«Wir sind nicht krisenerprobt»
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Philosoph Ludwig Hasler:«Wir sind nicht krisenerprobt»

Philosoph Ludwig Hasler (76) über die Trauer um Alte
«Jeder Tote sei einer zu viel. Stimmt nicht!»

Zum Jahresende trafen wir den Philosophen und Physiker Ludwig Hasler (76). Hasler erklärt im Gespräch, dass unsere Trauer um die Alten scheinheilig ist, warum wir Roboter nicht zu fürchten brauchen – und wieso er nach Corona nicht zurück zur Normalität will.
Publiziert: 31.12.2020 um 09:55 Uhr
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Aktualisiert: 30.04.2021 um 15:21 Uhr
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Ludwig Hasler hofft, dass wir durch die Pandemie unser Zuhause wieder neu entdecken.
Foto: Philippe Rossier
Interview: Benno Tuschschmid

Ludwig Haslers Frau schaut von der Gartenarbeit auf und weist den Weg Richtung Haustüre. Dort steht der Gastgeber bereits im Eingang dieses stattlichen Hauses hoch über dem Zürichsee. Er bittet ins Esszimmer. Man sieht es Hasler nicht mehr an, dass er sich am Vormittag ebenfalls im Garten verausgabt hat. Und vor allem hört man es ihm nicht an: Hasler formuliert seine Gedanken präzise und elegant. Doch der Inhalt ist manchmal ungemütlich.

BLICK: Was ist Ihre erste Erinnerung an Silvester?
Ludwig Hasler:
Wir Kinder standen immer möglichst früh auf, zogen mit Pfannendeckeln durchs Haus und skandierten: «Silveschter stand uf, streck d Bei zum Bett us.» So bestraften wir die Schlafmützen. Das war unsere Tradition.

Werden Traditionen in Zeiten wie diesen wichtiger?
Ich glaube schon. Aber nicht allein wegen der Pandemie, sondern weil sich die Schatten der Globalisierung und Internationalisierung zeigen. Viele Menschen sind nirgends mehr richtig daheim.

Und das ändert sich gerade?
Das ist das Interessante an dieser Pandemie. Bis jetzt waren unsere Sehnsuchtsorte über den Planeten verstreut: Städtetrip nach New York, Safari in Botswana. Und plötzlich ist unsere Bewegungsfreiheit eingeschränkt, und wir beginnen, unsere Nachbarn kennenzulernen. Das erinnert mich an die Weihnachtsgeschichte.

Inwiefern?
Jesus kommt in einem ärmlichen Stall zur Welt. Aber in bildlichen Darstellungen sieht der Geburtsort immer wunderschön und glänzend aus, obwohl es nur ein Verschlag ist. Was lernen wir daraus? Wir haben es selbst in der Hand, uns ein geselliges, gemütliches und interessantes Zuhause zu schaffen. Auch wir sollten unsere Ställe zum Glänzen bringen.

Droht die Welt so nicht klein und eng zu werden?
Massentourismus hat wenig mit geistiger Offenheit zu tun. Im 19. Jahrhundert ging man als Tourist auf Expedition, um Unbekanntes zu erkunden. Das ist schon lange nicht mehr der Fall. Menschen in meinem Umfeld, die viele Bücher lesen, sind oft weltoffener als jene, die dauernd umherziehen. Wir sollten den Ort, wo wir leben, nicht bloss als Basislager betrachten – auch nach der Pandemie nicht. Abhauen ist keine Kunst, sondern nur eine Finanzfrage.

Was hat die Pandemie sonst noch in uns verändert?
Vor Corona waren die meisten überzeugt, dass es nur noch ein paar Schritte braucht, bis wir Menschen auf dem obersten Gipfel der Evolution angelangt sind: Gesundheit für alle, garantierter Wohlstand und ein gebändigtes Schicksal. Jetzt müssen wir uns eingestehen: Wir haben gar nichts im Griff.

Bringt das die Menschen wieder näher zu Gott?
Vielleicht nicht direkt, aber näher zu dem, was die Religion im Kern meint.

Und das wäre?
Die Welt ist viel komplexer, als wir zuletzt annahmen. Durch Corona erwacht wieder eine Ahnung, dass im Leben und in der Welt vieles nicht sichtbar ist. Die Religion gibt dem Unsichtbaren einen Ort.

