Was haben Sie für ein Gefühl, wenn Sie über die Pandemie nachdenken?
Joël Cachelin: Ich bin genervt.
Wieso?
Viele wollen möglichst schnell in die alte Normalität zurück. Das erlaubt es dem Virus, immer wieder aufzuflackern.
Ist das nicht verständlich?
Verständlich schon. Aber wir vergessen, dass die alte Normalität uns diese Pandemie gebracht hat – und der Grund ist, wieso wir nicht rauskommen. Wir müssten uns fragen, wieso es Covid-19 gibt – und wieso es nicht das letzte Virus seiner Art sein wird.
Und wie lautet die Antwort?
Wer den wissenschaftlichen Thesen folgt, vermutet den Anfang von Covid-19 bei Fledermäusen. Pandemien lauern an der Schnittstelle von Mensch und Tier. Wenn wir Wildtiere jagen oder Urwälder abholzen, kommt es zu unnötigen Kontakten zwischen Mensch und Tier. Es begegnen sich Lebewesen, die eigentlich nicht aufeinandertreffen sollten.
Also reicht es, Urwälder in Ruhe zu lassen?
Nein, die Art und Weise, wie wir in Europa Landwirtschaft betreiben, ist genauso gefährlich. Wir haben auch in der Schweiz riesige Geflügelfarmen, in denen viel zu viele Hühner auf zu engem Raum leben. Das sind Brutherde für neue Krankheiten. Wir müssen das Zusammenleben zwischen Mensch, Tier und Natur grundlegend ändern.
Wieso verweigern wir uns diesen grundsätzlichen Fragen?
Weil die Antworten unbequem und politisch heikel sind. Sie verlangen von uns langfristige Verhaltensveränderung und echte Innovation.
Wenn wir über Innovation im Kampf gegen Covid reden, dann meinen wir vor allem eine technologische Lösung und die Digitalisierung. Ist das denn falsch?
Nein. Die Digitalisierung könnte uns schon helfen. Die digitale Rückständigkeit beim Impfpass, im Datenmanagement oder bei den Sozialversicherungen ist ärgerlich. Da braucht es Fortschritte.
Aber das alleine reicht nicht?
Zu lange haben wir uns nur an Tech-Firmen orientiert, um über Innovation zu sprechen. Das hat dazu geführt, dass wir beim Thema Innovation sofort an die digitale Transformation denken. Damit verdient das Silicon Valley Geld. Aber vieles ist nur Scheininnovation, ohne radikale Neuerung, ohne Nutzen fürs Kollektiv. Vergleichen Sie mal das erste mit dem aktuellen iPhone. Oder die erste Version von Instagram mit der von heute.
Warum?
Es gibt keinen Unterschied. Ausser, dass bei Instagram nicht mehr jedes zehnte, sondern jedes vierte Foto Werbung ist. Die Pandemie hat unseren Alltag noch mehr in die digitale Welt verlagert. Aber was tun wir da? Wir scrollen uns dumm und leben in Filterblasen. Statt das zu hinterfragen, jubeln wir als Gesellschaft die Digitalisierung zum Erlöser empor. Interessant ist die Covid-Tracing-App. Die hatte wenig Erfolg.
Wieso?
Weil sie technisch nicht ausgereift war – aber viel wichtiger noch: weil die Bürger der App nicht trauen und die Nutzerzahlen deshalb katastrophal tief sind. Daran sind auch die Tech-Konzerne schuld. Sie gingen so schlampig mit unseren Daten um, dass wir nun selbst einem Hilfsmittel misstrauen, das nur einen Bruchteil der Daten aller anderen Apps absaugt.
Haben wir ein Innovationsproblem?
Ja. Wir denken das Neue zu klein und zu einseitig. Wir wagen es nicht, gross zu denken. Und unser Verständnis von Innovation basiert auf der Logik des Kalten Krieges.
Wie meinen Sie das?
Im Kalten Krieg sollte Innovation dazu dienen, den Feind zu besiegen. Man strebte nach schnellem Wachstum und wollte die Natur kontrollieren. In diesem Denken steht der Mensch im Zentrum. Es geht um Kontrolle und nicht um Kooperation.
Weshalb ist das ein Problem?
Diese Logik macht die Welt kaputt! Das sehen wir in der Pandemie, beim Klimawandel, den Antibiotika-Resistenzen.
Heisst das, wir müssen den Kapitalismus abschaffen?
Nein, umbauen. Und wir können ihn für die Transformation einspannen. Wir verpassen gerade die Chance, positive Zukunftsszenarien zu entwickeln. Ich verstehe nicht, wieso Wirtschaftsbosse und -politiker nicht die Megamärkte der Zukunft studieren.
Welche denn?
Zum Beispiel vegane Ernährung oder neue Formen der Mobilität. Das Flugzeug ist ein altes Verkehrsmittel. In Euroasien fehlt ein Hochgeschwindigkeitsnetz für Züge. Oder ein Gesundheitssystem, das auf Daten basiert.
Wieso sieht die Wirtschaft diese Chancen zu wenig?
Auch weil Gremien, die über Geldflüsse entscheiden, wenig divers sind. Sie bestehen aus weissen Männern über 55, die Betriebswirtschaft, Recht oder Ingenieurwesen studiert haben – und rechts denken. Diese Investorengruppen und Verwaltungsräte sind weit entfernt von einer Zauberformel. Sie decken nur einen kleinen Teil von uns ab und sehen dadurch wenig Risiken, Chancen und Perspektiven der Zukunft.
