Das Verdikt der Bundespräsidentin war klar: «Wir können nicht länger zuwarten.» Als Simonetta Sommaruga (60) am Freitag die neuen Massnahmen im Kampf gegen Corona bekannt gab,betonte sie: «Dass der Bundesrat das Heft wieder in die Hand nimmt, ist nicht gegen die Kantone gerichtet und widerspricht auch nicht dem Föderalismus.»
Die Angesprochenen sind vom Gegenteil überzeugt: Nach Aufforderung des Bundesrats hatten einige Kantone zu Wochenbeginn neue Massnahmen angeordnet – und reagierten empört, als Bern am Dienstag trotzdem landesweite Regelungen ankündigte.
Die Regierung des Kantons Thurgau sah «den bundesstaatlichen Geist der Schweiz grob verletzt». Der Kanton Basel-Landschaft beklagte eine «Übersteuerung der Kantone durch den Bund» und sah «die föderalistische Zusammenarbeit im höchsten Mass gefährdet».
Doch es gab eben auch Kantone, die zu spät oder gar nicht auf Warnungen des Bundesrats reagiert hatten – etwa St. Gallen. Oder der Aargau. Dessen Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati (54) trötzelte am Montag: «Wenn der Bundesrat der Meinung ist, er könne die Lage in den Kantonen besser beurteilen als die Kantonsregierungen, steht es ihm frei, selber Massnahmen anzuordnen.»
Kantone reagierten zu langsam
Dass die Landesregierung schliesslich am Freitag durchgriff, lag nicht zuletzt an dieser Haltung. «Es kann sicherlich auch gesagt werden, dass einige Kantone nicht schnell genug reagierten», so Lukas Engelberger (45), Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) und baselstädtischer Regierungsrat: «Der Föderalismus hat diese Woche nicht so funktioniert, wie wir uns das vorstellen.»
Dabei hatte es so schön begonnen: 1848 gründeten die Kantone einen Bundesstaat mit schwacher Zentralgewalt und minimalen Kompetenzen. Erst mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung nach dem Zweiten Weltkrieg baute der Bund seine Macht aus.
Zugleich behielten die Kantone wichtige Bereiche staatlicher Autonomie wie Verfassungs- und Steuerhoheit. 1993 gründeten sie die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK), um ihren Einfluss auf die Entscheidungsprozesse in Bundesbern zu verstärken.
«Das war ein Wendepunkt», erklärt der Politologe Wolf Linder (76), Verfasser des Standardwerks «Schweizerische Demokratie». «Damals lösten sich die Kantone aus einer defensiven Haltung und wurden aktiv.»
2003 sorgten sie für Aufsehen, als sie erstmals erfolgreich ein Kantonsreferendum lancierten – gegen eine Steuervorlage des Bundes, die für einige Kantone massive Steuerausfälle bedeutet hätte. «Dieser Erfolg war das Resultat der Koordination und Solidarität zwischen den Kantonen», so der Politologe Linder. «Das führte zu einem ganz neuen Selbstbewusstsein.»
Ein Ausdruck davon ist das Haus der Kantone, das 2008 in Bern unweit des Bundeshauses eröffnet wurde – als Basis der KdK und der kantonalen Regierungs- und Direktorenkonferenzen.
Mit der Konferenz der Erziehungsdirektoren besteht die erste dieser Vereinigungen schon seit 1897, im 20. Jahrhundert kamen zwölf weitere dazu. Lange belächelt, wurden sie nun zu einer einflussreichen Grösse.
Kantone als Vollzugsgehilfen
Es war eine Erfolgsgeschichte – bis die Pandemie kam. Im Frühjahr 2020 rief der Bundesrat die ausserordentliche Lage aus und degradierte die Kantone zu Vollzugsgehilfen. Im Juni kehrte die Schweiz in die besondere Lage zurück. Dabei blieb es auch, als im Herbst die zweite Welle ausbrach.
