Xenia Tchoumi über Shitstorms, Ukraine-Krieg und Wokeismus
«Erstens verurteile ich den Krieg, zweitens bin ich keine Politikerin»

Influencerin Xenia Tchoumi hat eine vertrackte Familiengeschichte mit Wurzeln in Russland und der Ukraine. Im Interview erklärt sie, warum ihre persönliche Betroffenheit nicht von öffentlichem Interesse sei. Und warum sie nichts von extremem Wokeismus hält.
Publiziert: 14.05.2022 um 10:45 Uhr
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Aktualisiert: 14.05.2022 um 16:39 Uhr
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Xenia Tchoumi studierte Wirtschaft und lebt heute in London.
Foto: Zvg
Interview: René Scheu

Xenia Tchoumi (34) ist gerade in der Dominikanischen Republik, als wir das Interview führen. Wir tun es über Facetime, Tchoumi sitzt in einem Auto, das durch nicht mehr enden wollende Wälder fährt. Die Italo-Schweizerin erklärt ihre vertrackte russisch-ukrainische Herkunft – und sagt, warum aufgeklärte Männer Feministen sind.

Frau Tchoumi, Sie sind professionelle Fashion-Influencerin und also medial dauerexponiert. Wie gross ist Ihre Angst vor dem nächsten Shitstorm?
Xenia Tchoumi: Meine Furcht tendiert gegen null. Shitstorms gehören nun mal zum modernen Medienbetrieb. Wer als Influencer arbeitet, muss lernen, mit ihnen umzugehen. Du kannst sie nicht verhindern, du kannst sie nur einhegen. Das ist Teil des Jobs.

Habe ich richtig gehört: Medienbetrieb?
Ja, richtig. Meine Follower liken und kommentieren meine Posts, meistens positiv, zuweilen auch negativ, im Normalfall jedenfalls manierlich und zivilisiert. Doch selbst wenn sie ausfällig werden, sind die Hater eine kleine Minderheit in einem riesigen Ozean von Kommentatoren. Anders sieht die Sache aus, wenn sich Vertreter der guten alten Medien einschalten. Sie können jederzeit einen Post aufbauschen und daraus, wie es so schön heisst, eine Geschichte machen. Und die gebiert immer weitere Geschichten und Kommentare – das ist dann eben der Shitstorm.

Sie üben gerade ziemlich unverblümt Medienkritik – dabei sind Sie doch auf die Präsenz in ebendiesen Medien angewiesen.
Sie täuschen sich. Das war früher der Fall: Die Sternchen fanden nur im Boulevard und im Fernsehen statt; und wandten sich Boulevard und Fernsehen von ihnen ab, waren sie sozial erledigt. Vielleicht war auch ihr Businessmodell erledigt. Heute präsentiert sich die Lage komplett anders: Die Influencer haben ihre eigene Community, die sie bewirtschaften. Die klassischen Medien spielen für sie kaum mehr eine Rolle.

Wie lautet Ihre strategische Devise, um einen Shitstorm einzuhegen?
Da bin ich old school: richtigstellen, sich also an die Wahrheit halten, freundlich im Ton, klar in der Sache.

Sie halten nichts von alternativen Narrativen, um Gegensteuer zu geben?
Nein. Die Wahrheit währt am längsten – neue Narrative, die gut klingen, aber nicht stimmen, sind früher oder später bloss Anlass zu weiteren Shitstorms. Jede Lüge gebiert weitere Lügen, und am Ende verlierst du dich in ihnen.

Gibt es wiederkehrende Motive in Ihren Shitstorms?
Nein. Der Grund ist einfach: Man kann jedes Stück Information aus dem Zusammenhang reissen und mit irgendwelchen Vermutungen anreichern. Es wurden mir schon alle möglichen Dinge angedichtet. Ich nenne Ihnen die absurdeste Geschichte: Ich sei eine Spionin, weil ich viele Sprachen spreche und aus dem Osten stamme.

Eine Spionin des russischen Geheimdienstes KGB?
Das war schon weniger klar – es gab wie immer in solchen Fällen viele Anspielungen, aber keine konkreten, belastbaren Aussagen.

