Müslüm im Interview
«Reichtum ist ein Gefühl»

Müslüm ist jetzt Schweizer. Also nicht ganz. Aber Semih Yavsaner (41), der Mann hinter der berühmten Figur. Ein Gespräch über den roten Pass, Corona auf der Bühne und Mainstream in Kultur.
Publiziert: 27.12.2020 um 10:00 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2021 um 18:15 Uhr
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«Müsteriüm – eine dramatürkische Odyssee» heisst Yavsaners Bühnenprogramm. Darin thematisiert der Entertainer die grossen Fragen des Lebens: von den Vorstellungen von Glück bis hin zu den Irrwegen der Selbstwerdung.
Interview: Alexandra Fitz

Wir treffen Semih Yavsaner in der Berner Lorraine. Hier drehte er einige seiner Musikvideos, hier wuchs er auf. Der Künstler ist gross und schlank. Seine dunklen Locken trägt er unter einer Art Fischerhut aus braunem Leder. Wir fahren mit ihm ins Quartier, wo er als Kind lebte. Das Auto steuert er über das Trottoir und parkt auf der Wiese direkt vor dem Haus – «Türkisch-Style» nennt er das. Wo Yavsaner früher wohnte, ist jetzt eine riesige Baustelle. Es entsteht eine Überbauung. Ein Block steht noch, bis auch dieser abgerissen wird, mietet Yavsaner nun eine Wohnung zum Arbeiten. «Hier lebten alle Nationen. Die Gänge dieser Sozialwohnungen waren immer voller Kinder», erzählt Yavsaner. Während wir drinnen Wellness-Tee trinken, wird draussen für die Gentrifizierung gehämmert.

Seit kurzem haben Sie den Schweizer Pass. Was hat sich dadurch geändert?
Alles ist gleich. Ah Sie meinen, wie ich mich fühle? Das habe ich nie abhängig gemacht vom äusserlichen Sein. Ich bin immer tragisch-komisch. Ich bin immer ich. Das ändert sich nicht mit einem Stück Papier.

Wie war dieses Jahr für Sie?
Für mich hat sich nicht gross was verändert. Als Künstler stehe ich generell im Abseits. Ich habe keine Sicherheit. Jetzt müssen alle anderen ihr Leben auch verlangsamen. Auch wenn diese Krise etwas Unschönes ist, ist es sehr interessant.

Was fiel Ihnen auf?
Es ist krass, wie wenig sich die Leute mit sich selbst auseinandersetzen. Viele Leute ertragen das nicht. Der grösste Feind, den wir haben, sind wir selber.

Was wünschen Sie sich fürs neue Jahr?
Ich wünsche mir, dass wir die Ängste wieder ablegen können. Es ist alles so mühsam. Die Körperhaltung, die Distanz. Es geht gar nicht mehr um das, was man sagt, sondern darum wie man am wenigsten von der feuchten Aussprache seines Gegenübers abbekommt. Bei meinen Auftritten mit dem Gitarristen Raphael Jakob bekommt die erste Reihe ein bisschen von meinem Tröpfliregen ab. Im Licht sieht man die ganzen Tröpfchen, die zeitlupenmässig bei ihnen herunterfallen, und ich denke mir so: «Sorry! Es tut mir leid!»

Machen Sie Corona-Witze?
Das Wort fällt bei mir gar nicht auf der Bühne. Ich finde Corona-Witze so uninspiriert und absehbar. Es gibt viel Schöneres.

Sie sind noch Anfang Dezember in St. Gallen aufgetreten. Wie war das?
Sehr intim. Man merkt, dass die Aufmerksamkeit und Wertschätzung zugenommen hat. Das Publikum hängt einem an den Lippen und ist gleichzeitig geistesgegenwärtig. Beim kleinsten Husten hockt man auf Nadeln und schaut herum, wer das gerade war. Obwohl in St. Gallen die Leute sehr entspannt waren.

Wie sehr fehlten Ihnen die Auftritte?
Unheimlich. So kam es, dass die erste Hälfte der Show in St. Gallen statt 40 Minuten eineinhalb Stunden dauerte. Wir waren total im Flow. Wir haben Tränen gelacht auf der Bühne und die Leute auch. Die Leute wissen, das ist echt. Ich gehe nicht auf die Bühne und reproduziere. Ich spule nicht herunter und bringe Schenkelklopfer nach Schenkelklopfer. Das hat für mich nichts mit Kunst zu tun. Wenn ein Blatt vom Baum fällt, fällt das nächste Blatt anders, und trotzdem darf es fallen. Das ist mein Verständnis von Stand-up.

