Bafu-Direktorin über Unwetter-Serie
«Solche Katastrophen werden sich häufen»

Unternimmt die Schweiz genug im Hochwasserschutz? Katrin Schneeberger, Chefin des Bundesamtes für Umwelt, warnt vor weiteren Unwettern und erklärt, wie wir uns dagegen wappnen können.
Publiziert: 30.06.2024 um 00:43 Uhr
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Aktualisiert: 01.07.2024 um 09:42 Uhr
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Bafu-Direktorin Katrin Schneeberger: «Wir wissen, dass die Extremwetterereignisse weiter zunehmen werden.»
Foto: Linda Käsbohrer

Hagel, Hochwasser und Murgänge – es ist bislang ein Sommer der Extreme. Das sorgt auch im Bundesamt für Umwelt (Bafu) für eine angespannte Lage. Direktorin Katrin Schneeberger findet dennoch Zeit für ein Gespräch mit SonntagsBlick in Bern. Wie immer in solchen Fällen sei sie stets mit ihren Spezialisten verbunden, die Analysen erstellten und Warnungen für die Bevölkerung vorbereiteten.

Blick: Frau Schneeberger, schwere Unwetter suchen derzeit die Schweiz heim. Was löst das in Ihnen aus?
Katrin Schneeberger: Es führt mir einmal mehr die unglaubliche Kraft der Natur vor Augen. Wir können uns nicht vorstellen, welche Emotionen diese Zerstörung bei den direkt Betroffenen auslöst. Die erschütternden Ereignisse im Misox zeigen, wie wichtig die Aufgaben sind, die wir beim Bundesamt für Umwelt (Bafu) täglich wahrnehmen. Dabei geht es nicht nur um den Schutz vor Naturgefahren, sondern auch um Fragen rund um Biodiversität und Klimawandel.

Trotzdem reden jetzt viele nur über die Einschränkungen auf der Nord-Süd-Achse.
Es ist wichtig, dass man die San-Bernardino-Route möglichst bald wieder befahren kann. Genauso wichtig ist aber, dass wir im Klimabereich vorwärtskommen. Die Schweiz ist von der Klimaerwärmung aufgrund der geografischen Lage besonders betroffen. Es ist auch einiges in Gang gekommen: Das Klima- und das Stromgesetz wurden von der Bevölkerung angenommen, das Parlament hat das CO2-Gesetz verabschiedet.

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Die sogenannten Jahrhundertereignisse häufen sich. Ergibt der Begriff noch Sinn?
Wir wissen, dass sich solche Katastrophen häufen werden. Es wird mehr extreme Niederschläge geben, wie zuletzt erlebt, aber auch mehr Trockenperioden. Darauf müssen wir uns einstellen und Massnahmen ergreifen. Wenn man sich beim Hochwasserschutz auf ein 300-Jahre-Ereignis einstellt, ist das eine rein statistische Annahme. Das Ereignis kann morgen eintreffen – und übermorgen erneut.

Das sind ziemlich düstere Aussichten ...
Die Aussichten sind tatsächlich nicht rosig. Aber ich will nicht schwarzmalen. Wir haben es in der Hand, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Wir müssen jetzt handeln, auf die lange Bank schieben ist nicht mehr drin. Verschiedene Studien belegen, dass uns Nichtstun viel teurer zu stehen kommt, als wenn wir jetzt die nötigen Massnahmen ergreifen.

Macht die Schweiz also zu wenig?
Als Bafu-Direktorin kann ich nie zufrieden sein. Aber wir müssen im politischen System mehrheitsfähige Lösungen finden. Als das erste CO2-Gesetz an der Urne gescheitert ist, wurden daraus Lehren gezogen. Es sind kleine Schritte in die richtige Richtung, und jeder bringt uns weiter.