Jüngst wurden Sie von den Medien dafür kritisiert, als im Westen lebende Russin den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht klar verurteilt zu haben. Hat Sie das getroffen?
Das war zwar keine Verschwörungstheorie, aber doch ein ziemlich uninformierter, ja absurder Vorwurf. Denn erstens verurteile ich den Krieg. Zweitens bin ich keine Politikerin, sondern eine Fashion-Influencerin. Und warum soll ich mich zu allem äussern, was gerade an Schrecklichem auf unserer Welt passiert? Das steht mir nicht zu. Ich habe meine Domäne, genau wie Sie. Und drittens habe ich, wenn schon, russische und ukrainische Wurzeln.

Sind Sie also eine Ukraino-Russin?
Keine Labels bitte. Interessieren Sie sich wirklich für meine Familiengeschichte?

Ja, klar. Warum fragen Sie?
Weil meine Geschichte vertrackt ist. Mein Vater ist Russe aus Magnitogorsk, meine beiden Grosseltern väterlicherseits sind russischer Herkunft. Meine Mutter hingegen ist in Kasachstan geboren und hat lange in Dnipro gelebt, im Osten der Ukraine. Ihre Mutter wiederum wurde in der heutigen Ukraine geboren, ist also Ukrainerin. Vom Vater meiner Mutter wissen wir hingegen kaum etwas, weil sich die beiden getrennt hatten, als meine Mutter noch klein war. Die Wirklichkeit ist komplexer als schwarz-weiss, oder?

Tatsächlich ziemlich vertrackt, jedenfalls aus heutiger Sicht. Früher stellte sich die Situation wohl etwas anders dar. Ihre Eltern zogen kurz nach dem Fall der Mauer in die Schweiz, zuvor gehörten alle diese Länder noch zu einer grossen Föderation: der Sowjetunion.
Das ist eine wichtige Beobachtung. Die Wahrnehmung meiner Eltern differiert tatsächlich von der meinigen – sie haben den Erfahrungsraum der Sowjetunion verinnerlicht, ganz im Gegensatz zu mir, die ich im Tessin aufgewachsen bin. Meine Heimat ist in der Schweiz, in London, in Italien. Bereits 2012, als ich die Miss-Ukraine-Wahl in Kiew moderierte, hatte ich meine Familiengeschichte thematisiert, doch hat dies damals hierzulande natürlich niemanden interessiert.

Wie sieht dies heute aus – hat der russische Krieg gegen die Ukraine auch den Familienfrieden beeinträchtigt?
Nein. Mein Vater ist total gegen den Krieg, ganz abgesehen davon, dass er viele Geschäfte in der Ukraine getätigt und auch viele Freunde dort hat. Sein Herz blutet. Meine Mutter ist noch besorgter, weil ihr Bruder weiterhin in der Ukraine lebt. Der Familienfrieden ist also intakt. Aber wir sprechen, wenn wir uns sehen, nicht ständig über Politik.

Aber die Sache belastet Sie auch, oder?
Auf persönlicher und politischer Ebene: sicher. Aber meine persönliche Betroffenheit ist nicht von öffentlichem Interesse. Deshalb halte ich mich hier ganz bewusst zurück – und nicht aus Furcht vor dem nächsten Shitstorm.

Apropos: Die meisten fürchten sich vor einem Shitstorm, weil er den sozialen Tod bedeutet, wie früher der Pranger. Man ist ausgestellt, und alle sehen zu, wie man aus dem demokratischen Diskurs ausgeschlossen wird.
Das ist Cancel Culture in Aktion. Sie appelliert an unsere tribalen Triebe: In der Stammesgesellschaft warst du bald physisch tot, wenn du den sozialen Tod erlitten hast. Das ist eine menschliche Urangst. Es braucht hier ein Resilienz-Training, ich habe einige Gedanken dazu in meinem Buch «Empower Yourself» formuliert. Denn die Angst darf uns nicht dominieren – sonst geben wir die grösste aller Freiheiten auf: das freie Denken, das freie Reden, den freien zwischenmenschlichen Austausch.

