«So eine Armee braucht keinen Gegner»
Russischer Ex-Elitesoldat rechnet in Buch mit Putin ab

In einem vernichtenden Bericht schildert der Ex-Elitesoldat Pawel Filatjew (34) von den Missständen in der russischen Armee. Ihm zufolge wird Kremlchef Putin mit seinem Angriffskrieg scheitern. Sein Buch macht ihn für Russland zum Staatsfeind.
Publiziert: 02.12.2022 um 12:56 Uhr
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Aktualisiert: 02.12.2022 um 17:02 Uhr
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In einem vernichtenden Bericht schildert der Ex-Elitesoldat Pawel Filatjew (34) über die schlechten Zustände der russischen Armee.
Foto: Pavel Filatjew

Schon im August hatte Putins Elitesoldat Pavel Filatjew (34) öffentlich gegen den Kremlchef Wladimir Putin (70) geschossen. Zuerst desertierte er und dann zerriss er vor laufender Kamera seinen russischen Pass und spülte die Überbleibsel die Toilette runter.

Jetzt setzt der Fallschirmjäger noch einen obendrauf: In einem Buch packt Filatjew aus und schildert die zahlreichen Missstände im russischen Militär. Die Armee sei «technisch hoffnungslos veraltet und moralisch verrottet».

Filatjew will über Sinnlosigkeit des Krieges aufklären

Zwei Monate lang hat Filatjew als russischer Soldat den Krieg in der Ukraine unter ständiger Todesgefahr und unter militärischer Führungslosigkeit erlebt. Sein Entsetzen über die unter Kremlchef Putin zur Chaostruppe verkommene russische Armee hat er schon im Sommer in dem packenden Frontbericht «ZOV. Der verbotene Bericht. Ein Fallschirmjäger packt aus» auf Russisch im Internet geteilt und damit international für Furore gesorgt.

Nun erscheint das brisante Buch mit tiefen Einblicken in den Kriegsalltag und in die von Korruption und Vetternwirtschaft geprägten Militärstrukturen auf Deutsch mit demselben Titel. «ZOV» ist das russische Wort für Ruf. Aber das grosse Z ist auch das Kriegssymbol, das russische Panzer in der Ukraine tragen. Dem 34-Jährigen, der in Frankreich Asyl hat und seinen Aufenthaltsort geheim hält, droht in seiner Heimat lange Haft wegen Diffamierung der russischen Streitkräfte.

Dennoch will Filatjew mit dem Zeitdokument so viele Russen wie möglich über die Sinnlosigkeit des Krieges aufklären und sie bestenfalls dazu bringen, dagegen aufzustehen. Mehr als 600'000 Aufrufe hat allein die auf YouTube veröffentlichte russische Hörbuchversion.

Er würde gegen den Kreml die Waffe erheben

Als Soldat war er selbst dabei, als die russische Armee am 24. Februar in die Ukraine einmarschierte. Blauäugig glaubte er demnach anfangs an einen Grund für die Invasion, bis er selbst merkte, dass niemand dort auf die vom Kreml angekündigte Befreiung wartete. Auch die Behauptung der russischen Führung, sie habe einem kurz bevorstehenden ukrainischen Angriff zuvorkommen wollen, sei nicht wahr, stellt Filatjew fest.

Für einen solchen Fall wäre es aus seiner Sicht einfacher gewesen, wenn Russland seine eigenen Grenzen verstärkt hätte und bei einem möglichen Angriff in die Gegenoffensive gegangen wäre. So könnte die Weltgemeinschaft ihnen nun nicht vorwerfen, ein Aggressor und Besatzer zu sein.

Der Ex-Soldat macht immer wieder deutlich, dass sich seine Kritik nicht gegen die einfachen und durch Mangel an Information in die irregeführten Soldaten richtet, sondern vor allem gegen den Kreml, gegen den er heute sogar die Waffe erheben würde. Er selbst könne aus seiner Zeit und dem Vorstoss in Richtung Cherson im Süden der Ukraine keine Gräueltaten der Armee bezeugen. «Ich kann mich natürlich nicht für die ganze Armee verbürgen, aber vor meinen Augen wurde niemand gequält, geschweige denn vergewaltigt.»

Zivilisten, die gegen Russen sind, werden getötet

Filatjew, dessen Vater schon in Russlands Kriegen kämpfte, dreht sich um seine Erlebnisse, die miserable Ausstattung und Organisation der Truppe, der auch gar nicht klar sei, warum sie in der Ukraine kämpfe. Filatjew entlarvt die von Putin immer wieder so bezeichnete militärische Spezialoperation gegen Nazis in der Ukraine als Farce. Getötet werden Zivilisten, die gegen die russischen Besatzer sind und es werden ganze Städte sinnlos zerstört, wie Filatjew erzählt.

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Der frühere Pferdezüchter schildert authentisch, wie Soldaten durch fehlende Führung und Motivation scheitern. «Ich rauche und ärgere mich über die Führung, dass wir nun seit drei Tagen hier sind und oben offenbar niemand daran gedacht hat, dass wir etwas zu rauchen, zu essen und zu trinken brauchen.» Kaputte Technik, ein Fahrzeug ohne Bremsen, durch Pannen verstümmelte Soldaten: «So eine Armee braucht keinen Gegner, wir machen uns selbst fertig.» Die Armee sei «technisch hoffnungslos veraltet und moralisch verrottet».

In dem Buch wechseln sich tagebuchähnliche Notizen von der Front ab mit Analysen, bei denen Filatjew mit Abstand auf die Erlebnisse schaut. Während sich die Elite bereichere, in Villen, Schlössern und auf Jachten im Luxus lebe, müssten einfache Soldaten oft ihre ärztliche Behandlung und Medikamente selbst bezahlen. All das, so der Ex-Soldat, solle den Menschen in Russland zeigen, wie es tatsächlich um die Armee stehe im flächenmässig grössten Land der Erde.

Aus dem Siegervolk wurde ein Besatzervolk und Aggressor

Ukrainer und Russen, die einmal in einem Land lebten und «unzählige Verwandtschaftsbeziehungen haben», seien nun durch Hass verfeindet. Filatjew, dessen Urgrossvater ein ukrainischer Grossbauer im zaristischen Russland gewesen war, warnt, dass seine Heimat an der Besatzung zerbrechen könnte, weil die Kosten dafür, die Gebiete zu halten, den Staat in den Bankrott treiben könnten.

Er selbst hat schon im Sommer angekündigt, den Erlös aus den Buchverkäufen in Ländern, in deren Sprachen das Werk übersetzt wurde, zu spenden. Filatjew, der selbst nicht verheiratet ist und keine Kinder hat, zeichnet eine düstere Zukunft für sein Land, das in «Lügen, Betrug und falschen Werten» versinke. Alles sei verkümmert – von der Verteidigung über das Gesundheitswesen bis hin zum Rechtssystem. Der Mensch als solcher zähle nichts. «Aus dem Siegervolk wurde ein Besatzervolk und ein Aggressor!» (SDA/dzc)

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