Reform des Sexualstrafrechts
Wenn ein Nein nicht reicht

In der Schweiz schützt ein Nein der Frau nicht vor Vergewaltigung. Ob sich das ändert, wird gerade kontrovers diskutiert. Die Geschichte von zwei Opfern zeigt, wie absurd die Gesetzeslage heute in der Schweiz ist.
Publiziert: 19.01.2020 um 08:51 Uhr
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Aktualisiert: 13.05.2021 um 10:05 Uhr
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In der Schweiz muss sich eine Frau körperlich gewehrt haben. Der Mann muss sie zudem genötigt haben. Nur dann wird es als Vergewaltigung taxiert. Das will Strafrechtsexpertin Nora Scheidegger ändern.
Foto: Peter Mosimann
Rebecca Wyss

Nadja Baumann sitzt im Bieler Elfenaupark, es ist ein warmer Winternachmittag, die Sonne scheint, Hühner und Pfauen tapsen um sie herum. Die Szene wirkt unwirklich. Denn was die 21-Jährige erzählt, ist das krasse Gegenteil dieses Idylls.

Sie wollte in jener Nacht nicht mit ihm schlafen, «Nein, ich will nicht», sagte sie ganz deutlich, als er seinen Penis in ihre Vagina drücken wollte. Sie hat die Szene seither im Kopf oft durchgespielt. Denn was dann kam, verfolgt sie bis heute: Er packte ihre Handgelenke, drückte sie über ihrem Kopf aufs Kissen, drang in sie ein. «In dem Moment dachte ich: Shit.» Und sie schaute auf die Uhr auf dem Nachttisch, die Ziffern 2:00 leuchteten auf. Dann schaltete ihr Kopf ab. Und stellte erst wieder ein, als er gekommen war, ihn rauszog und sich zum Ausruhen ganz auf sie drauflegte.

Das ist jetzt zwei Jahre her. Nadja, die richtig anders heisst, hat keine Anzeige erstattet. Ob er für die Tat überhaupt verurteilt worden wäre, ist nicht klar. In der Schweiz ist Geschlechtsverkehr gegen den Willen nicht immer strafbar.

Vergewaltigung wird im Strafgesetzbuch so definiert: «Wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht (...).»

Vergewaltiger kommen heute davon

Das heisst: Wer wie Nadja «Nein, ich will nicht» sagt, sich aber körperlich nicht wehrt und dann gegen ihren Willen penetriert wird, ist noch kein Vergewaltigungsopfer. Und der Täter noch kein Vergewaltiger.

So kommen Täter systematisch davon. Wie, zeigt exemplarisch ein Bundesgerichtsentscheid von 2010. Im Wallis sagt eine Frau «Nein», nennt ihn Arschloch, weint, und er macht einfach weiter. Das Urteil des obersten Gerichts lautet: Keine Vergewaltigung, weil er weder gedroht, noch Gewalt angewendet habe und die Frau jederzeit hätte weglaufen können. Der Täter wurde freigesprochen.

Wie kann das keine Vergewaltigung sein?

Darüber ist bei uns derzeit eine Debatte im Gang. Involviert sind Strafrechtsforscher, Anwälte, Parlamentarier und Opferverbände. Einig ist man sich einzig darin, dass es eine Reform des Sexualstrafrechts braucht.

Diese Woche wollte die Rechtskommission des Ständerats einen ersten Pflock eingeschlagen und eine Gesetzesrevision des Bundesrats behandeln. Doch am Freitag vertagte sie den Entscheid.

Der Bundesrat will in seinem Gesetzesvorschlag bloss die Mindeststrafen bei Vergewaltigungen erhöhen und den Tatbestand geschlechtsneutral formulieren. Heute können laut Gesetz nur Frauen vergewaltigt werden. Zudem sollen laut Bundesrat künftig auch
beischlafähnliche Handlungen als Vergewaltigung gelten, Analsex zum Beispiel.

