Stadtforscher Christian Schmid über Neubau-Viertel
«Viele angeblich urbane Orte sind keimfrei»

Er hat die Zürcher Jugendunruhen als Student miterlebt, spricht heute als ETH-Professor Klartext, wenn es um schlechte Architektur geht: Der Stadtforscher Christian Schmid (62) über die Chancen von Corona, abstossende Stadtquartiere und abgehängte Bergtäler.
Publiziert: 07.12.2020 um 17:37 Uhr
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Aktualisiert: 30.12.2020 um 21:21 Uhr
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In der Zürcher Europaallee: Der Stadtforscher Christian Schmid (62).
Foto: Philippe Rossier
Interview: Rebecca Wyss

Gewöhnlich treffen wir uns mit unseren Interviewpartnern in einem Büro oder einem Café. Weil aber das Coronavirus wütet und es um die Stadt geht, setzen wir uns mit Christian Schmid in der Europaallee auf eine Bank. Die Überbauung beim Zürcher Hauptbahnhof mit Läden, Wohnblöcken und Restaurants gilt als urbanes Vorzeigeprojekt. Schmid rümpft darob die Nase.

Herr Schmid, woran denken Sie, wenn Sie durch eine Stadt spazieren?
Christian Schmid: Als Stadtforscher versuche ich, die Stimmung wahrzunehmen. Welche Menschen hat es auf der Strasse, wie geht man durch eine Stadt, wie schnell. Kein Witz: In Zürich geht man schneller als in Bern. Ich arbeitete vier Jahre lang in Bern und musste mir immer sagen: Langsam, Christian, du bist nicht in Zürich.

Wie beeinflusst die Corona-Pandemie unsere Räume?
Sie werden aufgewertet. Im Frühling hat man auf einmal die Nachbarschaft neu entdeckt, und im Sommer verbrachten viele ihre Ferien in der Schweiz. Unser Land weist ja mit den Seen, Wäldern und Bergen unglaublich viel Landschaft auf. In vielen Ländern hat die Urbanisierung die Landschaften zerstört. In der Schweiz gibt es noch stille Zonen, stadtnahe Gebiete wie das Appenzell, das Entlebuch oder das Waadtländer Gros-de-Vaud. Diese haben wir nun wiederentdeckt.

Experten schätzen, dass es wegen der Homeoffice-Arbeit künftig 20 Prozent weniger Büroflächen braucht.
Ich bin skeptisch. Trotz Homeoffice-Empfehlung des Bundesrats fahren noch immer viele ins Büro. Das zeigen die Messungen der Verkehrsströme.

Könnte Corona nicht trotzdem Spuren in unseren Arbeitsräumen hinterlassen?
Doch. Vielleicht kommen die Arbeitgeber nun auf die Idee, die Bürolandschaften anders zu gestalten.

Inwiefern?
Mit der Erfahrung im Homeoffice merkten viele, dass sie vor allem gerne wegen der Menschen ins Büro gehen. Diese Erkenntnis müsste man nutzen. Es bräuchte mehr gemütliche Räume, die die Menschen dazu anregen, gemeinsam eine Kaffeepause zu machen, zusammenzusitzen, Probleme zu lösen und Ideen auszutauschen.

Der kritische Städter

Wo Christian Schmid (62) hingeht, hinterlässt er Spuren. Während der Zürcher Jugendunruhen kämpfte er erfolgreich gegen die repressive Stadtpolitik – und für die Möglichkeit, sich kreativ zu entfalten. Heute läuft in den Städten dauernd überall etwas. Vor 15 Jahren löste er mit dem Projekt «Die Schweiz – ein städtebauliches Porträt» eine grosse Debatte aus. Zusammen mit Co-Autoren zeigte er zum ersten Mal auf, dass die Schweiz total verstädtert ist – damals ein Bruch mit dem ländlichen Selbstverständnis.
Und dass sie ein riesiges Gebiet mit abgehängten Tälern beherbergt – «alpine Brachen». Christian Schmid ist Professor am Departement Architektur der ETH Zürich.
Er lebt in Zürich.