Sie wünschen sich also letztlich mehr Demut.
Wir müssen wegkommen von diesem perversen Glauben, das Wesentliche zu wissen. Und zwar im Grossen wie im Kleinen. Wir leben in einer Galaxie mit 100 Milliarden Sternen. Das ist alles unvorstellbar. Jetzt kann man natürlich sagen: Vor 13,8 Milliarden Jahren ist der Urknall passiert – und seither stieben diese Brocken von Materie auseinander. Aber jeder, der schlau ist, fragt sich: Wer hat geknallt? Und wozu?

Wir haben uns als Gesellschaft nicht nur von der Religion verabschiedet, sondern auch vom Tod. Jetzt klagen plötzlich viele Menschen an, dass wir die Corona-Toten vergessen. Es gibt Mahnwachen und Kerzen auf öffentlichen Plätzen.
Ja. Diese Aktionen sind sehr doppeldeutig. Einerseits sind sie eine Verneigung vor der Endlichkeit, aber andererseits sind sie auch eine Rebellion gegen den Tod.

Wie meinen Sie das?
Ein häufiger Satz an den vielen Pressekonferenzen war: Jeder Tote ist einer zu viel. Aber das stimmt nicht.

Wir sollen das Sterben einfach akzeptieren?
Sigmund Freud hat schon gesagt: Niemand glaubt im Ernst an seinen eigenen Tod. Ein wahrer Satz. Es sterben immer die anderen. Vor Corona wurde das verstärkt dadurch, dass wir immer länger leben. Die ersten Menschen, die 150 werden, sind ja schon geboren. Wir hatten die Endlichkeit nicht mehr im Blick. Philosophisch gesehen ist das töricht, weil der Tod immer kommt und wir deshalb Freundschaft mit ihm schliessen sollten. Denn nur so sind wir lebendig.

Das verstehe ich nicht.
Es gibt ein Buch von Simone de Beauvoir, in dem der Protagonist unsterblich ist. Und was passiert mit ihm? Gar nichts. Er verblödet, verliebt sich nicht mehr, hat keine Freude und keine Trauer.

Dann müssen Sie ja sehr zufrieden sein mit der zögerlichen Corona-Politik in der Schweiz!
(Lacht) Nein! Ich beneide niemanden, der entscheiden muss. Es ist ganz klar: Für uns Alte ist Corona ein schwieriges Kapitel. Aber ich halte es auch für falsch zu sagen, dass wir alles dafür tun müssen, damit keine Alten früher sterben.

Wieso?
Man kann das gesellschaftliche Leben nicht komplett sistieren, um verletzliche Gruppen abzusichern. Über 50 Prozent der Toten sterben in den Pflegeheimen, wo die durchschnittliche Lebenszeit keine zwei Jahre beträgt.

Keine zwei Jahre?
Die meisten Leute wissen gar nicht mehr, wer die Alten sind und wie sie leben. In den Pflegeheimen durften sie während der ersten Welle keine Besucher mehr empfangen. Ich habe mit Pflegerinnen gesprochen, die mir sagten, dass mehr als die Hälfte gar nie Besuch erhält. Corona hin oder her. Wir reden uns das Ganze schön und gefallen uns darin, sentimental zu werden.

Aber man kann doch nicht einfach mit der Schulter zucken, wenn Tausende sterben!
Ich sehe viele junge Menschen, die überhaupt nicht gleichgültig sind. Gerade in der ersten Welle war die Solidarität enorm. Obwohl wir Alten ja eigentlich die privilegierte Generation sind.

Wieso privilegierte Generation?
Momentan wird die Wirtschaft mit Kurzarbeit vom Staat gestützt, aber die Realität wird brutal werden: Bei den 30- bis 50-Jährigen werden ganz viele Jobs wegfallen. Aber am schlimmsten trifft es die Jungen.

Weshalb?
Die Jungen können nach ihrem Studium oder der Lehre derzeit kaum ins Berufsleben einsteigen. Da geht es um Lebenschancen. Es gibt nicht viel Schlimmeres, als Lebenschancen von jungen Menschen zu zerstören.

Sie denken viel über die Zukunft der Arbeit nach. Wie bewerten Sie diese erste kollektive Erfahrung mit Homeoffice?
Homeoffice ist etwas Zwiespältiges. Es gibt positive Seiten: Die Produktivität stieg ja in den letzten Monaten um 14 Prozent. Das überrascht mich nicht, zu Hause arbeiten ist effizient. Aber das Wesentliche fehlt: Animation, Motivation, Inspiration, Innovation, Kreativität. Wir brauchen jemanden, der uns anerkennt oder beschimpft. Immanuel Kant hat gesagt: «Die Taube in ihrem Flug kommt leicht auf den Gedanken, ohne Luftwiderstand flöge sie noch viel leichter.»

