Er schlingt den Arm um ihre Taille und zieht sie an sich. Sie flüstert ihm etwas ins Ohr. Er schüttelt den Kopf. Sie verschränkt ihre Arme. Er lässt die Hand sinken, schlägt ihr zweimal auf den Hintern, lässt sie los und geht.
Viele haben die Szene beobachtet. Aber niemand reagiert. So etwas ist hier üblich. Nebenan, im Licht von Neonreklamen und Strassenlampen, feiern Betrunkene. Den Frauen in den hohen Absätzen kehren sie den Rücken zu. Bis sie selbst Sex wollen.
Ja, so kennt man sie, die Langstrasse. Mal mit, mal ohne Menschenmassen. Aber immer heisst es: «Hey Baby, hast du Lust?», «Komm Schatzi!» Oder es wird einfach gepfiffen. Die Anmache gehört zur Geräuschkulisse.
Das Sexgewerbe ist fester Bestandteil der Langstrasse. Was allerdings in heftigem Kontrast zur städtischen Gesetzgebung steht – denn eigentlich darf hier nicht angeschafft werden.
Keine «Nachwehen» am Sihlquai
Zum Konzept, mit dem die Stadt Zürich die Strassenprostitution eindämmen wollte, gehören auch Sexboxen, die 2013 in Altstetten entstanden. Mit ihnen wollte man den ungezügelten Strassenstrich am Sihlquai abschaffen, ein paar Hundert Meter weiter Richtung Limmat – und die Sicherheit der Sexarbeitenden verbessern.
Beides sei gelungen, meint Nadeen Schuster, Sprecherin der Abteilung Soziale Einrichtungen und Betriebe der Stadt Zürich. Schuster ergänzt: «Es ist weder zu Nachwehen am Sihlquai noch zu einer Verlagerung gekommen.»
Keine Verlagerung? Offiziell weist die Stadt Zürich drei Strichzonen aus: im Niederdorf, an der Allmendstrasse und am Depotweg, wo die Sexboxen stehen. Dort ist es Freiern erlaubt, zu festgesetzten Zeiten für Strassenprostitution zu bezahlen. Alles im Rahmen des Gesetzes.
Nur: die Langstrasse gehört nicht zu diesen Zonen. Trotzdem gibt es den entsprechenden Service zu jeder Tageszeit. Offiziell dürfen die Sexarbeitenden zwar in Kontaktbars, Einzelsalons oder Bordellen anschaffen. Tun sie das aber auf der Strasse, kann die Polizei eine Busse verhängen. Die Langstrasse in der Theorie: Anschaffen in Gebäuden ja, auf der Strasse nein. Die Langstrasse in der Praxis: Anschaffen immer und überall.
Solidara fordert offizielle Strassenstrichzone
Die städtische Strategie sei realitätsfremd, meint Beatrice Bänninger, Geschäftsführerin der Beratungsstelle Solidara Zürich: «Die Langstrasse ist eine Verbindung zwischen Ausgang und Erotik. Die Männer gehen nicht von der Langstrasse nach Altstetten und wieder zurück.» Das Sexgewerbe lasse sich nicht von der Gesellschaft isolieren: «Das funktioniert nicht, das sieht man ja. Es funktioniert nicht an der Allmendstrasse, es funktioniert bedingt in Altstetten, aber nicht im gewünschten Umfang. Es hat nicht funktioniert, die gesamte Strassenprostitution zu verlegen.»
Solidara fordert, Abschnitte der Langstrasse in eine offizielle Strassenstrichzone zu verwandeln, um die Sexarbeitenden zu entkriminalisieren – und die Stadtpolizei zu entlasten: «Die haben ja auch nicht Ressourcen à gogo», so Bänninger. Zudem finde sie es «nicht richtig, die Staatskassen mit Bussen aus Kontrollen zu füllen».
Die Polizei bestätigt, die lückenlose Umsetzung des Verbots sei nahezu unmöglich – weshalb man eine Strategie der «Quartierverträglichkeit» gewählt habe: «Wenn die Strassenprostitution überbordet, verstärkt die Polizei die repressive Verzeigungstätigkeit», so Marc Surber, Sprecher der Stadtpolizei Zürich.
Polizei bewegt sich im Blindflug
Für das «Anschaffen in illegaler Zone» erhebt das Stadtrichteramt grundsätzlich eine Busse von 200 Franken, 250 Franken Bearbeitungsgebühren kommen hinzu. Bei 491 Übertretungen im Jahr 2018 wäre das rein rechnerisch ein Betrag von 220'950 Franken. Bussen können jedoch aufgrund von Vorstrafen höher ausfallen. Und weder gibt es neuere Zahlen noch führt das Stadtrichteramt eine Statistik.
Auch die Stadtpolizei bewegt sich sozusagen im Blindflug. Zur Anzahl der Sexarbeitenden an der Langstrasse kann sie keine Angaben machen. Zwar führen die Beamten eine «Milieudatenbank». Die erfasst aber nur Sexarbeitende, die sich selbst gemeldet haben oder kontrolliert wurden. Zudem herrscht reges Kommen und Gehen. «Es ist deshalb von einer Dunkelziffer auszugehen», räumt Polizeisprecher Surber ein.
Nicht alle sind mit weniger Polizeieinsätzen einverstanden. Auch das Konzept der Entkriminalisierung ist umstritten: Von einer offiziellen Strassenstrichzone würden lediglich Zuhälter und Freier profitieren, das Grundproblem bleibe jedoch bestehen: Sexarbeitende würden weiterhin ausgebeutet. Als prominente Gegnerin einer Liberalisierung gilt die Berner EVP-Nationalrätin Marianne Streiff-Feller: «Ich würde das Schwedenmodell unterstützen. Man kriminalisiert dabei nicht die Frauen, sondern die Freier. Zugleich verbietet man den Kauf von Sex.»
Dass die Prostitution durch diesen Paradigmenwechsel in den Untergrund abdriftet, glaubt Streiff nicht. «Wenn die Freier die Prostituierten finden, dann findet die Polizei sie ebenfalls.»
Entscheidungsträger schauen weg
Schwedenmodell oder Entkriminalisierung – die Vorschläge zur Eindämmung des Wildwuchses gehen in entgegengesetzte Richtungen. Aber beide Lager sehen den Strich an der Langstrasse als ungelöstes Problem.
Der Gemeinderat der Stadt Zürich debattierte 2015 über die Bewilligung einer Strassenstrichzone auf einzelnen Abschnitten der Langstrasse. Das Postulat ist damals bei einer Enthaltung mit 58 zu 61 abgelehnt worden. Auch der Vorsteher des Polizeidepartements lehnte das Postulat ab – im Namen des Stadtrats. Seither ist nichts geschehen. Der Strassenstrich hat die Langstrasse fest im Griff. Die Polizei kassiert gelegentlich Bussen. Und die Entscheidungsträger schauen weg.
So wie die Partygänger, wenn wieder eine Frau mit einem Freier in der Dunkelheit verschwindet.