Philippe Rossier

Wo Christian Schmid (62) hingeht, hinterlässt er Spuren. Während der Zürcher Jugendunruhen kämpfte er erfolgreich gegen die repressive Stadtpolitik – und für die Möglichkeit, sich kreativ zu entfalten. Heute läuft in den Städten dauernd überall etwas. Vor 15 Jahren löste er mit dem Projekt «Die Schweiz – ein städtebauliches Porträt» eine grosse Debatte aus. Zusammen mit Co-Autoren zeigte er zum ersten Mal auf, dass die Schweiz total verstädtert ist – damals ein Bruch mit dem ländlichen Selbstverständnis.
Und dass sie ein riesiges Gebiet mit abgehängten Tälern beherbergt – «alpine Brachen». Christian Schmid ist Professor am Departement Architektur der ETH Zürich.
Er lebt in Zürich.

Wir führen dieses Interview in der neuen Europaallee, gleich beim Zürcher Hauptbahnhof. Offiziell ein urbaner Ort. Trotzdem verweilt kaum jemand hier, warum?
Weil der Ort im wörtlichen Sinne abstossend ist. Fassen Sie mal eine Fassade an – spiegelglatt. Hier graben sich keine Spuren der Zeit ein. Das ist das grosse Problem vieler angeblich urbaner Orte: Sie sind keimfrei wie ein Operationsraum. Wir machten Interviews mit Bewohnern von Neubau-Quartieren in Zürich, die zeigten: Die neue Architektur fühlt sich für sie kalt an. Die Menschen fühlen sich nicht willkommen.

Wir Schweizerinnen und Schweizer mögen es aber doch, wenn alles sauber, aufgeräumt und glatt ist.
Egal wo, Menschen wollen Spuren hinterlassen. In diese Holzbank hier kann man wenigstens noch etwas hineinkratzen. Sonst kann man sich den öffentlichen Raum nicht aneignen, man kann hier nirgends abhängen, sich irgendwo auf einen Rasen oder eine Mauer setzen oder sich in eine Ecke zurückziehen. Die Ladenbesitzer dürfen nicht einmal eine Dekoration anbringen oder ein Firmenschild.

Wieso denn das?
Weil es angeblich die Ästhetik zerstört! Das ist nicht urban.

Was ist urban?
Immobilienfirmen preisen Hochhäuser immer als urban an, weil man durch die grossen Fenster die Lichter der Stadt und das Gleismeer bewundern kann. Urban ist es aber erst, wenn man runtergeht und sich ins Leben stürzt. Urban heisst, dass man Leuten begegnet, die anders sind als ich. Urbanes setzt Austausch voraus. Und das Überraschende.

Der gerade eröffnete Shopping-Komplex The Circle wird als neuer Stadtteil verkauft. Eine Milliarde verbaute man am Flughafen Zürich dafür. Wie beurteilen Sie den Bau?
Bei The Circle gibt es nur einen Eigentümer, der Restaurants, Läden, Fitnesscenter, Konferenzzentrum aufeinander abgestimmt hat. Wie aus einem Guss. An einem solchen Ort absolviert man einen Parcours: Zuerst geht man ins Fitness, dann zum Coiffeur, danach vielleicht noch einen Kaffee trinken. Das macht man ein paarmal, dann hat man’s gesehen. The Circle ist kein interessanter Ort. Kein Ort, der grosse Tech-Firmen wie Google anzieht.

Was fehlt?
Überraschendes! Diversität. Unterschiedliche Eigentümer, die unterschiedliche Entscheidungen treffen. Und Gebäude, die zu verschiedenen Zeiten gebaut und umgebaut wurden. Wie in unseren Altstädten oder in den innerstädtischen Quartieren. Dort ändert sich die Szenerie fast mit jedem Schritt, ein Geruch steigt uns in die Nase, ein Ladenschild fällt uns ins Auge. Es gibt ständig etwas zu entdecken. An solchen Orten will man verweilen.

Sie sagten einmal, dass sich erst durch die Zürcher Jugendunruhen in den 80er-Jahren ein neues Verständnis von Urbanität entwickelt hat. Wie sah Ihr Zürich damals aus?
Ich war Student und lebte im Kreis 5, mitten in Zürich. Auf der Strasse waren ganz unterschiedliche Leute unterwegs, aus allen möglichen Ländern, mit wenig Geld, mit verrückten Ideen, Prostituierte, Aktivisten, Ausgeflippte, Alkoholiker. Es war laut und aufregend und definitiv nicht familienfreundlich.