In Wirklichkeit würde sie abstürzen.
Genau. Im Homeschooling hat man ja auch gemerkt, dass ein grosser Teil der Schüler nichts gelernt hat. Wieso? Weil die Augen der Lehrerin fehlten.

Und dann gibt es einen Teil der Bevölkerung, der gar nicht ins Homeoffice kann.
Ich glaube, dass sich diese Menschen am wenigsten Sorgen machen müssen. Wer heute mit Herz und Hand am Werke ist, der wird nie überflüssig werden. Dazu gehören Pflegerinnen, Ärztinnen, Coiffeusen, Köchinnen, Spengler.

Durch die künstliche Intelligenz werden Zehntausende von Jobs wegfallen!
Ich kenne mich nicht schlecht aus mit Robotern. Ich weiss, dass sie viel können. Aber sie geben auch wahnsinnig viel zu tun. Die künstliche Intelligenz bleibt bis auf absehbare Zeit ziemlich doof.

Können Sie das erklären?
Ein Kind lernt viel besser als die künstliche Intelligenz. Dieser muss man eine Million Hundebilder zeigen, damit sie versteht was ein Hund ist. Dem Kind reicht ein Hund.

Was heisst das nun für die Digitalisierung?
Die Corona-Erfahrung ist fruchtbar: Wir wissen jetzt, was Digitalisierung kann. In Japan gibt es bereits Pflegeroboter. Die werden irgendwann Protokolle schreiben können und fehlerlos Patienten überwachen. Wichtig ist, wie wir darauf reagieren. Nämlich nicht, indem wir das Arbeitspensum der Pflegerin um 40 Prozent kürzen, sondern indem wir ihnen Zeit für das geben, was kein Roboter je können wird: Zuwendung, Aufmerksamkeit, Ermunterung. Das ist für die Gesundung entscheidend. Der Mensch ist keine biochemische Maschine.

Was ist der Mensch?
Ein Rätsel. Rein körperlich bestehen wir zu 90 Prozent aus Sternenstaub. Unsere Wasserstoffatome entstanden kurz nach dem Urknall. Wir sind gegen zwölf Milliarden Jahre alt – und mir sieht man das auch ein wenig an (lacht).

Was erwarten Sie vom Jahr 2021?
Ich erwarte, dass die Impfung die Lage beruhigt. Meine Hoffnung ist, dass das Leben zurückkehrt, aber sich nicht alles normalisiert. Dieser Hunger nach der sogenannten Normalität ist mir etwas zu stark. Das würde ja bedeuten: Weiter so wie zuvor. Da würden wir einen grossen Fehler begehen. Es wäre schwach, wenn wir nichts daraus lernen würden. Wir können unseren Planeten nicht retten, ohne unsere Lebensart zu ändern. Das wird die Herausforderung der nächsten Jahre.

Wie schaffen wir das?
Wir müssen realisieren, dass im sogenannten Verzicht ganz viel Lebensgewinn steckt. Ich hoffe, dass wir während der Pandemie etwas davon entdeckt haben.

Altersweiser Denker

Ludwig Hasler ist 1944 in Beromünster LU geboren. Der Vater war Schreiner, die Mutter kümmerte sich um acht Kinder. Hasler studierte und promovierte, wurde später Journalist, lehrte an der Universität St. Gallen und sass in den Neunzigerjahren in der «Weltwoche»-Chefredaktion. Der Philosoph und Physiker füllt mit seinen Vorträgen normalerweise Säle. Sein Plädoyer für ein tätiges Altern hat er im Buch «Für ein Alter, das noch was vorhat» (Rüffer & Rub, 2019) niedergeschrieben. Das Buch ist ein Bestseller. Ludwig Hasler lebt mit seiner Frau in der Nähe von Zürich.

Ludwig Hasler ist 1944 in Beromünster LU geboren. Der Vater war Schreiner, die Mutter kümmerte sich um acht Kinder. Hasler studierte und promovierte, wurde später Journalist, lehrte an der Universität St. Gallen und sass in den Neunzigerjahren in der «Weltwoche»-Chefredaktion. Der Philosoph und Physiker füllt mit seinen Vorträgen normalerweise Säle. Sein Plädoyer für ein tätiges Altern hat er im Buch «Für ein Alter, das noch was vorhat» (Rüffer & Rub, 2019) niedergeschrieben. Das Buch ist ein Bestseller. Ludwig Hasler lebt mit seiner Frau in der Nähe von Zürich.

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