kann dies nur erahnen – und sich deshalb nur generisch vorbereiten. Aber sobald der Überraschungseffekt verpufft ist, ist der erste Vorteil des Angreifers vorbei. Natürlich kann er weiter angreifen – aber irgendwann erreicht der Angriff einen Kulminationspunkt, das hat schon der preussische Militärphilosoph Carl von Clausewitz beschrieben.

Und dann?
Der Angriff kommt zum Stillstand. Entweder rücken keine Kräfte nach, die Logistik kommt ins Stocken oder die Truppen sind einfach erschöpft. Irgendwann geschieht es – und der Verteidiger erhält seine grosse Chance, indem er zum Gegenangriff bläst. Und genau das ist es, was wir gegenwärtig erleben: Die Ukrainer schlagen immer wieder gezielt zu und halten sich ansonsten versteckt. Die Russen haben ihre blutigen Lehren gezogen und wollen keine Angriffsflächen mehr bieten – sie ziehen sich zurück, sichern ab und feuern aus der Distanz Raketen ab. Und so geht es hin und her, es kommt zu kleinen Gewinnen hier und da, aber im Grunde steckt der Krieg zurzeit fest.

Wie lange kann die Situation dauern?
Theoretisch sehr lange. Die Ukraine verteidigt sich heldenhaft, unter Zuhilfenahme von Verteidigungswaffen aus dem Westen. Und die Russen arbeiten weiter daran, die Ukrainer mürbe zu machen, was ihnen aber noch nicht gelingt.

Putin könnte aber, wenn er wollte, aus der Distanz die ganze Ukraine dem Erdboden gleichmachen. Er hätte die Waffen hierfür. Warum tut er es nicht?
Er könnte – aber dann würde er wohl den Rückhalt im eigenen Militär und in der eigenen Bevölkerung verlieren. Zu diesem Mittel würde er nur in einem Akt äusserster Verzweiflung greifen. Und die Wahrscheinlichkeit wäre hoch, dass dies der Anfang vom Ende wäre – auch für seine Herrschaft.

Wann wäre klar, dass eine Partei den Krieg verloren hat?
Wenn der Aggressor unverrichteter Dinge abzieht, hat er verloren. Oder wenn eine Partei die bedingungslose Kapitulation erklärt.

Ist vor diesem Hintergrund ein Verständigungsfrieden zwischen Russland und der Ukraine denkbar?
Schwierig. Wenn Putin die Ukraine verlässt, hat er im Grunde genommen das Gesicht verloren. Dies selbst dann, wenn er die Ukraine dazu bringt, zum Beispiel die Krim und den Osten als russisches Hoheitsgebiet anzuerkennen. Der Krieg könnte weitergehen. Putin wird versuchen, Selenski mit Kommandoaktionen auszuschalten. Und Selenski wird nichts unversucht lassen, um Russland weiter mit Kommandoaktionen zu ärgern und kommunikativ als Verliererpartei darzustellen.

Sie sehen also vorerst keinen Weg für einen Frieden?
Nein. Was vielleicht möglich wäre: eine geteilte Ukraine mit einem neutralen Westteil und einem russischen Ostteil. Andererseits dürfte dies Selenski kaum akzeptieren, zumal er ja schon verkündet hat, die Bevölkerung über Referenden abstimmen zu lassen. Und auch Russland wäre damit nicht auf Dauer zufrieden. Der Frieden würde sich irgendwann bloss als Waffenruhe entpuppen. Zum Frieden kommt es wohl erst, wenn Aggressor und Verteidiger, beide, erschöpft sind – und das kann Monate oder sogar Jahre dauern. Aber selbst dann könnten die Scharmützel weitergehen. Ich sehe keine einfache Lösung.

Steuern wir also auf einen neuen heissen kalten Krieg zu: Westen gegen Osten, Demokratie versus Autokratie?
Seien wir ehrlich: In diesem Systemkonflikt bewegen wir uns schon seit mindestens 15 Jahren. Putins Russland ist seit langem klar autokratisch orientiert, Systemkritiker werden vergiftet, die kritische Presse mundtot gemacht. Russische Oligarchen waren im Westen dennoch gern gesehen: Sie haben Stiftungen unterstützt, Fussballklubs gekauft, sie waren gute Kunden in der Luxusgüterindustrie. Damit ist nun Schluss. Wir wollten der Tatsache lange einfach nicht ins Auge sehen. Nun können wir nicht mehr wegsehen.

Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Systemkonkurrenz mit China?
Ich weiss aus meiner Unternehmenspraxis: Chinesische Investoren haben für hiesige Firmen oftmals viel mehr Geld geboten als europäische Investoren. Sie kaufen sich westliches Know-how – über Firmen, Stiftungen oder Hochschulen – und verstärken so ihren Einfluss. Den Chinesen geht es jedoch anders als den Russen eher um eine ökonomische und technische Vormachtstellung in der Welt als um eine militärische. Sie agieren subtiler – und klüger.

Was bedeutet dies für den Westen?
Ich halte diese Entwicklung für gefährlich. Denn China ist eine Einparteienherrschaft und ein totalitärer Überwachungsstaat. Wir sollten gerade in Europa wachsam sein. Die europäischen Unternehmensführer und Regierungen sollten wieder lernen, strategisch zu denken und zu handeln: Topmanager können nicht nur rein ökonomische Szenarien beurteilen, sondern müssen auch politische Entwicklungen in ihr Kalkül aufnehmen. Spitzenpolitiker sollten nicht nur ihren parteipolitischen Ideologien folgen, sondern gesamtheitliche Konzepte entwickeln und im Rahmen des geopolitischen Realismus (ver-)handeln. So ziehen wir die richtigen Schlüsse aus dem, was heute vielerorts als Zeitenwende bezeichnet wird.

Sie gehen nicht davon aus, dass China demnächst Taiwan überfallen wird? Die Amerikaner sind deswegen offensichtlich in Sorge.
Wir bewegen uns wiederum im Bereich der Spekulation, zumal ich ja nicht über besondere Geheimdienstinformationen verfüge. Was ich hingegen weiss: Die Chinesen denken in anderen Zeithorizonten als wir, nicht in Jahren, auch nicht in Jahrzehnten, sondern in Jahrhunderten. Sie haben geduldig gewartet, bis Hongkong heim ins Reich der Mitte fiel. Und sie können sich auch im Fall Taiwans alle Zeit der Welt lassen. Nun beobachten sie gerade, wie der Westen auf die russische Aggression reagiert. Sie werden daraus ihre Schlüsse ziehen. China strebt nicht rasch und gewaltsam die Macht an. Xi Jinping arbeitet vielmehr daran, langfristig die Weltmacht Nummer eins zu werden, der sich andere freiwillig unterordnen. Das ist eine ganz andere geopolitische Strategie.

Geopolitische Strategeme sind das eine, die militärische Wehrfähigkeit ist das andere. Ich würde wirklich gern die ehrliche Meinung eines Divisionärs a.D. hören: Wie wehrfähig ist die Schweizer Armee im Jahr 2022?
Unsere Milizarmee hat nicht mehr dieselbe Akzeptanz wie vor 30 Jahren. Wohl haben wir heute zu wenig Material, auch nicht mehr das modernste, und nur in einzelnen Bereichen kampfwertgesteigert. Es fehlt an einer bodengestützten Fliegerabwehr. Aber wir haben FA-18-Kampfflugzeuge und hoffentlich bald vom Typ F-35, die den Luftraum verteidigen und die Bodentruppen schützen können. Bundesrat und Parlament werden die Rüstung intensivieren. Und wenn der Wehrwille gegeben ist, so wie in der Ukraine, dann darf man die Schlagkraft der Schweizer Milizarmee nicht unterschätzen.

Ist also alles in Ordnung, und die Eidgenossenschaft braucht anders als Deutschland den Wehretat nicht zu erhöhen?
Nein, bestimmt nicht. Auch die Schweiz hat die Friedensdividende eingelöst. Das begann mit der Armee 95, als man eine grosse, flächendeckende Armee im Grundkampfdispositiv von 600'000 Mann und einigen Frauen auf 250'000 reduzierte. Dann kam die Armee 21, was die Schlagkraft weiter dezimierte, wenn auch nicht völlig ausradierte. Es hiess: Wir sind von Freunden umzingelt. Und: Unsere Verteidigung beginnt im Hindukusch. Friedenserhaltende Massnahmen wurden wichtiger als mechanisierte Brigaden, weil wir glaubten, dass in Europa kein konventioneller Krieg mehr stattfinden könne. Russland hat uns eines Besseren belehrt. Wir merken plötzlich: Wir müssen in der Lage sein, unsere Sicherheit und Unabhängigkeit militärisch zu verteidigen.