Und wir bekommen als Resultat das, was heute viele beklagen, ohne doch etwas daran zu ändern: sozialen Konformismus. Nimmt er Ihrer Meinung nach tatsächlich zu oder behaupten dies manche Journalisten nur die ganze Zeit?
Hier habe ich genügend Evidenz: Der allgemeine Konformismus nimmt eindeutig zu, in den neuen und den alten Medien. Zugespitzt: Alle sagen, was alle gerade sagen. Schwarz-Weiss. Die herrschende Meinung kann sich schnell auch wieder ändern und sogar in ihr Gegenteil verkehren. Aber das ist egal, denn was gestern war, interessiert heute niemanden mehr. Wiederum: Schwarz-Weiss. Dagegen hilft nur eins: mehr Vielfalt, mehr Diversität.

Einverstanden. Aber ist nicht das Mantra von Diversity mittlerweile auch längst zu einem neuen Dogma geworden, frei nach dem Motto: Die Leute sollen zwar möglichst verschieden aussehen, aber sie sollen bitte schön dieselben wohlmeinenden Ansichten teilen?
Diese Gefahr besteht immer – aber mir geht es um eine Vielfalt der Perspektiven. Denn nur so können wir unser Leben wechselseitig bereichern und voneinander lernen. Eine solche Vielfalt kommt durch unterschiedliche Lektüre zustande, aber auch durch unterschiedliche Erfahrungen, die wiederum auf unterschiedlichen Biografien beruhen. Ich bin für alle diese Arten von Diversität offen.

Das ist mir zu vage. Gehen wir da hin, wo es wehtut: Kennen Sie die woke Lebensart, von englisch «woke», erwacht?
Sicher. Das sind erst mal Menschen, die ein bewusstes Leben führen – sie übernehmen nicht einfach Stereotypen oder Gewohnheiten von anderen, sondern ziehen sie in Zweifel. Und sie fragen stets nach den Nebenwirkungen ihres Handelns. Im Prinzip eine gute Sache, finde ich.

So weit, so gut. Aber manche von ihnen schaffen selbst neue Stereotypen. Nach dem Wokeismus sind wir alle wesenhaft durch kollektive Eigenschaften wie Gender, Ethnie, Religion oder sexuelle Orientierung geprägt, ohne dies zu bemerken. Diese Eigenschaften sollen unsere Haltungen und Meinungen bestimmen – und wer dies leugnet, ist reaktionär.
Ich bin eine Individualistin und Humanistin! Natürlich tragen wir stets ein äusseres und inneres Erbe mit uns herum, also einerseits Denkmuster, Gewohnheiten, Haltungen, die wir von anderen übernehmen, und anderseits Wahrnehmungsverzerrungen und Verhaltensweisen, die uns aufgrund unserer evolutionären Vergangenheit als Hordenwesen anhaften. Aber unsere Aufgabe ist es doch gerade, uns davon zu befreien, so gut es geht, und unser eigenes Leben zu führen. Insofern halte ich, ehrlich gesagt, gar nichts von dieser extremen Spielart des religiösen Wokeismus. Das ist bloss ein alter Kollektivismus in neuen Kleidern. Und Kollektivismen sind stets gefährlich, weil sie die Gruppe über das Individuum stellen. Auch hier gilt also: Wachsam bleiben!

Mit solchen Aussagen machen Sie sich in weiten Teilen der Netz-Community wohl gerade ziemlich unbeliebt.
Warum? Es ist doch eine unglaubliche Errungenschaft, dass wir uns als Individuen begreifen. Es war ein langer Weg bis dahin, und ich finde, wir alle sollten das Individuum immer wieder gegen alle möglichen Anfeindungen verteidigen. Zugleich gibt es natürlich weiterhin Diskriminierungen aller möglichen Art auch aufgrund äusserer Merkmale. Und das sollten wir auf keinen Fall tolerieren. So viel Nuancierung muss möglich sein.

Die Anhänger des Wokeismus werden Sie damit aber nicht besänftigen. Rassistisch ist demnach nicht, wer eine Menschengruppe pauschal als minderwertig betrachtet. Der Wokeismus definiert Rassismus selbst als Zugehörigkeit zur falschen Gruppe – zu jener der Weissen oder jener der Männer.
Solche Pauschalisierungen sind intellektuell dürftig. Der Wokeismus ist eine Mode – und Moden kommen und gehen. Es ist der Versuch einer kleinen Minderheit, die Deutungshoheit im Netz zu erringen und alle anderen zum Schweigen zu bringen. Aber das Pendel schlägt zurück. Ich habe den Eindruck, dass sich Befürworter der Meinungsfreiheit wieder stärker exponieren. Und das ist auch richtig so – Freiheit ist nie gratis. Eben hat ja Elon Musk den Nachrichtendienst Twitter gekauft, und er will damit anscheinend auch der Meinungsfreiheit in den sozialen Medien wieder mehr Raum geben. Das wäre ein wichtiges Signal!

