Mordprozess in Olten sorgt für Gefühlschaos bei Beobachtern
Plötzlich wurde Ruben D. vom skrupellosen Mörder zum Opfer

Ruben D. musste sich am Mittwoch am Gericht in Olten SO gegen eine Mordanklage verteidigen. Dann wurde er plötzlich selbst zum Opfer: Jahrelang soll er der Sex-Sklave von Paul T. gewesen sein – bis er ihn brutal getötet hat. Entschuldigt das seine Tat? Eine Analyse.
Publiziert: 15.08.2024 um 23:54 Uhr
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Aktualisiert: 19.08.2024 um 08:31 Uhr
Rapper Ruben D. musste sich am Mittwoch vor dem Gericht in Olten SO wegen Mordes verantworten. Er hat zugegeben, den Bestatter Paul T. im September 2022 brutal getötet zu haben. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht.
Foto: Ralph Donghi
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Gina KrücklReporterin

Als mutmasslicher Mörder lief er ins Gericht, doch auf der Anklagebank wurde Ruben D.* (28) plötzlich auch zum Opfer. Mit der Offenbarung, dass Paul T.* (†60) den Beschuldigten seit 17 Jahren als Sex-Sklaven missbraucht haben soll, geriet das Bild des skrupellosen Killers und seinem unschuldigen Opfer ins Wanken. Und das, obwohl der Täter gestand, Paul T. im September 2022 getötet zu haben.

Wegen dieser Vorgeschichte verlangte die Verteidigung am Mittwoch vor dem Gericht in Olten SO eine Verurteilung wegen Totschlags, was sich stark mindernd auf das Strafmass auswirken würde. In seinem Schlusswort vor Gericht sagte D.: «Ich wünsche mir ein faires Urteil.» Doch was ist hier fair? Der ehemalige Blick-Gerichtsreporter Viktor Dammann (74) gibt eine spannende und überraschende Einschätzung ab.

Sowohl Mord als auch Totschlag sind vorsätzliche Tötungen. Der Unterschied: Während Mord besonders skrupellos begangen wird, ist Totschlag eine wegen heftiger Emotionen zumindest teilweise nachvollziehbare Tat. Daher auch das unterschiedliche Strafmass: zehn Jahre bis lebenslang für Mord, ein bis zehn Jahre für Totschlag. Im Fall gegen Ruben D. fordert die Anklage 16 Jahre Haft. Die Verteidigung hingegen will, dass von einer Strafe abgesehen wird.

Totschlag ist eine Tötung im Affekt. Das heisst, der Täter handelt aus grosser Angst oder starker Wut heraus und kann diese Gefühle im Moment nicht kontrollieren. Der Affekt muss für den Täter überraschend und aus objektiver Sicht verständlich sein. Ein klassischer Fall ist etwa ein Mann, der seine Ehefrau im Bett mit seinem besten Freund erwischt, sich den erstbesten Gegenstand greift und beide erschlägt.

Brutales Vorgehen spricht für Mord

Auf den ersten Blick scheint der Affekt im aktuellen Fall nicht gegeben. Ruben D. zwang Paul T. mit vorgehaltener Waffe, sich auszuziehen und einen Müllsack überzustreifen. Dann verprügelte er ihn, schoss ihm in den Hintern und liess sein Opfer auf dem Boden liegen, bis es verblutete. Die gesamte Tat dauerte mehrere Stunden. Die brutale Vorgehensweise und die erniedrigenden Handlungen sprechen klar für die Mordanklage.

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Hier an der Aare bei Winznau SO hat Ruben D. sein Opfer mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sich auszuziehen. Dann verprügelte er ihn, schoss ihm in den Hintern und liess sein Opfer verbluten.

Doch betrachtet man die Vorgeschichte von Ruben D. und Paul T., ist der Fall längst nicht mehr so klar. Das Opfer soll den Täter bereits seit Kindheitstagen missbraucht haben. Nicht mal die Staatsanwältin bestreitet dies, es ist gar das Motiv ihrer Anklage. Nebst der Reaktion auf eine überraschende, emotional geladene Situation ist die langanhaltende Misshandlung, aus der sich der spätere Täter aus Ohnmacht nicht anders zu retten weiss, die häufigste Grundlage für ein Totschlags-Urteil. Doch vor Gericht sagte die Staatsanwältin deutlich: «Der sexuelle Missbrauch ist kein Freibrief für eine Tötung.»

Totschlag nur selten

Viktor Dammann hat 40 Jahre für Blick als Gerichtsreporter gearbeitet, bevor er vergangenes Jahr in Rente ging. In all der Zeit hat er nur über wenige Totschläge berichtet, erzählt er im Gespräch mit Blick: «Solche Urteile sind eher selten. Spontan fallen mir nur eine Handvoll Fälle ein.»

Er erzählt etwa vom Fall der 18-jährigen Tochter, die ihren schwerkranken Vater (58) auf dessen Wunsch hin erstach. Oder von der 28-Jährigen, die ihren Vergewaltiger (68) erschlug, nachdem sie sich befreien konnte – dies, obwohl er sie gefesselt hatte. Oder der Fall eines Haus-Tyrannen (42), dessen Sohn (19), Tochter (16) und Schwiegertochter (18) sich das erste Mal gegen die Schläge wehrten und ihn dabei töteten. Die Urteile liegen zwischen einer bedingten einjährigen Haftstrafe und viereinhalb Jahren Gefängnis.

Experte sieht Totschlag-Hinweise

Im Prozess gegen Ruben D. sieht Dammann mehrere Hinweise für einen Totschlag. «Dafür spricht etwa die fehlende Planung.» So kam es bei einem Treffen zum Streit, infolgedessen das spätere Opfer eine Waffe zog und auf den Beschuldigten schoss, ihn jedoch verfehlte. Woraufhin D. ihm die Waffe abnehmen konnte. Dazu sagt Dammann: «Hätte er die Tat geplant, hätte er wohl seine eigene Waffe mitgenommen.»

Auch die brutale Vorgehensweise ist für Dammann ein Indiz für eine Affekt-Handlung. «Dieser Overkill passt zu den jahrelang aufgestauten Gefühlen eines Missbrauchsopfers, das plötzlich durchdreht.» Dafür spreche insbesondere auch der Schuss in den Hintern. «Er hat nicht in den Kopf oder die Brust geschossen, wo der Schuss fast garantiert tödlich gewesen wäre. Der gewählte Ort scheint einen starken emotionalen Zusammenhang mit dem erlebten Missbrauch zu haben.»

Speziell: Die Solothurner Justiz entliess den angeklagten Ruben D. im Mai 2023 nach neun Monaten aus der U-Haft – unüblich bei einer Mordanklage. Könnte dies ein Indiz für ein Totschlag-Urteil sein? Es wird sich kommende Woche zeigen. Die Richter sollen ihr Urteil am 23. August verkünden.

* Name geändert


 

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