Aber stimmt es denn nun nicht mehr – sind wir nicht von Freunden umzingelt?
Doch, sind wir. Aber wir wissen nicht, wie sich die Welt verändern wird. Wir müssen ausschliessen, jemals zum Spielball von Grossmächten oder Machtblöcken zu werden. Wir sollten deshalb ernst nehmen, was wir seit jeher pflegen: die immerwährende bewaffnete Neutralität.

Was heisst das konkret?
Wir sollten die von der Nato angebotene Partnership for Peace weiter pflegen. Wir sollten uns mit der EU austauschen über Technik und Ausbildung, gemeinsam trainieren, gute Kontakte pflegen. Und unser militärisches Equipment sollte kompatibel sein mit jenem des Westens. Das ist fundamental wichtig – wir sollten keine chinesischen Waffensysteme kaufen. Aber zugleich sollten wir in der Lage sein, in extremis das eigene Land selbst zu verteidigen, ohne fremde Hilfe. Denn genau das meint immerwährende bewaffnete Neutralität. Wir mischen uns nicht in fremde Händel ein, und wir sorgen im Notfall für uns selbst. Allerdings ist es allein mit einem höheren Militäretat nicht getan.

Worauf wollen Sie hinaus?
Es braucht auch hier strategisches Denken. Wir kaufen nun F-35-Flugzeuge. Richtig und gut. Aber das reicht nicht. Auch neue Panzer reichen nicht. Die Schweiz sollte sich ernsthaft und vertieft darüber Gedanken machen, wie sie einerseits mit der Welt verbunden bleibt und andererseits eine Autarkie in den wichtigsten Bereichen gewährleistet. Zusätzlich zur militärischen Sicherheit geht es auch um Energie-, Infrastruktur- und Ernährungssicherheit, und es geht um den Forschungs- und Innovationsstandort Schweiz.

Welche politisch-strategischen Implikationen hat dies?
Strategisch klug aufgestellt sind wir morgen, wenn wir vernetzt und autark, weltoffen und unabhängig, effizient und resilient sind. Effizienz sollte in einem grösseren Zusammenhang gesehen werden: Lagerhaltung, Reservebildung, Kapitalbindung galten lange als verpönt – die Wirtschaft wurde auf Kosteneffizienz getrimmt. Wir müssen wieder lernen, dass globale Lieferketten anfällig und risikoreich sind. Und dass es ein Vorteil sein kann, auf eigene Ideen und Kräfte zu vertrauen.

Könnte es sein, dass das Milizsystem in der Schweiz ein Revival erfährt?
Unsere Milizarmee ist gut, wenn sie über genügend modernes Material und motivierte Soldaten verfügt. Milizsoldaten haben keine Sinnkrise, sondern wissen, wofür sie kämpfen: für Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung. Ausserdem ist die Improvisationsfähigkeit einer solchen Armee immens, weil sie aus ganz unterschiedlichen Bürgerinnen und Bürgern besteht. Ein Revival wäre zu wünschen – zumal eine Milizarmee auch ein kleines Land wie die Schweiz zusammenhält.

Das ist sehr idealistisch gedacht. Hat die Schweizer Armee ein ernsthaftes Reputationsproblem?
Die Armee hat in der international ausgerichteten Privatwirtschaft nicht mehr dieselbe Akzeptanz und Gewichtung. Aber ein ernsthaftes Reputationsproblem hat sie nicht. Es herrschte bis vor kurzem der Zeitgeist der Nachgeschichtlichkeit. Die Geschichte hat uns wieder eingeholt. Auf die Frivolität folgt nun die Seriosität. Man kann in der Milizarmee viel nützliche Führungserfahrung sammeln. Man lernt viel über sein Land, seine Mitbürger, man lernt viel für sich, für den Beruf, für das Leben. Und man ist bereit für den Ernstfall – den kann nun leider niemand mehr ausschliessen.

Interviewer René Scheu ist Blick-Kolumnist, Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.

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