Angesprochen auf die Gefahr durch Hänge, die wegen starker Niederschläge abrutschen könnten, haben Sie vor zweieinhalb Wochen im SRF-«Tagesgespräch» gesagt: Das Bafu würde im Ernstfall selbstverständlich alarmieren. Im Misox gab es keine solche Warnung. Warum?
Die Behörden haben vor Starkniederschlägen und Rutschungen gewarnt. Wo genau gewittriger Starkregen niedergeht und welchen Dominoeffekt er auslöst, können aber weder wir noch die regionalen Einsatzkräfte voraussagen. Die Schweiz hat bei der Prävention und dem Schutz ein sehr hohes Niveau erreicht. Aber absolute Sicherheit wird es nie geben.

Bei Lostallo GR wurde die A 13 auf einer Länge von 200 Metern weggeschwemmt. Dabei gab es längst Anzeichen, dass der Abschnitt gefährdet sein könnte. An derselben Stelle kam es bereits mehrfach zu Murgängen, zuletzt 2019.
Nach dem Murgang 2019 wurde der bestehende Damm verstärkt und zum Schutz der Nationalstrasse ein zweiter gebaut. Die Dämme haben vor gut einer Woche Wirkung gezeigt. Wir alle müssen uns klar werden: Ein Ereignis dieser Heftigkeit werden wir auch in Zukunft trotz immer besserer Datengrundlage und Modellrechnungen nicht voraussagen können. Und wenn in so kurzer Zeit so viel Regen fällt, kommen alle Schutzmassnahmen an ihre Grenzen.

Das Fazit lautet also, dass wir lernen müssen, mit dem Risiko zu leben?
Wir müssen vorbeugen und wo nötig Schutzmassnahmen ergreifen, die Bevölkerung, wenn immer möglich, frühzeitig warnen und Schäden vorbeugen. Aber ja, letztlich werden wir nicht darum herumkommen, mit solchen Ereignissen zu leben.

Jede fünfte Schweizerin lebt heute gemäss Gefahrenkarte in einer Hochwasserzone. Hat man in der Vergangenheit zu nachlässig gebaut?
Der Boden in der Schweiz ist begrenzt. Die Art und Wucht von Ereignissen nehmen zu. Und Extremereignisse treten auch dort auf, wo es bisher keine gab. Damit konnten unsere Vorfahren nicht rechnen. Es wurde sehr vieles unternommen, um die Menschen vor solchen Ereignissen zu schützen.

In Mitholz müssen Bewohner das Dorf für die Räumung der Munitionsrückstände im Berg verlassen. Sollten auch Menschen, die in von Naturgefahren stark betroffenen Gebieten leben, zum Umzug gezwungen werden können?
Umsiedlungen sind ein sensibles Thema. Dabei geht es immer um Existenzen. Andere Optionen, technische und raumplanerische, müssen zuerst abgewogen werden. Das machen die zuständigen Kantone und Gemeinden mit Augenmass.

Die Stadtbevölkerung wächst, es wird verdichtet. Und obwohl das Problem der Hitzeinseln erkannt ist, werden nach wie vor Steinwüsten angelegt. Was läuft falsch?
Heute sind fast zwei Drittel der Siedlungsflächen versiegelt. Beton und Steine heizen auf bis zu 50 Grad auf. In grossen Schweizer Städten gehört es darum mittlerweile zur Norm, möglichst viele Grünräume zu schaffen. Parks, Alleen, begrünte Dächer und Teiche kühlen, reinigen die Luft und machen uns widerstandsfähiger gegenüber dem Klimawandel.

Auch intensive Landwirtschaft führt zu einer Verdichtung der Böden.
Gesunde und sorgfältig bewirtschaftete Böden sind nicht nur wichtig für die Bauern und ihre Ernten. Sie nützen auch dem Klima, der Bevölkerung oder dem Tourismus. Deshalb tun wir gut daran, der Natur genügend Raum zu geben, sei es in der Stadt oder auch auf dem Land.

Die Bauern sehen das anders. Den Plan des Bundes, auf den Äckern 3,5 Prozent Biodiversitätsförderfläche anzulegen, haben sie erfolgreich bekämpft.
Die Landwirtschaft hat schon einiges getan für die Biodiversität. Wir müssen aber generell festhalten: Die Biodiversität ist unter Druck. Darum arbeiten wir an einem neuen Aktionsplan, der konkrete Massnahmen beinhalten wird.