Wir streiten derweil lieber über die Öffnung von Skiliften und Terrassen.
Ja, und schaffen es nicht einmal, eine Maske richtig zu tragen. Bei vielen schaut oben immer noch die Nase raus.
Covid-19 ist nicht die erste Pandemie. Hat die Menschheit früher fundamentalere Lehren aus Seuchen gezogen?
Sehr, sehr vereinfacht kann man sagen: In der Pest lernte die Menschheit, Kranke von Gesunden zu trennen, in der Cholera, das Wasser sauber zu halten – und bei HIV, anders über Sex zu sprechen. Auch Covid-19 könnte Innovationen hinterlassen: Schnelltests, digitales Contact Tracing, neue Formen des Impfens.
Bei der HIV-Pandemie war die Schweiz ja durchaus innovativ. Können wir daraus etwas lernen?
Die Schweiz war in der Kommunikation revolutionär. Bei der Stop-Aids-Kampagne kooperierte man mit den stark betroffenen Homosexuellen, was ein Tabubruch war. Dazu kam der Mut, eine fundamental neue Drogenpolitik zu denken. Man nahm sich die Freiheit, im Kleinen zu experimentieren und zu schauen, ob es funktioniert.
Indem man saubere Spritzen abgab und Süchtigen Zugang zu Methadon gab.
Die Politik ging damit ein enormes Risiko ein!
Ohne Risiko keine Innovation. Das sagt jedes Management-Buch. Die Schweiz hätte mit ihren überschaubaren Kantonen eigentlich gute Voraussetzungen, auch in dieser Pandemie ein Labor für die Welt zu sein.
Im Moment diskutiert die Schweiz über Impfprivilegien. Gab es in der Geschichte schon mal so etwas?
Privilegien gab es in Pandemien immer. Früher waren sie einkommensabhängig. Während der Pest verliessen Reiche die Stadt und flüchteten in ihre Villen aufs Land.
Das tun sie heute auch. Homeoffice in Ferienregionen boomte im Winter.
Ja, und Studien zeigen, dass mehr Arme an Covid sterben als Reiche. Aber wenn man die globale Perspektive einbezieht, ist die Diskussion über Impfprivilegien so oder so absurd.
Wieso?
Man rechnet derzeit damit, dass Menschen in ärmeren Ländern in vier bis fünf Jahren geimpft sind. Indien stellt als Fabrik der Welt Impfstoffe her, exportierte diese aber bis vor einiger Zeit fast zu hundert Prozent. Es erscheint mir komisch, darüber zu diskutieren, ob es richtig ist, bei uns Ungeimpften Nachteile aufzuerlegen, wenn es global Menschen gibt, die gerne geimpft wären, aber keinen Zugang haben.
Lassen Sie uns noch in die Zukunft schauen. Wo gibt es am meisten Aufholbedarf?
In unserer Denkweise. Wir müssen lernen, in Netzwerken zu denken.
Was heisst das?
Unsere Welt ist so stark vernetzt, sei es über Handys, mit denen wir alle miteinander in Kontakt stehen, oder durch Verkehrsmittel, mit denen wir superschnell an jeden Punkt der Erde kommen. Alles hängt zusammen und beeinflusst einander gegenseitig. Durch diese Netzwerke kann man eben nicht nur erklären, wie sich ein Virus, sondern auch wie sich Lügen, das Interesse für eine bestimmte Aktie oder Depressionen ausbreiten.
Erklären Sie das Anhand von Depressionen!
Es ist sehr viel einfacher, einer einzelnen Person eine Pille zu verschreiben, als festzustellen, dass Depressionen damit zu tun haben, wie einsam Menschen sind, wie gut sie sich gesehen und sozial integriert fühlen. Neue Bildungswege, Wohnformen und einen offeneren Umgang mit dem Unbekannten zu etablieren, ist komplex. Die Veränderung wirkt tiefgreifend – und provoziert Widerstand der heutigen Gewinner des Systems.
Wieso?
Weil sie nicht unbedingt die Gewinner der Zukunft sein werden.
Joël Cachelin (39) hat an der Universität St. Gallen Betriebswirtschaft studiert und doktorierte zur Zukunft des Managements. 2009 gründete er seinen eigenen Think Tank Wissensfabrik. Heute berät er verschiedene Firmen und Institutionen in Zukunfts- und Digitalisierungsfragen. Seit zwei Jahren studiert er zusätzlich Geschichte an der Uni Luzern, um, wie er sagt, «die Zukunft aus Sicht der Vergangenheit kennenzulernen». Cachelin ist Autor mehrerer Sachbücher. Sein neustes heisst «Antikörper», ist im Stämpfli Verlag erschienen und setzt sich mit der Zukunft der Innovation im Zeitalter von Pandemien auseinander.
Joël Cachelin (39) hat an der Universität St. Gallen Betriebswirtschaft studiert und doktorierte zur Zukunft des Managements. 2009 gründete er seinen eigenen Think Tank Wissensfabrik. Heute berät er verschiedene Firmen und Institutionen in Zukunfts- und Digitalisierungsfragen. Seit zwei Jahren studiert er zusätzlich Geschichte an der Uni Luzern, um, wie er sagt, «die Zukunft aus Sicht der Vergangenheit kennenzulernen». Cachelin ist Autor mehrerer Sachbücher. Sein neustes heisst «Antikörper», ist im Stämpfli Verlag erschienen und setzt sich mit der Zukunft der Innovation im Zeitalter von Pandemien auseinander.