Reformvorschläge liegen auf dem Tisch

Für die Strafrechtlerin Nora Scheidegger (32) geht dieser Vorschlag des Bundesrats zu wenig weit: «Damit kommen viele Opfer nicht zu ihrem Recht.» Sie verweist auf die Istanbul-Konvention. Diese europäische Übereinkunft gegen Gewalt an Frauen verlangt, dass nicht einvernehmlicher Geschlechtsverkehr und andere sexuelle Handlungen angemessen bestraft werden. «Das ist heute nicht immer der Fall.»

Scheidegger hat für ihre Dissertation die Bundesgerichtsfälle der letzten fünfzehn Jahre studiert, die sich mit Vergewaltigung befasst haben. Daraus ist ein Papier entstanden, das auch Parlamentarierinnen und Parlamentariern vorliegt. Zwei Vorschläge stehen darin: Wenn eine Person Nein sagt oder ihren Unwillen zeigt, dann werden sexuelle Handlungen «als gegen ihren Willen» gewertet. Das schliesst auch Schockstarre mit ein.

Oder es braucht die ausdrückliche Zustimmung, verbal oder nonverbal. Eine Zustimmungslösung.

Mit anderen Worten: Beim Sex soll ein Nein endlich Nein bedeuten. Oder: Nur ein Ja auch tatsächlich Ja.

Die Schweiz hinkt in dieser Frage hinterher: Deutschland hat seit 2016 eine «Nein heisst Nein»-Regelung. Schweden führte 2017 die Zustimmungslösung ein. In beiden Ländern gab es grossen Widerstand. Im Fall von Schweden behaupteten manche Medien, dass es ein schriftliches Einverständnis vor dem Sex brauche. Nonsense.

Auch in der Schweiz geistern solche Vorstellungen herum. Ausgerechnet bei jenen, die eine Änderung des Sexualstrafrechts massgeblich mitbestimmen. Andrea Caroni, Mitglied der Rechtskommission des Ständerats, sagt gegenüber dem SonntagsBlick Magazin: «Mit Formularpflicht hätten nur noch Bürokraten Sex.» Deshalb sei er gegen die Zustimmungslösung.

Für Laura Bertschi wäre diese vielleicht aber die Rettung gewesen. Auch sie hat in Wirklichkeit einen anderen Namen. Die Mittdreissigerin spricht nur vom «Vorfall», wenn sie erzählt, was ihr vor zwölf Jahren passiert ist. «Ich war verliebt, vertraute ihm, sonst wäre ich nicht so friedlich neben ihm eingeschlafen.» Plötzlich aber erwachte sie, spürte seinen Penis in ihr drin. «Nicht einmal ein Kondom hatte er übergezogen.»

Sie kannten sich von der Uni, trafen sich schon eine Weile. Bis zu jenem Moment hatten sie noch nicht miteinander geschlafen. Jetzt hatte er lange genug gewartet, dachte er. Dachte auch sie erst: «Ich glaubte, ich sei ihm das schuldig.» Heute weiss sie: Sie realisierte gar nicht, was mit ihr geschah. «Ich konnte mich gar nicht wehren.»

Stereotyp: Die Frau lügt

Die Debatten über sexuelle Gewalt verlaufen oft nach einem Schema. Reflexartig kommen immer die gleichen Fragen: Warum wehrte sie sich nicht, wenn sie den Sex nicht wollte? Ist sie nicht einfach eine Liebhaberin, die Rache will? Das Stereotyp der lügenden Frau – wenn es um Sex geht – zieht sich durch die ganze Gesellschaft.

Der Fall von Morena Diaz zeigt das. Die Influencerin wurde als Lügnerin beschimpft, als sie ihre Vergewaltigungsgeschichte veröffentlichte.

Das Misstrauen schwingt auch im Widerstand gegen die Gesetzesreform mit.

SP-Ständerat Daniel Jositsch, Mitglied der Rechtskommission, sagte früh öffentlich, dass er wenig von der «Nein heisst Nein»-Regelung hält. Ähnlich äusserten sich 22 Strafverteidigerinnen und -verteidiger in einem offenen Brief im «Tages-Anzeiger». Sie befürchten, dass der Beschuldigte den Beweis für seine Unschuld erbringen muss und, wenn er das nicht kann, verurteilt wird. Dass also das Unschuldsprinzip nicht mehr gelten wird. Und es einfacher wird, jemanden falsch zu beschuldigen.

