Rassismus in der Schweiz
«Wir sind doch keine Tiere»

Seit Jahren nehmen Meldungen über fremdenfeindliche Attacken zu – Politik und Gesellschaft sehen darin aber weiterhin nur ein Randphänomen.
Publiziert: 29.01.2023 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 29.01.2023 um 14:26 Uhr
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Racial Profiling: Kontrollieren Polizisten Passanten ohne Tatverdacht und aufgrund ihrer äusseren Merkmale.
Foto: Illustration: Igor Kravarik
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Sven ZauggRedaktor SonntagsBlick

«Rassismus gedeiht da, wo er geleugnet wird.» Für die Schweiz trifft das Zitat von Doudou Diène besonders zu. Nach einem Besuch 2006 in Genf konstatierte der ehemalige Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, bedenklich sei vor allem die Tatsache, dass rassistische Ideen auch auf demokratische Parteien übergriffen und der Rassismus von der Politik banalisiert werde.

Auch 17 Jahre später ist die Kritik nicht leiser geworden. Am Freitag drängte der Uno-Menschenrechtsrat die Schweiz dazu, endlich einen nationalen Aktionsplan gegen rassistische Diskriminierung ins Leben zu rufen und einen Mechanismus zur Sammlung von Beschwerden gegen rassistisches Profiling durch die Polizei zu etablieren.

Daten und Studien fehlen

Tatsächlich findet das komplexe Thema kaum Beachtung: Es fehlen Daten, es fehlen Studien, es fehlen Gesetze – und es fehlt an Verständnis dafür, dass Rassismus ein gesellschaftliches und institutionelles Problem ist.

Denise Efionayi-Mäder, Migrationsforscherin von der Universität Neuenburg und Mitverfasserin einer Studie über strukturellen Rassismus, findet die Fachliteratur dazu hierzulande spärlich. «Die öffentliche Debatte und die Rassismusforschung ist in Ländern wie Deutschland, Österreich, Frankreich oder auch Grossbritannien und den Niederlanden viel weiter fortgeschritten.»

Efionayi-Mäder sieht Parallelen zu einem anderen tabuisierten Thema. «Niemand kann behaupten, die Schweiz als Ganzes sei sexistisch. Aber wer könnte bestreiten, dass der Sexismus die Schweiz durchdringt?»

Leben in Ungleichheit

Für die Betroffenen bedeutet Rassismus ein Leben in Ungleichheit. Die Südafrikanerin Anele Dlamini*, seit elf Jahren in der Schweiz, sagt es so: «Egal was ich tue, wie gut ich Deutsch spreche, wie viel ich arbeite, ich werde nie ein vollwertiger Teil dieser Gesellschaft werden.» An ihrem Arbeitsplatz seien rassistische Kommentare keine Seltenheit. Sie nehme das hin, der Chef schaue weg.

Und erst kürzlich, als ihr Bruder aus Kapstadt zu Besuch war, wurden sie von Zivilpolizisten am Hauptbahnhof kontrolliert, ohne ersichtlichen Grund, wie Dlamini sagt. «Sie legten meinen Bruder in Handschellen, ich wurde hysterisch, hielt ihnen meinen Ausweis unter die Nase, fragte unentwegt, was wir denn verbrochen hätten.»

Dlamini wandte sich Tage später an die Polizei, schilderte den Vorfall, forderte eine Erklärung: Ihr wurde beschieden, sie solle kein Drama veranstalten, für solche Kontrollen brauche es keinen Grund, so der Polizist am anderen Ende der Leitung.

Racial Profiling

Das sei entwürdigend, meint Dlamini: «Wir sind doch keine Tiere! Wir machen uns doch nicht schuldig, nur weil wir schwarz sind.»

Was Dlamini und ihrem Bruder widerfuhr, hat Methode, Fachleute bezeichnen es als Racial Profiling. Davon spricht man, wenn Menschen allein aufgrund ihres Erscheinungsbildes oder ethnischer Merkmale von der Polizei kontrolliert werden. Weil nicht Einzelpersonen mit einer bestimmten Absicht handeln, sondern Vertreter von Institutionen wie den Ordnungskräften, wird diese Ermittlungstaktik dem strukturellen Rassismus zugeordnet.

Gina Vega leitet bei humanrights.ch die Fachstelle Diskriminierung und Rassismus sowie das Beratungsnetz für Rassismusopfer, das jährlich einen Bericht zu Vorfällen publiziert, die mit rassistischer Diskriminierung in der Schweiz zusammenhängen. Noch ist der aktuelle Bericht in Arbeit. Doch einige Aussagen stehen bereits fest: Vergangenes Jahr wurden dem Beratungsnetz 630 Fälle rassistischer Diskriminierung gemeldet. 55 mehr als im Vorjahr. Die Dunkelziffer liege laut Vega um ein Vielfaches höher.