Sie philosophieren gerne.
Jemand, der alles hat, kennt das Nichts nicht. Jemand, der das Nichts nicht kennt, kann nie alles sein. Das ist der Unterschied zwischen der Natur und uns. Die Natur besitzt nicht, es wird etwas erschaffen, und dann vergeht es. Wir streben nach einem Leben, in dem Dinge bleiben, und checken nicht, dass alles vergänglich ist. Die Leute lassen sich Brüste vergrössern und spritzen sich mit irgendwelchen Substanzen einem suggerierten Ideal gleich, dabei wären sie das Ideal. Das ist alles nur ein Hilfeschrei des Ego.

Menschen wollen sich Glück erkaufen.
Früher hat man uns eingeimpft: «Die sind reich, und wir hier in den Sozialwohnungen sind arm.» Aber dass wir später mal Geld machen als Künstler und Erfolg haben, dachte keiner. Man merkt dann, Geld ist wirklich nichts. Wenn man dann sagt: «Leck, ich war so reich in meiner Kindheit», wissen sie nicht, von welchem Reichsein ich spreche. Wir hatten als Kinder zu dritt ein Zimmer, aber wir waren reich. Reichtum ist ein Gefühl.

Sie sprechen die Oberflächlichkeit an?
Was wollen Kinder heute werden? Influencer. Wir werden, was wir sehen. Deshalb ist es so wichtig, als Künstler nicht zu reproduzieren, sondern sich selbst zu sein.

Zu viel Mainstream?
Tendenziell hat die Musik, die im Radio läuft, nichts mit unserer Kultur hier zu tun. (Singt) «I got a hangover, woo-ooh-ooh!» Im Text heisst es: «Ich bin verkatert. Mir scheiss egal, ich kotz es raus und nimm den nächsten Drink.» Die Leute wissen nicht, was sie singen. Sie sind sich nicht bewusst, dass sie werden, was sie sagen. Und so was läuft über unser Staatsradio. Aber mein Chlausenlied spielen sie fast nie.

Ihr Chlausenlied?
Vor zehn Jahren habe ich laut Youtube das grösste Samichlauslied in diesem Land veröffentlicht. Das Lied wurde auf der Plattform vier Millionen Mal gehört. Aber es wird von den Radiosendern einfach boykottiert. Man bringt lieber «I got a hangover, woo-ooh-ooh!».

Und warum wird es nicht gespielt?
Sie sagen, es sei für unsere Hörer unpassend, zu orientalisch. Aber der Samichlaus kommt ja geschichtlich aus der heutigen Südtürkei, aus Myra. Es braucht halt Mut. Ich frage mich: Wer sind denn die vier Millionen, die es hören?

Unter das Samichlauslied kommentierte jemand, Sie seien der beste Komiker der Schweiz.
Ich bin kein Komiker.

Okay. Wen finden Sie witzig?
(Überlegt lange) Jim Carrey hat mich in meiner Kindheit begleitet. Die Schweiz im Allgemeinen hat mich inspiriert. Franz Hohler etwa finde ich beflügelnd. Mani Matter ging an uns Migrantenkindern vorbei. In der Schule tauchte er dann auf, und heute feiere ich ihn sehr.

In welche Richtung geht Müslüm heute?
Die Kunst kennt keine Richtung. Weder links noch rechts, noch geradeaus, noch rückwärts. Mein neues Album ist bald fertig. Es ist unheimlich reichhaltig und genreübergreifend. Mein letztes habe ich vor fünf, sechs Jahren herausgebracht. Das ist ein guter Zyklus.

Derzeit sind Sie als Müslüm mit einem Bühnenprogramm unterwegs.
Das mit dem Bühnenprogramm ist eine Premiere. Wir fühlten uns immer schon wohl beim Improvisieren. Jetzt haben wir es probiert, und es ist ein Geschenk, dass «Müsteriüm» so Anklang findet. Ich bin am liebsten auf diese Weise unterwegs.