In der Verantwortung seien nun die Kantone, verkündete der Bundesrat. Die reagierten auch – mit mehr als 250 Regelungen zur Corona-Bekämpfung. Jedoch mit unterschiedlicher Intensität. So erliess Freiburg über 30 Verordnungen – Uri überhaupt keine. Das Resultat: Ein Flickenteppich, der zu Unzufriedenheit in der Bevölkerung und zu Spannungen zwischen Bund und Kantonen führte.
Was dabei völlig unterging: «Entgegen einer weitverbreiteten und auch vom Bundesrat vertretenen Auffassung liegt in der besonderen Lage die Verantwortung nicht allein bei den Kantonen», sagt Staatsrechtsprofessor Bernhard Waldmann (58), Co-Leiter des Instituts für Föderalismus an der Uni Freiburg. «Vielmehr stehen Bund und Kantone gleichermassen in der Pflicht. Der Bund hat aber die Federführung und muss nötigenfalls die vorgesehenen Massnahmen treffen.»
So steht es im Epidemiengesetz, das 2013 vom Volk in einer Referendumsabstimmung gutgeheissen wurde. Im Frühling noch in aller Munde, verschwand das Gesetz in der zweiten Welle aus der öffentlichen Wahrnehmung. Doch in der Auseinandersetzung zwischen Bund und Kantonen ist das Katastrophengesetz entscheidend – weil es interpretationsbedürftig ist.
«Das Epidemiengesetz ist der rechtliche Rahmen», sagt Staatsrechtler Waldmann. «Doch dieser Rahmen ist nicht abschliessend, sondern muss auf die konkrete Situation angewendet und ausgelegt werden.»
Und da gehen die Meinungen auseinander. So sagte Bundespräsidentin Sommaruga am Freitag: «Die Konsultation hat gezeigt, die meisten Kantone wünschen sich eine stärkere Vereinheitlichung.»
Regierungsräte sind anderer Meinung
Spricht man hingegen mit Regierungsräten, klingt das anders. Einer sagt hinter vorgehaltener Hand: «Der Bundesrat meint zu Unrecht, er müsse jetzt die Federführung übernehmen.»
Der Frage lautet: Wie viel föderale Vielfalt ist möglich? «Doch diese Frage beantwortet das Epidemiengesetz nicht für den Einzelfall», sagt Staatsrechtler Waldmann.
Das ist der Kern des hitzigen Föderalismus-Streits. Wie wird er ausgehen? «Aus föderalistischer Sicht ist interessant, dass der Bundesrat in der ersten Welle im Frühling einen zentralistischen Ansatz verfolgte, in der zweiten Welle dagegen viel Raum für kantonal unterschiedliche Lösungen liess», sagt Bernhard Rütsche (50), Professor für öffentliches Recht an der Uni Luzern: «Je nachdem, wie man im Rückblick diese unterschiedlichen Strategien bewerten wird, wird der Föderalismus durch die Pandemie eher Schaden nehmen oder bekräftigt werden.»
Es hängt auch davon ab, wie die Kantone künftig miteinander umgehen. Im Hickhack um Sperrstunden und Ladenschliessungen hat sich vor allem eines gezeigt: In der Krise ist sich jeder Kanton selbst der nächste. Von der einstigen Kooperation und Solidarität ist heute nichts mehr zu spüren.
In der letzten Woche habe die Schweiz einen Tiefpunkt in der Krisenbewältigung erreicht, klagt CVP-Präsident Gerhard Pfister (58). «Westschweiz gegen Deutschschweiz, Kantonsregierungen gegen den Bundesrat, alle gegen alle und jeder nur für sich!»
Steht die Schweiz vor dem Ende des Föderalismus? «Diese Woche war sicherlich eine Belastungsprobe», so GDK-Präsident Engelberger. «Den Föderalismus nun allerdings für tot zu erklären, wäre falsch.»