Geht es Ihnen auch so? In der Pandemie kommt einem das Zeitgefühl abhanden. Oder wissen Sie, wie Sie das zu Ende gehende Jahr zugebracht haben? Was war anders im Mai als im Oktober? Was haben Sie letzten Sonntag gemacht? Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen im Nebel des Nichterlebens, man wird orientierungslos. Und manchem entgleitet mit der Zeit der Blick fürs Wesentliche.
Alain Berset ist genau das passiert. Anfang Dezember verlor sich der Gesundheitsminister in Erwägungen darüber, ob die maximale Gästezahl auf den Skipisten 60 Prozent des höchsten Vorjahreswerts betragen soll oder doch lieber maximal 80 Prozent des Durchschnitts der letzten fünf Jahre.
Wie bitte?
Leider nur waren die Köpfe der anderen Bundesratsmitglieder nicht weniger vernebelt. Keiner kam auf die
Idee, Berset in seinen dadaistischen Rechenspielen zu stoppen. Niemand fragte nach einer umfassenden
Strategie oder war in der Lage, eine solche zu skizzieren.
Es war ja so viel einfacher, über die Auslastung von Skigebieten zu sinnieren. Es war so viel einfacher, über die Öffnungszeiten von Beizen zu feilschen, als der Tatsache ins Auge zu schauen, dass die Schweiz, gemessen an der Einwohnerzahl, zu den Ländern mit den meisten Covid-Toten gehört.
Das Gleiche gilt für den Grundsatz des Bundesrates, der Wirtschaft in der Pandemie möglichst freien Lauf
zu lassen, um die Entschädigungszahlungen möglichst gering zu halten. Stillhalten, festhalten, wegschauen schien am bequemsten.
Inzwischen sind die Hilferufe aus den Spitälern nicht mehr zu überhören. Sie warnen vor einem Kollaps der Intensivstationen und lotsen die Landesregierung zumindest in die richtige Richtung. Ganz aus dem Nebel jedoch hat sie die allgemeine Verzweiflung nicht geführt.
Restaurants und Freizeitanlagen werden geschlossen, die Betroffenen hoffentlich mehr als anständig entschädigt. Nach den Erfahrungen der letzten Wochen und Monate ist gleichwohl fraglich, wie ernst es den Verantwortlichen mit dem Eindämmen der Pandemie effektiv ist. Offenbar vertraut man nicht zuletzt darauf, dass sich das öffentliche Leben über die Festtage ohnehin entschleunigt, dass das Januarloch und die allmählich einsetzenden Impfungen ihrerseits für einen Rückgang der Infektionen sorgen. Wer jetzt noch derart forsch nach dem Prinzip Wunschdenken verfährt, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er ans Christkindli glaubt.
Die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten gehört zu den Kernaufgaben jeden Staatswesens. Lange bevor sich die Kantone zur heutigen Schweiz vereinten, hatten sie sich im «Konkordat zur Sicherung vor ansteckenden Seuchen» zusammengetan. Dieser ursprüngliche Zweck des Staates durfte in den letzten Jahrzehnten in den Hintergrund treten. Nun ist es an der Zeit, sich daran zu erinnern.
Was unsere oberste Behörde in der zweiten Welle geboten hat, war ein Schrecken ohne Ende. Und die Entscheide vom Freitag klingen nicht nach Neuanfang. Man kann nur hoffen, dass unsere Bundesräte in den kommenden Tagen einmal kurz den Kopf lüften und sich neu orientieren können. Dass sie ihren Kompass endlich und unmissverständlich nach den Kriterien Menschlichkeit, Empathie und Solidarität ausrichten. Die bevorstehende Impfung gibt uns natürlich die Perspektive, dass sich Covid irgendwann in Schach halten lässt. Sie kann dem Bundesrat das Denken und die politische Verantwortung aber noch lange nicht abnehmen.
Seit November sind in der Schweiz 3776 vornehmlich ältere und alte Menschen an Corona gestorben. Diese Zahl und die Schicksale dahinter dürfen nicht länger von Nebel verschluckt werden.