Präsidentin der Frauenzentrale plädiert für mehr Menschenwürde
«In einer gleichberechtigten Gesellschaft hat Prostitution keinen Platz»

Es geht nicht um Moral bei der Prostitution, sondern um Menschenwürde und das Verhältnis der Geschlechter, sagt die Präsidentin der Zürcher-Frauenzentrale Andrea Gisler.
Publiziert: 20.05.2018 um 12:11 Uhr
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Aktualisiert: 13.09.2018 um 01:00 Uhr
Aline Wüst

In vielen europäischen Ländern wird über Prostitution diskutiert. In der Schweiz nicht. Warum?
Andrea Gisler: Das frage ich mich auch. Vielleicht, weil hier viele Leute sehr viel Geld damit verdienen, oder weil es sich bei den Prostituierten fast ausnahmslos um Migrantinnen handelt, also um Frauen ohne Lobby. Vielleicht auch, weil der Wille fehlt, hinzuschauen.

Sie, Frau Gisler, scheuen sich nicht, hinzuschauen.
Ja, weil es nicht sein kann, dass wir so tun, als sei Pros­titution etwas völlig Normales und dabei auch noch schönfärberisch von Sexarbeit reden. Das ist doch verharmlosend.

Was finden Sie problematisch an diesem Begriff?
Wir tun damit so, als sei Prostitution ein Geschäft auf Augenhöhe. Wäre das so, könnten sich Männer ohne weiteres als Freier outen. Das tun sie aber nicht.

Was stört Sie daran, wenn Frauen selbstbestimmt Prostitution ausüben?
Es geht mir bei diesem Thema keineswegs um Moral. Es geht mir um Menschenwürde. In einer gleichberechtigten Gesellschaft hat die Prostitution keinen Platz. Solange eine Gesellschaft Prostitution als normalen Job akzeptiert, wird es keine Gleichberechtigung geben.

Das ist eine steile These.
Die Prostitution nährt doch ein bestimmtes Frauenbild in unserer Gesellschaft: Frauen kann man wie ein Konsumgut kaufen, mittlerweile sogar zu Dumpingpreisen.

Der Freier kauft eine Dienstleistung, keine Frau.
Dieses Argument kommt immer wieder. Haben Sie sich schon einmal Freier-Foren im Internet angeschaut?

Ja, das haben wir.
Dann haben Sie ja sicher auch gelesen, wie abschätzig die Männer da über die Frauen reden – als wären sie eine Ware. Ausserdem wird bei der Prostitution die ganze Frau berührt, und zwar in ihrem intimsten Bereich. Die «Dienstleistung» kann nicht so einfach von der Frau getrennt werden. Viele Frauen schaffen das nur unter Einfluss von Suchtmitteln, viele erleben Gewalt. Es gibt Studien, die das zeigen. Aber ­eigentlich braucht es keine Studien, es reicht, einfach das Hirn einzuschalten.

Und sich was zu fragen?
Zum Beispiel, ob der Körper einer Frau für Dauer-Geschlechtsverkehr überhaupt gemacht ist, und was die psychischen Folgen sind. Bei den Bauarbeitern schaut man auf den Gesundheits- und den Sicherheitsaspekt. Die Gesundheit der Prostituierten scheint niemanden zu kümmern.

Wir haben in der Schweiz eines der liberalsten Prostitutionsgesetze der Welt. Länder wie Schweden verfolgen einen anderen Ansatz: Dort macht sich der Freier strafbar, die Prostituierte nicht. Wünschen Sie sich dieses Modell für die Schweiz?
Es geht mir nicht darum zu sagen, dass wir jetzt sofort dieses nordische Modell auch bei uns einführen sollen! Obwohl der Europarat bereits 2014 seinen 47 Mitgliedstaaten empfohlen hat, nach dem Vorbild Schwedens den Kauf sexueller Dienstleistungen zu verbieten und Freier zu bestrafen.

Worum geht es dann?
Ich will, dass wir in der Schweiz endlich das gesamte System der Prostitution hinterfragen und uns Fragen stellen.

Welche Fragen?
Hat Prostitution Platz in einer modernen, gleichberechtigten Gesellschaft? Ist Prostitution vereinbar mit der Menschenwürde? Was sagt die Prostitution über das Verhältnis der Geschlechter aus? Wie sollen Freier zur Verantwortung gezogen werden?

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