Bauernpräsident Markus Ritter sieht keine Biodiversitätskrise. Findet in der Schweiz nun ein Artensterben statt oder nicht?
Für bestimmte Arten hat sich die Situation in den letzten Jahren verbessert. Den Libellen zum Beispiel geht es besser. Für Wildbienen oder verschiedene Fischarten sieht es weniger gut aus. Deshalb braucht es auch Massnahmen im Bereich der Pestizide oder anderer Verunreinigungen.

Auch dem Wolf ging es besser. Bis Ihr Chef, Bundesrat Albert Rösti (SVP), im letzten Herbst die Tiere zum Abschuss freigegeben hat – mit mässigem Erfolg. Halten Sie dennoch an der Strategie fest?
Das Parlament hat die präventive Wolfsregulierung beschlossen. Damit wird ein neues Konzept umgesetzt. Die Kantone können nicht mehr nur schadenstiftende Einzelwölfe schiessen, sondern präventiv ganze Rudel. Ab dem 1. September bis Ende Januar 2025 darf der Bestand wieder präventiv reguliert werden. Derzeit läuft eine Vernehmlassung dazu und zu weiteren Umsetzungsbestimmungen.

Nach der letzten Jagd zeigte sich, dass man die «falschen» Wölfe traf. Den erlegten Tieren konnten keine Schafrisse nachgewiesen werden.
Es werden eben nicht mehr Einzelwölfe, sondern Rudel entnommen. Das ist für Bund und Kantone Neuland. Jäger sagen mir, dass es sehr anspruchsvoll sei, ganze Rudel zu erwischen.

Dass Sie und Ihr Chef in Sachen Wolf nicht immer gleicher Meinung sind, ist offensichtlich. Wie ist Ihr Verhältnis zu Bundesrat Rösti?
Das Verhältnis ist gut, sehr gut sogar. Ich arbeite mit ihm, wie ich zuvor mit den Bundesrätinnen Simonetta Sommaruga oder Doris Leuthard gearbeitet habe. Wir schlagen dem Departementsvorsteher stets verschiedene Varianten vor, legen alle Vor- und Nachteile auf den Tisch. Unsere Aufgabe ist es, faktenbasierte Grundlagen zur Verfügung zu stellen, die es ermöglichen, einen politischen Entscheid zu fällen.

Ihre Fakten lauteten: Für den Fortbestand des Wolfes benötigt es 20 Rudel. Bundesrat Rösti machte 12 daraus. Sie wurden also überstimmt.
Nochmals: Wir schlagen Varianten vor. Und als Bundesamt erarbeiten wir faktenbasierte Grundlagen für Bundesrat und Parlament. Wer mit diesem System nicht umgehen kann, wird nicht lange in der Verwaltung bleiben.

Apropos: Haben Sie bereits einen Nachfolger für den obersten Wildhüter gefunden, nachdem sich Reinhard Schnidrig frühpensionieren liess?
Sie können sich vorstellen, dass sich die Suche nicht ganz einfach gestaltet. Es ist bekannt, welches Dossier da zu bearbeiten wäre. Da hat man fast keine Freunde.

Täuscht der Eindruck, dass für Bundesrat Rösti Umweltthemen nicht die höchste Priorität haben?
Dass es Umweltthemen generell schwerer haben als auch schon, ist eine gesellschaftliche Realität. Sie sind aber nicht weniger wichtig. In der Umweltpolitik gab und gibt es aber immer Zeitfenster für bestimmte Anliegen. Es geht darum, parat zu sein, wenn sich so ein Fenster öffnet.

Welche Fenster stehen bei Bundesrat Rösti offen?
Bekanntlich kommt Bundesrat Rösti aus Kandersteg, aus einem Ort in den Berner Alpen. Er hat eine besondere Sensibilität für Naturgefahren. Das Thema Anpassung an die neuen Umstände ist ihm sehr wichtig. Beispielsweise in der aktuellen Diskussion um den Hochwasserschutz oder zu klimaresistenten Wäldern.

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