Sie nennen sich eine Feministin. Was genau verstehen Sie darunter?
Ganz einfach: Eine Feministin ist, wer sich für die gleiche Würde von Frau und Mann, für die gleichen Rechte von Frau und Mann und für die gleichen Chancen von Frau und Mann einsetzt.

Sollte sich nicht jeder aufgeklärte Mann ebenfalls dafür einsetzen?
Meine Worte! Aufgeklärte Menschen sind Feministen. Jeder Humanismus ist ein Feminismus. Und jeder Humanismus ist feministisch.

Sind aufgeklärte Feministen und Humanisten gefeit vor der Überhöhung der Frauen als neue Weltenretterinnen?
Für mich postuliert der Feminismus nicht die Überlegenheit der Frau, sondern ihr Anderssein. Das ist ein grosser Unterschied.

Frau und Mann sind also verschieden?
Auf jeden Fall – zum Glück! Das macht das Leben interessant. Und es zwingt uns, voneinander zu lernen. Warum fragen Sie?

Weil dies manche Gender-Theoretikerinnen, die in den sozialen Medien viel Macht haben, diametral anders sehen. Ihnen zufolge sind Frausein und Mannsein bloss eine gesellschaftliche Zuschreibung, ein Stereotyp, ein Rollenbild. Ayaan Hirsi Ali, eine Feministin wie Sie, hat deshalb jüngst in einem Blick-Interview gesagt: «Der Feminismus ist tot.» Hat sie recht?
Wenn es keine Frauen gibt, gibt es auch keinen Feminismus – insofern hat Ayaan Hirsi Ali natürlich recht. Aber es gibt Frauen – jenseits aller Klischees. Und es gibt weiterhin Männer voller Klischees, die Frauen nichts zutrauen und sie auf eine mindere Rolle reduzieren wollen, jene der Mutter oder der schönen Ehefrau. Doch Frausein heisst sehr viel mehr als das. Deshalb braucht es den Feminismus. Aber, come on: Diese Extremvariante der Gender-Theorie ist doch nur sehr schwer verständlich und auch überbewertet.

Auch nur so eine Mode, die kommt und dann wieder geht?
Ich hoffe es zumindest. Oder nein, ich bin mir ganz sicher: Es ist nur eine Mode – und keine von Dauer. Denn die Gender-Theorie, die am Ende die Existenz der Geschlechter leugnet, widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Und sie widerspricht auch dem Humanismus. Denn man kann nur ernst nehmen, was man zuerst wahrnimmt. Insofern bleibe ich gelassen – und trotz allem sehr zuversichtlich.

Interviewer René Scheu ist Blick-Kolumnist, Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.

Millionen von Followern

Die 34-jährige Xenia Tchoumi (bürgerlich Tchoumitcheva) ist Unternehmerin und Influencerin im Bereich Fashion und Mode. Mit mehreren Millionen Followern in den sozialen Medien zählt sie zu den wichtigen Vertretern der Szene. Sie ist im Tessin aufgewachsen, hat Wirtschaft studiert und lebt in London. Zuletzt ist von ihr das Buch «Empower Yourself: How to Make Lemonade When Life Gives You Lemons» (2020) erschienen.

Die 34-jährige Xenia Tchoumi (bürgerlich Tchoumitcheva) ist Unternehmerin und Influencerin im Bereich Fashion und Mode. Mit mehreren Millionen Followern in den sozialen Medien zählt sie zu den wichtigen Vertretern der Szene. Sie ist im Tessin aufgewachsen, hat Wirtschaft studiert und lebt in London. Zuletzt ist von ihr das Buch «Empower Yourself: How to Make Lemonade When Life Gives You Lemons» (2020) erschienen.

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