Aus gesundheitlicher Sicht, so viel ist klar, hat die Schweiz die Corona-Krise in den letzten Wochen schlecht gehandhabt. Die Spitäler sind vielerorts am Anschlag, das Gesundheitspersonal läuft auf dem Zahnfleisch, dringende Tumoroperationen müssen verschoben werden. Auch die Todeszahlen sind erschreckend hoch.
Stellt sich also die Frage, was seit Oktober schiefgelaufen ist, nachdem die Landesregierung im Frühling einen ausserordentlich guten Job gemacht hatte. In der zweiten Welle hingegen schieben sich Bundesrat und Kantone ständig gegenseitig die Verantwortung zu; verpassen es, rechtzeitig einschneidende Massnahmen zu ergreifen und zugleich den von Schliessungen betroffenen Branchen angemessene Hilfspakete in Aussicht zu stellen.
Das offensichtlichste Problem ist das zögerliche Vorgehen der Landesregierung: Den einzelnen Bundesräten fällt es schwer, durchzugreifen, wenn die Gegnerschaft nur genug Lärm macht. Egal, ob der Widerstand nun vonseiten der Kantone, Lobbys oder Parteien kommt. Das Resultat waren über lange Zeit halbherzige Massnahmen, die nicht genügten, um die Verbreitung des Virus entscheidend einzudämmen.
Entscheide nicht nachvollziehbar
Die Folge solcher politischen Kompromisse war eine mangelnde Kohärenz in den Entscheiden des Bundesrats. Warum sollten Cafés am Sonntag geöffnet bleiben, wenn sie offenbar als Infektionsherd betrachtet werden? Warum sollen Läden bereits um 19 Uhr schliessen, wenn das einzig für lange Warteschlangen sorgt? Gerade in einer Krise müssen Entscheide nachvollziehbar sein, damit die Leute mitmachen – das ist dem Bundesrat zuletzt nicht gelungen.
Auf kantonaler Ebene zeigt sich, dass manche Regierung der Situation schlicht nicht gewachsen ist. In Zürich ist das Gremium so dysfunktional, dass sich Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (44, SVP) Mitte Dezember gezwungen sah, den Bundesrat öffentlich dazu aufzurufen, «harte, einschneidende Massnahmen» zu ergreifen – offenbar konnte sie ihre eigenen Regierungskollegen von der Notwendigkeit eines solchen Schrittes nicht überzeugen. Im Kanton Aargau rechtfertigte Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati (54, SVP) seine Weigerung, Massnahmen zu ergreifen, diesen Dienstag mit der falschen Behauptung, vor zwei Wochen sei ein Anstieg der Fallzahlen noch nicht ersichtlich gewesen.
Zur Überforderung einzelner Kantonsregierungen kommt das Fehlen einer langfristigen Planung hinzu: Sowohl der Bund wie die Kantone fahren auf Sicht und haben es verpasst, sich darauf zu einigen, welche konkreten Massnahmen im Krisenfall zur Anwendung kommen. Bezeichnend ist, dass trotz der zweiten Welle kein neuer Krisenstab auf Bundesebene gebildet wurde. Genau ein solches Gremium wäre aber nötig, damit die Regierung nicht stets, getrieben von der Situation, von einem Brandherd zum nächsten rennen muss.
Verantwortlichkeit nicht klar aufgeteilt
Diese Planlosigkeit hat ihren Ursprung auch darin, dass in der besonderen Lage die Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Kantonen nicht klar aufgeteilt sind. Mit der Konsequenz, dass über Tage niemand einen Entscheid fällt – was sich das Land in der jetzigen Situation eigentlich nicht leisten kann.
Dieses «Verantwortungsdefizit» sei im Schweizer System tief verankert, sagt Politikwissenschaftler Michael Hermann (49). «Unsere politische Kultur der Machtteilung bringt es mit sich, dass sich Entscheidungsträger gut ‹verstecken› können: Wer Verantwortung übernimmt, wird nicht belohnt.» Das sei im Normalfall kein Problem, da die Bevölkerung nicht erwarte, von der Politik geführt zu werden: «Ein Politiker wie der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz käme in der Schweiz nicht gut an.» Doch im Krisenfall sei das Nicht-Übernehmen von Verantwortung ein sicheres Rezept zum Scheitern.
Dasselbe gilt für politische Kuhhändel wie besagten Entscheid, Restaurants am Sonntag offen zu lassen und dafür abends zu schliessen. Solche gutschweizerischen Kompromisse mögen im Normalfall eine Stärke des hiesigen Politsystems sein; zur Eindämmung einer Pandemie funktionieren sie nicht.
Kurzsichtiges Verhalten der Bürgerlichen
Ein weiterer Grund für die derzeitige Misere ist schliesslich das kurzsichtige Verhalten der bürgerlichen Parteien. Natürlich, der linke Ruf nach Schliessungen und vollumfassenden Entschädigungen ist in dieser Krise die einfachere Position – zumal er von Kreisen kommt, die auch zu normalen Zeiten das Geld der Steuerzahler gerne munter verteilen. Dennoch: Was sich SVP, FDP und CVP im Dezember leisteten, sorgt für Kopfschütteln. Sind tagelange Debatten darüber, wie viele Leute nun genau in eine Gondel dürfen, wirklich erste Priorität? Und was geht jenen Politikern durch den Kopf, die nach dem Hilfeschrei der Spitäler vor zwei Wochen einen offenen Brief an den Bundesrat verfassen mit der Forderung, Läden und Restaurants keinesfalls zu schliessen?
Angesichts des ungenügenden Krisenmanagements kann sich die Politik glücklich schätzen, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Behörden nach wie vor intakt ist. Zumindest war dies Ende Oktober, mitten in der zweiten Welle, laut einer Umfrage der Forschungsstelle Sotomo der Fall.
Bleibt zu hoffen, dass die Politik diesen Vertrauensvorschuss nicht weiter verspielt.