Vor allem Menschen mit schwarzer Hautfarbe betroffen

60 Meldungen betrafen die Polizei. Gemeldet wurden Fälle von herabwürdigender Behandlung, willkürlichen Personenkontrollen und unverhältnismässiger Strafuntersuchung. Betroffen waren vor allem Menschen mit schwarzer Hautfarbe. Vega kritisiert: «Die Polizei anerkennt bis heute nicht, dass Racial Profiling in ihrer Institution angelegt ist, und wischt Fehlverhalten als Einzelfälle vom Tisch. Damit werden die Auswirkungen für die Betroffenen nicht anerkannt und ihre Lage kaum ernst genommen.»

Eine Studie im Auftrag der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) kommt zum Schluss, dass Menschen, die institutionellen Rassismus erfahren, wenig Vertrauen in Polizei und Justiz haben. Aus diesem Grund bringen nur wenige Betroffene ihre Klagen vor Gericht. Und in keinem dieser Fälle wurde ein Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot festgestellt.

Schweiz hat kein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz

Anders als die Europäische Union verfügt die Schweiz nicht über ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz. Experten wie Tarek Naguib plädieren deshalb für eine Reform. Der Jurist und Mitgründer der Allianz gegen Racial Profiling sagt: «Wenn im Rahmen eines Antidiskriminierungsgesetzes vom strukturellen Rassismus die Rede ist, müssten Polizeibehörden, Sicherheitspolitiker und die Justiz ernsthaft darüber nachdenken, welche Änderungen im Polizeirecht, in der Aus- und Weiterbildung, in den Dienstanweisungen, bei der Personalrekrutierung, im Beschwerdemanagement und insbesondere im Controlling erforderlich sind.»

Nicht nur der öffentliche, sondern auch der private Sektor ist von strukturellem Rassismus betroffen – vor allem Bereiche des täglichen Lebens wie Arbeit und Wohnen, aber auch Sport und Bildung. Das zeigt die Erfahrung der 37-Jährigen Solothurnerin Arjeta Gashi*. Die zweifache Mutter mit kosovarischen Wurzeln ist hier geboren, hier zur Schule gegangen, hat sich hier zur Pflegerin ausbilden lassen und besitzt den Schweizer Pass.

Auch Berufsleben betroffen

Dennoch gestaltete sich ihr Einstieg ins Berufsleben schwierig: «Meine Schulnoten waren sehr gut, ich sprach ohne Akzent – und erhielt nach der Schulzeit Dutzende Absagen auf meine Bewerbungen.» Gashi hatte einen Verdacht. Sie bewarb sich für eine Stelle, für die sie bereits eine Absage erhalten hatte, abermals. Diesmal aber unter falschem Namen: Maja Hütter. Prompt wurde sie zum Gespräch eingeladen.

Diskriminierung bei Bewerbungen ist keine Seltenheit. Eine Studie der Universität Neuenburg ergab, dass Menschen ausländischer Herkunft 30 Prozent mehr Bewerbungen einreichen müssen, um zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Zwei Gruppen scheinen besonders betroffen zu sein: Bewerber mit balkanischen und mit afrikanischen Nachnamen.

Insbesondere im Bildungsbereich häufen sich die Meldungen beim Beratungsnetz für Rassismusopfer. Gina Vega hält fest: «Die Schule ist der Ort par excellence, an dem Rassismus und Diskriminierung bekämpft werden müssen.» Es sei wichtig, «dass die Lehrkräfte dafür ausgebildet werden, Diskriminierung und rassistisches Mobbing zu erkennen, und das nötige Rüstzeug erhalten, um auf diskriminierende Situationen zu reagieren und sie zu bewältigen».

Problematische Lehrmittel

Das Problem: Oft fehlt es in den Bildungsinstitutionen an einem Konzept, wie mit Ausgrenzung und Rassismus umgegangen werden soll. Das beginnt bereits bei Lehrmitteln, wo rassistische Stereotypisierung noch bis heute betrieben wird.

Simone Marti, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Bern weist in diesem Zusammenhang darauf hin: «Seit Jahrzehnten gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihrer Hautfarbe, einer vermeintlichen Religionszugehörigkeit oder Migrationsgeschichte im Schweizer Schulsystem institutionell diskriminiert und nicht nur nach ihrer Leistung bewertet werden.»

Gemäss dem Integrationsindikator des Bundesamts für Statistik (BFS) verlassen signifikant mehr junge Menschen mit Migrationshintergrund die Schule frühzeitig oder absolvieren höchstens die obligatorische Schule. Und: Ausländische Schülerinnen besuchen doppelt so häufig Übergangsausbildungen wie ihre Schweizer Kollegen. Mit ein Grund dafür sei systematischer Rassismus. Immerhin gehört am Institut Primarstufe der PH Bern diskriminierungskritische Lehre unterdessen zum Studium. Ein Anfang.

Gibt es Lösungen?

Wie aber lässt ich das Problem lösen? Pädagogin Marti erklärt: Rassismus lasse sich nur durch die Transformation bestehender Machtverhältnisse verändern und minimieren. «Dabei verlieren bestimmte Gruppen auch an Dominanz, sie müssen Gewohnheiten und Strukturen ändern, Platz schaffen, Selbstverständlichkeiten abgeben und an den eigenen Haltungen arbeiten.»

So etwas geschieht aber nicht nebenbei, am wenigsten dann, wenn Gesellschaft und Politik den Rassismus weiterhin als Randphänomen betrachten.

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