Martin Hartmann (53) ist Fachmann für eines der prägendsten Themen unserer Tage: Vertrauen. Hartmann hat dazu kurz vor Beginn der Pandemie ein preisgekröntes Buch geschrieben. Wir treffen ihn in der Lobby eines hübschen Hotels direkt an der Reuss in Luzern. Hartmann ist Professor für praktische Philosophie. Mitten im Gespräch über das gestörte Vertrauensverhältnis zwischen Liebespaaren, zwischen Politik und Bürgern beginnt ein Hotelmitarbeiter, mit einem Kanister Brennflüssigkeit am künstlichen Cheminée zu hantieren. Vertrauen kann ein abstraktes Thema sein – aber oft ist es eben auch ganz konkret.
Ist Corona auch eine Krise des Vertrauens?
Martin Hartmann: Für jene, die dem Staat eh schon nicht trauten, ja. Covid ist ein Booster fürs Misstrauen.
Das ist in der Schweiz eine Minderheit.
Ja, die Mehrheit vertraut in ihrer Grundhaltung den Institutionen des Bundes. Sie sind aber verwirrt durch die Informationspolitik – und dadurch gerät auch ihr Vertrauen ins Wanken. Ich kann es Ihnen an einem Beispiel erklären, das nichts mit Covid zu tun hat.
Martin Hartmann (53), geboren in Hamburg, ist seit 2011 Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Uni Luzern. Sein Buch «Vertrauen: Die unsichtbare Macht» (S. Fischer) wurde in Österreich als Wissenschaftsbuch des Jahres 2021 prämiert. Hartmann ist Vater von zwei Töchtern.
Martin Hartmann (53), geboren in Hamburg, ist seit 2011 Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Uni Luzern. Sein Buch «Vertrauen: Die unsichtbare Macht» (S. Fischer) wurde in Österreich als Wissenschaftsbuch des Jahres 2021 prämiert. Hartmann ist Vater von zwei Töchtern.
Gern.
Ich bin grundsätzlich zufrieden mit den SBB – viel zufriedener als mit der Deutschen Bahn. Aber wenn es mal eine Verspätung gibt, dann finde ich die Durchsagen oft eher verwirrend als hilfreich und ich hab auch schon erlebt, dass sie tatsächlich in die Irre geführt haben. Deshalb finde ich die SBB zwar insgesamt verlässlich, traue ihrer Krisenkommunikation aber nicht mehr recht über den Weg.
Was heisst das in Bezug auf die Pandemie?
Eine schlechte Informationspolitik kann ein an sich stabiles Vertrauen gefährden. Erst hat man gesagt: boostern, sechs Monate nach der Erstimpfung. Jetzt sind es vier Monate. War sechs Monate also falsch? Da denken sich die Bürger doch: Auf welcher Basis habt ihr denn die erste Entscheidung getroffen?
Darf die Politik nie ihre Meinung ändern?
Doch, aber sie muss sagen, weshalb – und das tut sie auch in der Schweiz zu wenig. Als Bürger müssen wir im Gegenzug lernen, Politikern Fehler zuzugestehen.
Ich hab heute Morgen die Zugverbindung nochmals überprüft, obwohl ich fast nie schlechte Erfahrungen mit den SBB mache. Wahrscheinlich, weil ich viel über schwindende Kundenzufriedenheit und Verspätungen lese. Ist das Vertrauensklima wichtiger als persönliche Erfahrungen?
Ja, oft ist das so. Wenn wir ehrlich sind, fehlt uns allein ja meist die Expertise, um zu überprüfen, ob eine Institution wie die SBB oder das BAG vertrauenswürdig ist oder nicht. Unser soziales Umfeld kann uns bei dieser Einschätzung helfen. Das ist im Normalfall kein Problem.
Aber?
In einer Kultur des Misstrauens ist es schwierig, an seiner auf Erfahrung basierenden Meinung festzuhalten. Das zeigen alle Experimente. Deshalb halten manche Impfungen für gefährlich, obwohl sie selbst nie schlechte Erfahrungen damit gemacht haben – einfach, weil es rund um sie ständig wiederholt wird.
In der Schweiz wurde dieses Jahr viel über die gespaltene Gesellschaft gesprochen …
Ich fand und finde das übertrieben. Ungeimpfte und Geimpfte haben immer noch viele Gemeinsamkeiten.
Wirklich?
Ich war vor einigen Wochen in Hamburg, da war eine grosse Anti-Corona-Massnahmen-Demo. Ich hab mir das angeschaut, die Plakate gelesen. Da war ein breites Spektrum der Bevölkerung anwesend. Ich vermute, bei vielen Themen wäre ich mit den meisten von ihnen wohl gleicher Meinung gewesen: zum Beispiel beim Klimawandel.
Wie bitte?
Ich will nichts beschönigen, natürlich gibt es Menschen, die sich in ihrer Radikalität abgekoppelt haben – mit denen kein Gespräch mehr möglich ist. Auch in der Schweiz. Aber die impfskeptischen Menschen, die ich persönlich kenne, sind nicht in allen Punkten radikal. Ich finde ihre Meinung falsch, und es enttäuscht mich, dass sie die Wissenschaft missverstehen. Doch das Schlimmste, was wir tun können, ist nicht mehr miteinander zu reden.
