Auf einen Blick
- Zürcher Stadtparlament will Strassenprostitution an der Langstrasse legalisieren. Eine Kehrtwende in der Prostitutionspolitik.
- Die Langstrasse entwickelte sich nach der Ölkrise 1973 zum Rotlichtbezirk.
- 2001 setzte Zürich einen «Mister Langstrasse» ein. Er sollte das Quartier aufwerten.
- 2013 wurde die Prostitutionsverordnung eingeführt, um den Strassenstrich aus der Stadt zu drängen.
Eigentlich hätte es ihn nie geben dürfen, den Strassenstrich im Zürcher «Chreis Cheib». Junge Sexarbeitende, die am Rand der Langstrasse stehen und mit Freiern verhandeln – alles verboten, strafbar, illegal. Offiziell galt die «Sündenmeile» nie als Strichzone. Erlaubt war Prostitution lediglich hinter Mauern – in Clubs und Kontaktbars. Nun soll sich das ändern. Am Mittwoch hat das Zürcher Stadtparlament beschlossen, die Strassenprostitution im Quartier zu legalisieren. Der Stadtrat hat zwei Jahre Zeit, ein Konzept zu entwickeln.
Der Entscheid markiert eine Kehrtwende in der Prostitutionspolitik. Jahrzehntelang hatten die Behörden versucht, den Strassenstrich zwischen Helvetia- und Limmatplatz zu bekämpfen, einzudämmen, zumindest zu kontrollieren. Die geplante Legalisierung gleicht einer Kapitulation – vor dem Strich und dem Eingeständnis, dass sich Freier, Prostituierte und Zuhälter allen staatlichen Strategien zum Trotz auf der berüchtigten Strasse halten konnten.
Dabei war die Langstrasse nicht immer ein Hotspot der käuflichen Liebe. Bis in die 1970er-Jahre lebten dort vor allem italienische Saisonniers. Nach der Ölkrise 1973 verliessen aber viele Italiener die Schweiz. Zugleich schloss die Stadt Erotikbetriebe im Niederdorf und im Seefeld. Das Milieu verlagerte sich in den Kreis 4, wo Wohnungen leer, Häuser alt und Mieten tief waren.
Ein «Milieu-König» prägt das Quartier
Es war eine Zeit, in der Figuren wie Gody Müller (†66) schweizweit bekannt wurden. 1977 eröffnete er im Langstrassenquartier das «Stützli-Sex», die erste Peepshow des Landes. Besucher warfen einen Franken ein, für wenige Sekunden hob sich ein Rolladen und eine nackte Frau kam zum Vorschein. Die Show machte Müller zum «Milieu-König», der mit halb nackten Frauen im damaligen Blick posierte – und zum Millionär wurde. Die Zeitungsbilder verbreiteten sich landesweit, das Image der Langstrasse als Sündenmeile verfestigte sich.
Männer von überallher, sogar aus dem süddeutschen Raum, pilgerten an die Langstrasse, um eine Peepshow live zu erleben oder sich anderweitig sexuell zu vergnügen. Die Schweizer Politik zeigte sich über die Ausbreitung des Gewerbes empört. Das Bundesgericht entzog dem Stützli-Sex sogar die Bewilligung – doch es war längst zu spät. Puff-Daddys hatten ganze Häuserblocks gekauft und Sexarbeitende einquartiert. Die Unterwelt hatte die Langstrasse fest im Griff.
In den 90er-Jahren spitzte sich die Lage zu. Die Polizei räumte die offene Drogenszene am Platzspitz, Dealer und Süchtige zerstreuten sich und fanden Unterschlupf im Langstrassenquartier, Drogenprostituierte begannen, ihren Körper auf der Strasse zu verkaufen und stellten bald den Grossteil des Angebots. Die Beschaffungskriminalität nahm zu, in der Öffentlichkeit sprach man von einer «Verslumung des Quartiers». Auf den Lokalpolitikern lastete ein enormer Druck, endlich durchzugreifen.
Die Mission von «Mister Langstrasse»
2001 ernannte die Stadtregierung Rolf Vieli zum «Mister Langstrasse». Der heute 78-Jährige war im «Chreis Cheib» aufgewachsen, gut vernetzt – und er war auf einer Mission. Vieli lancierte Projekte wie «Langstrasse Plus» oder «Rotlicht», sprach in den Medien von einer «Rückeroberung des Quartiers» oder sagte Sätze wie: «Die ganze Schweiz weiss, dass die fleischliche Lust an der Langstrasse zu befriedigen ist. Das muss und soll geändert werden.»
Heute präzisiert er: «Es war nie das Ziel gewesen, das Sexgewerbe zu verdrängen.» Er habe einfach die Bevölkerung vor «Auswüchsen» schützen und auch Sexarbeitende vor Gewalt und Ausbeutung bewahren wollen. 2001 zählte Vieli 90 Sexetablissement im Quartier. Sein Plan war es, dem «Milieu» die Immobilien zu entreissen, indem die Stadt sie aufkauft. Nur: «Wenn das Interesse der Stadt offensichtlich wurde, stiegen die Preisvorstellungen der Besitzer.»
Vieli kämpfte bis zu seiner Pension 2011 gegen Windmühlen. Zwar konnte er die offene Drogenszene zurückdrängen, vier Häuser erwerben und 46 Liegenschaften einer «Milieu-fernen Nutzung» zuführen. Doch ein Bericht der Stadtverwaltung hielt fest, dass viele dieser Räumlichkeiten nach einigen Jahren wieder an ihre früheren Nutzer vermietet wurden. Aus polizeilicher Sicht habe es «keine namhafte Entspannung in Bezug auf das Rotlichtmilieu» gegeben.
Die ewige Sündenmeile
2013 erliess Zürich eine neue Prostitutionsverordnung, um den Strich aus dem Stadtzentrum zu verdrängen. Dies vor allem als Reaktion auf die prekären Zustände am Sihlquai. An den Stadträndern wurden Strichzonen ausgewiesen, in Altstetten sogar das erste «Drive-in-Puff» der Schweiz eingerichtet. Doch an der Langstrasse, der ewigen Sündenmeile, hielt sich die illegale Strassenprostitution einfach wie von selbst. Denn dorthin kam die Laufkundschaft – und so ist es bis heute.
Dass die Sexarbeitenden ihre Kundschaft nicht auf der Strasse anwerben dürfen, hat sie nie daran gehindert, es zu tun. Das Verbot durchzusetzen, sei ohnehin «fast unmöglich», wie sogar die Stadtpolizei auf Anfrage schreibt, denn der «Ressourceneinsatz wäre unverhältnismässig». Die Behörden verfolgen vielmehr eine Strategie der «Quartierverträglichkeit»: Überbordet die Situation, rücken Ordnungshüter aus und verteilen 200-Franken-Bussen an Sexarbeitende und Freier.
Die Stadtpolizei argumentiert, sie habe die Situation im Langstrassenquartier stabilisieren und beruhigen können. Komplett unter Kontrolle hatte sie die Sündenmeile jedoch nie. Ob sich das ändert, sobald alles legal ist, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur: So schnell verschwindet der Strich an der Langstrasse nicht.