Das klingt doch spannend. Warum revoltierte die Jugend?
Alles, was Spass machte, war verboten. Am Wochenende lief nichts: keine Partys, keine spannenden Konzerte oder Theater. Wir hörten Punk, konnten aber die Bands nicht live sehen, weil es keine Auftrittsmöglichkeiten für sie gab. Richtige Strassencafés gab es nur zwei: das Gran Café und das Select.

Warum?
Weil die Stadt so restriktiv mit Bewilligungen war. Und ständig wurden Treffpunkte und Restaurants von der Polizei geschlossen, weil dort angeblich Drogen konsumiert wurden. Baden konnte man nur in den öffentlichen Badeanstalten, sonst durfte man am See nicht einmal auf der Wiese sitzen. Überall hatte es diese kleinen Tafeln: «Rasen betreten verboten».

Die Revolte hat diesen Alltag radikal verändert. Heute ist man so frei wie nie, Strassencafés, Partys und Konzerte gehören schweizweit zum urbanen Mainstream. Wer lebt heute in den Kernstädten?
Dort drüben sehen wir den Sitz von Google. Diese Art von Kreativwirtschaft ist enorm gewachsen. Und sie zahlt gut, zieht junge Leute an. So kommen immer mehr Gutverdienende in die Innenstädte, die Bodenpreise steigen, günstige Wohnungen und Geschäftslokale werden rar. Menschen mit tiefen Einkommen werden in die Agglomerationen verdrängt. Heute leben in der Berner Länggasse oder im Zürcher Kreis 5 vor allem Gutsituierte, mit ähnlichen Überzeugungen und ähnlichem Geschmack, die sich das «urbane Leben» noch leisten können.

Vor 15 Jahren gaben Sie und Co-Autoren das Buch «Die Schweiz – Ein städtebauliches Portrait» heraus. Darin sprachen Sie von weiten Gebieten der Schweiz als alpine Brachen, die sich erneuern sollten. Die Bergregionen reagierten heftig auf das Label.
Das war provokativ, ja. Aber ich muss erklären, wie es dazu kam.

Erklären Sie.
Unsere kartografische Analyse hat damals ergeben, dass es in den Alpen ein grosses zusammenhängendes Gebiet gibt, das immer mehr an wirtschaftlicher und sozialer Energie verliert. Es erstreckt sich vom Gotthard ins Urnerland, ins Wallis, ins Tessin und nach Graubünden. Immer mehr aktive Leute ziehen dort weg – für eine Ausbildung oder einen interessanten Job in die Zentren – und kehren nicht mehr zurück. In den Interviews gaben die Leute an, dass sie gerne eine Sprache lernen oder einen Tanzkurs besuchen möchten, aber es keine Angebote gebe.

Und wie sieht es heute dort aus?
Es hat sich wenig getan. Es gibt immer noch eine starke Abschottung gegenüber Neuem. Zuzüger sind nicht unbedingt willkommen. Die Politik verlässt sich auf Subventionen und hofft auf Investoren.

Wie meinen Sie das?
Dass ein Samih Sawiris in Andermatt fast das halbe Tal kaufen konnte, zeigt, wie verzweifelt die Leute dort waren.

Die Menschen in den Tälern müssen ja von etwas leben. Was ist die Alternative?
Der Vorschlag für den Adula-Nationalpark war eine wunderbare Idee.

Er hätte sich von Disentis im Bündner Oberland bis nach Buseno im südlichen Misox erstreckt. Die Bürger der betroffenen Gemeinden verwarfen das Projekt an der Urne.
Vielleicht war es zu stark auf den Naturschutz fokussiert. Aber es hätte ein soziales Projekt werden können, das etwas bewegt und neue kulturelle und ökonomische Aktivitäten hervorbringt. Man hätte neue Formen der Zusammenarbeit ausprobieren können. Wegkommen vom Dörfligeist. Die Existenzgrundlage wird nicht grösser, wenn jeder nur für sich denkt.

Was müsste sich ändern, um die Täler zu retten?
Die Politik müsste offener und neugieriger werden. In den Tälern kann man es sich nicht mehr leisten, nichts zu tun. Die Leute, die man am dringendsten bräuchte, wandern in die Städte ab: jene mit Ideen.

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