Das sagt sich leicht. Viele Menschen haben gerade über die Festtage festgestellt, wie Covid Familien entzweit.
Es ist wahnsinnig schwer, das Gespräch aufrechtzuhalten. Denn es geht in dieser Krise um sehr viel: darum, wer welche Lokale besuchen darf. Ob mir jemand etwas spritzen darf oder nicht. Aber ich glaube, dass die Gräben noch nicht alle Themenbereiche umfassen.
Wie schafft man es, in einer wegen Covid zerstrittenen Familie wieder zusammenzukommen?
Im Privaten würd ich erst einmal versuchen, die Gemeinsamkeiten zu suchen. Was teilt man, was verbindet einen? Dann merken alle hoffentlich auch, dass es auf beiden Seiten Unsicherheiten gibt.
Was meinen Sie damit?
Ich kann zum Beispiel gut nachvollziehen, dass manche zweifeln, ob sie ihre 5-jährigen Kinder impfen lassen wollen. Das ist völlig legitim, hier darf man nicht verurteilen, sondern muss erklären.
Aber es passiert doch gerade das Gegenteil: Beim Thema Covid scheinen alle alles zu wissen.
Genau, wir tun uns leider schwer, Unsicherheit einzugestehen. Wir sollten uns da die Wissenschaft zum Vorbild nehmen, wo Erkenntnisse immer nur so lange gelten, bis sie widerlegt werden.
Wieso fällt es uns schwer, Unsicherheiten zuzugeben?
Wir reden immer über Vertrauen und wie wichtig es ist. Aber gleichzeitig haben wir eben auch Angst davor, weil es uns verletzlich macht. Eventuell tun wir darum immer so, als wüssten wir alles.
Die Fallzahlen explodieren. Die Schweizer Politik setzte in dieser Pandemie immer stark auf Eigenverantwortung. Hat sie den Bürgern zu sehr vertraut?
Ich kann verstehen, dass die Schweiz diesen Weg gegangen ist. Und ich würde auch nicht behaupten, dass er total gescheitert ist. Man darf nicht vergessen, dass auch in der Schweiz eine Mehrheit der Menschen geimpft ist. Wenn sich die Lage weiter zuspitzt, wird man aber reagieren müssen.
Immer noch eine tiefe Impfquote haben die Jungen. Wieso?
Die Jugendlichen haben die Massnahmen anfangs solidarisch mitgetragen – aber waren enttäuscht von dem, was zurückkam.
Können Sie konkreter werden?
Die 21- bis 25-Jährigen fühlen sich am stärksten benachteiligt durch die Krise, das zeigen auch Zahlen des BAG. Das ist leider immer noch nicht richtig in der Politik angekommen. Die Alten haben einfach eine bessere Lobby. Für mich ist klar: Wir haben in der Pandemie bisher die Effekte auf die Jugendlichen zu wenig beachtet. Und nun sind die Jugendpsychiatrien überlastet.
In ihrem Buch «Vertrauen» beschreiben Sie auch, wie junge Erwachsene zunehmend Probleme haben, ernsthafte Beziehungen zu führen – also zu vertrauen.
Bei vielen Jugendlichen steht jede Beziehung unter der Möglichkeit, dass man sich was Neues suchen kann, wenns nicht klappt. Das ist ein Effekt von Dating-Apps wie Tinder. Dort wartet immer eine mögliche Alternative.
Und das beeinflusst die Art, wie Junge Beziehungen führen?
Es verändert ihre Einstellung zu Beziehungen. Es fehlt der Wille zur Verbindlichkeit. Die Soziologin Eva Illouz bestätigt in ihren Studien, dass nicht nur die jungen Leute schneller abspringen, wenn es ernster wird.
Geht Liebe ohne Vertrauen?
Nein, Vertrauen definiert die Liebe.
Wieso soll man sich der Möglichkeit ausliefern, verletzt zu werden?
Weil man sehr viel gewinnen kann – und zwar nicht im ökonomischen Sinn. Stabilität, ein Zuhause, körperliche Intimität. Gerade Sex braucht übrigens sehr viel Vertrauen. Aber der wohl innerste Kern des Vertrauens ist die Freiheit.
Das müssen Sie erklären.
Freiheit ist nicht einfach, zu tun und zu lassen, was man will. Freiheit ist eine Art Geschenk, das andere uns und wir anderen einräumen – wir verzichten auf Kontrolle und Beobachtung. Nicht weil man nicht kann, sondern weil man nicht will. Daran sollten wir auch in dieser Covid-Krise denken: Jede Freiheit wird immer durch andere eingeräumt – und nicht einfach individuell genommen.
Gibt es eine Gesellschaft ohne Vertrauen?
Mein Vater floh aus der DDR. Das war zumindest ein System mit wenig Vertrauen.
Also können Gesellschaften ohne Vertrauen nicht überleben?
Überleben vielleicht schon, aber es sind keine guten Gesellschaften.
Martin Hartmann, «Vertrauen – Die unsichtbare Macht», S.Fischer