Die Strasse mit Aussicht auf die Maggia ist bereits fünf Kilometer oberhalb Locarno gesperrt. Dutzende Kilometer weiter in Richtung Norden dem Fluss entlang ist Katastrophengebiet. Unablässig rasen Autos von Polizei, Feuerwehr und Rettung die kurvige Strasse hoch und runter. Ab Aurigeno ist für Fahrzeuge ganz Schluss. Ab hier ist die Weiterreise nur noch per Helikopter möglich. Das obere Maggiatal ist am Sonntagabend noch im Ausnahmezustand.
Die Helikopter starten im Minutentakt und bringen Passagiere aus der abgeschnittenen Region. Die Rega und mehrere private Helikopterfirmen sind beteiligt. Am Rand der zum Landeplatz umfunktionierten Wiese steht Bergbauer Luca Mattei (69) aus Valle di Peccia. Er war am Samstag an einem Schützenfest im Jura, jetzt kann er nicht zu seinen 4 Kindern und seiner Frau zurück. Er darf noch nicht hochfliegen. Schlimm: Er konnte bisher noch nicht einmal mit seiner Familie reden. «Ich habe nur von einem Nachbarn gehört, dass unsere Ställe weggespült worden sind und das Wohnhaus unter Wasser stand. Es gibt keine Möglichkeit, mit meiner Familie zu reden», sagt er verzweifelt.
Auch Lara Perucconi (49) steht am Rand des Flugfeldes, sie hatte mehr Glück. «Wir waren im Ferienhaus in Mogno. Meine Mutter wohnt auch in dem Dorf. Die Häuser sind nicht in Gefahr. Ich durfte mit dem Helikopter ins Tal fliegen. So eine wilde Maggia hat meine Mutter noch nie gesehen.»
Sehr intensive Niederschläge
Das Tessin ist sich an grosse Niederschlagsmengen gewohnt, aber die Sintflut in der Nacht auf den Sonntag ist rekordverdächtig. Das obere Maggiatal gehörte mit Niederschlagsmengen von über 120 Millimeter, lokal bis 250 Millimeter zu der stärksten betroffenen Region, schreibt Meteo Schweiz. Der Abfluss der Maggia stieg in nur drei Stunden von weniger als 50 Kubikmeter pro Sekunde auf über 700 an.
In Folge sterben in der Bergregion drei Menschen: Am Sonntagmorgen wurden die Leichen zweier Frauen im Val Bavona in der Nähe eines Erdrutsches geborgen. Eine dritte Leiche wurde später im selben Gebiet gefunden. Nach einer vierten vermissten Person wurde am Sonntag im Lavizzara-Tal noch gesucht.
Cassis: «Wie verwundbar wir sind»
Der Strom fällt grossflächig aus, die Mobilfunknetze funktionieren nicht mehr, es gibt kein Trinkwasser. Bundesrat Ignazio Cassis hat an einer Medienkonferenz in Locarno zu den Unwettern im oberen Maggiatal dem Kanton Tessin die volle Unterstützung des Bundes zugesagt. «Geht es weiter so in diesem Sommer?» Diese Wiederholung von Unwettern zeige, wie verwundbar wir seien, resümierte ein sichtlich bewegter Bundesrat. Vor gut einer Woche hatten Unwetter im Misox gewaltige Schäden angerichtet.
An der Medienkonferenz nach den verheerenden Unwettern im Tessin hat auch der Gemeindepräsident von Lavizzara im Bezirk Vallemaggia um Fassung gerungen. Er wisse nicht, wie er seiner Region eine Zukunft geben könne, sagte Gabriele Dazio am Sonntag in Locarno.
Unklare Zukunft für die Dörfer
Er hätte nie im Leben damit gerechnet, am heutigen Tag in dieser Situation an diesem Ort zu sein, sagte der Gemeindepräsident mit brüchiger Stimme. «Ich hätte nie geglaubt, dass meine Augen einmal eine solche Verwüstung sehen werden.»
Da sei eine Turnhalle, die einfach verschwunden sei, Ferienhäuser, die nicht mehr existierten, Freunde, die aus der Gemeinschaft gerissen worden seien. Diese Situation können man sich nicht sich vorstellen, wenn man sie nicht am eigenen Leib erfahren habe, hielt Dazio fest.
Er hoffe, dass bald Trinkwasser in die untere Lavizzara gebracht werden könne. Wie man den betroffenen Dörfern eine Zukunft geben könne, wisse er aber nicht.