Warum?
Die Pointe kann nur aufgehen, es kann sich nur etwas entwickeln, wenn man dem auch die Aufmerksamkeit gibt. Man kann einem Blatt zuschauen, sorry, ich komme schon wieder damit, wie es runterfällt, und wenn man kurz wegschaut und es am Boden liegt, hat man es verpasst. Genau darum geht es auf der Bühne. Deswegen kommen die Leute: um den Blatt beim Fallen zuzusehen. Aber manchmal schauen sie auch einfach aufs Handy.

Leute schauen während Ihrer Show aufs Handy?
Ja, en masse, grad in St. Gallen passiert. Eine Frau starrte aufs Handy, während ich auf der Bühne über die Wahrheit sprach. Ich sprach es an: «Andere schauen nur runter und streicheln einen Fremdkörper.» Irgendwann hat sie es geschnallt und ist voll darauf eingegangen. Genau diese Unmittelbarkeit liegt mir sehr.

Sie hatten 2016 eine eigene Sendung auf SRF, «Müslüm TV». Ist Fernsehen noch ein Thema?
Fernsehen ist für mich immer Thema. Aber man müsste bereit sein, etwas zuzulassen. Die Bedingung in Sachen Fernsehen ist die Bedingungslosigkeit. Ich will keine achtköpfige Redaktion dahinter, die meine Gags schreibt. Dann überlasse ich das gerne den anderen.

Warum gibt es «Müslüm TV» eigentlich nicht mehr?
Ich wollte eine Late-Night-Show und hatte ein Konzept entwickelt. Improvisation, Spontanität, das ist meine Stärke. Ich habe ja mit Telefonscherzen angefangen. Das SRF wollte nach der ersten, erfolgreichen Staffel eine zweite. Bei der zweiten war dann die Luft draussen, die Leute kannten das Prinzip, die Dialoge waren nicht mehr so frisch.

Da wären wir wieder beim Thema Reproduzieren?
Genau. Die Leute sind müde, sie sehnen sich nach Menschlichkeit. Deswegen funktionierte ja Aeschbacher so gut. Er ist ein feinfühlender Moderator, der auf die persönliche Ebene eingeht. Das würde ich gerne bedienen. Der Künstler kann die Gesellschaft ohne Kapital verändern. Gerade in dieser Zeit, in der wir uns befinden, ist geistige Nahrung wichtig. Künstler bringen uns als Gesellschaft zusammen.

Semih Yavsaner

Semih Yavsaner wurde 1979 in Bern als Sohn türkischer Eltern geboren. In einem Berner Lokalradio entwickelte er im Rahmen von Telefonscherzen die Kunstfigur Müslüm. Mit seinem Schnauz, der Monobraue und seinen bunten Anzügen wurde er schlagartig national bekannt. Mit Liedern wie «Süpervitamin» und «La bambele», aber auch als TV-Figur. 2016 erhielt er beim Schweizer Fernsehen eine eigene Fernsehshow: «Müslüm TV». Mit dem Kabarettstück «MÜsteriÜM – eine dramatürkische Odyssee» ist Müslüm mit seinem ersten Bühnenprogramm unterwegs. Im Mai erscheint nach rund fünf Jahren sein nächstes Album. Über Semih Yavsaner weiss die Öffentlichkeit nicht sehr viel. Dazu sagt der Künstler: «Ich will nicht gross als Semih im Mittelpunkt stehen. Lieber als Müslüm.»

Roger Reist

Semih Yavsaner wurde 1979 in Bern als Sohn türkischer Eltern geboren. In einem Berner Lokalradio entwickelte er im Rahmen von Telefonscherzen die Kunstfigur Müslüm. Mit seinem Schnauz, der Monobraue und seinen bunten Anzügen wurde er schlagartig national bekannt. Mit Liedern wie «Süpervitamin» und «La bambele», aber auch als TV-Figur. 2016 erhielt er beim Schweizer Fernsehen eine eigene Fernsehshow: «Müslüm TV». Mit dem Kabarettstück «MÜsteriÜM – eine dramatürkische Odyssee» ist Müslüm mit seinem ersten Bühnenprogramm unterwegs. Im Mai erscheint nach rund fünf Jahren sein nächstes Album. Über Semih Yavsaner weiss die Öffentlichkeit nicht sehr viel. Dazu sagt der Künstler: «Ich will nicht gross als Semih im Mittelpunkt stehen. Lieber als Müslüm.»

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