Misstrauen gegenüber den Klägerinnen. Das ist auch bei jenen verbreitet, die es besser wissen müssten: Polizistinnen und Polizisten. Susanne Niehaus erstellt im Auftrag von Gerichten Glaubhaftigkeitsgutachten. Die Professorin an der Hochschule Luzern beobachtet, dass Polizisten manchmal den Frauen gegenüber skeptisch sind und dies auch durchblicken lassen. «Das spüren die Befragten.» Manche wollen dann vor Gericht gar nicht mehr aussagen oder schildern dort das Erlebte anders, um glaubwürdiger zu klingen. «Sie geben zum Beispiel weniger Unsicherheiten zu.» Und wirken am Ende unglaubwürdiger – obwohl sie den Übergriff wirklich erlebt haben.

Die Beweisbarkeit ist ein Problem: Man weiss oft nicht, wer von beiden die Wahrheit sagt. «Das wird so bleiben», sagt Strafrechtlerin Nora Scheidegger. Auch mit einer Nein-Regelung gilt: «Wenn nicht bewiesen werden kann, wessen Aussagen glaubhafter sind, muss ein Angeklagter freigesprochen oder das Verfahren eingestellt werden», sagt sie. Das gilt auch für den Fall, dass Zweifel bestehen. In unserem Rechtsstaat gilt: In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten.

Mehr Anzeigen nach Reform

Heute kommen viele Fälle gar nicht vor Gericht, weil die meisten Betroffenen keine Anzeige machen. Studien schätzen die Dunkelziffer auf bis zu 90 Prozent.

«Ich frage mich immer noch, ob ich es richtig wahrgenommen habe und es wirklich eine Vergewaltigung war», sagt Nadja Baumann in Biel. «Ich dachte damals immer, ich würde übertreiben, es sei gar nicht so schlimm», sagt Laura Bertschi in Bern. Sie fühlten sich schuldig. Sie schämten sich. Weil sie sich nicht gewehrt haben. Nicht wehren konnten.

Auch deshalb, weil sie sich unter einem Vergewaltiger einen fremden Psychopathen vorgestellt haben. Nicht einen Mann, den man kennt, mit dem man einfühlsame Gespräche hat, den man nach Hause nimmt, um Nähe zu erfahren, sich zu küssen, der dann aber einfach nicht aufhört, wenn man nicht mehr will. Nadja Baumann sagt: «Das war kein Schläger. Das war Julien – ein anfangs netter, harmloser Typ mit Bart, wie man ihn jeden Morgen im Bus sieht.»

In Deutschland entfaltet die Reform ihre Wirkung: Die Zahl der Ermittlungsverfahren wegen Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist um ein Drittel gestiegen. Das Berliner Landeskriminalamt sprach vor kurzem gegenüber der deutschen Zeitung «Tagesspiegel» von einem «Kulturwandel», den alle Schichten und Altersgruppen erfasst habe.

Eine Reform könnte auch in der Schweiz dazu führen, dass mehr Frauen zur Polizei gehen – Frauen wie Nadja und Laura. Weil sie sensibilisierter sind, weil sie mit einem Nein plötzlich eine Chance haben.

Ohne Reform bleibt ihnen nur der Horror, der auf eine Vergewaltigung folgt.

Nadja Baumann hat eine Panikstörung entwickelt. Zugfahren, eine Beziehung führen – das ist momentan sehr schwierig. Sie sei deshalb nicht bereit, eine Anzeige zu machen. «Dann muss ich der Polizei alles erklären.» In zwei Wochen fängt sie nun erst einmal eine Traumatherapie an.

Bei Laura Bertschi fing irgendwann die rechte Körperhälfte plötzlich an zu zittern. Über Monate konnte sie kaum mehr gehen. Später hatte sie Todesgedanken, stellte sich vor, wie sie mit dem Velo gegen das Tram fährt. Und sie spürte, wie Messerklingen über ihren Rücken fahren. Heute, so viele Jahre nach «dem Vorfall» und nach der Entschuldigung des Mannes, spürt sie die Messerklingen manchmal immer noch. «Ich hätte nie gedacht, dass das mein Leben so stark beeinflusst.»

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