Schwester Ariane (48) organisiert die Lebensmittelhilfe an der Zürcher Langstrasse
Sie hilft unseren Ärmsten

Abend für Abend stehen Menschen in Zürich stundenlang für eine warme Mahlzeit an. Die Essensausgabe haben Schwester Ariane und der Küsnachter Pfarrer Karl Wolf organisiert. Die Bedürftigen in der Reihe nennen sie ihre Freunde. Hat das etwas mit Ostern zu tun?
Publiziert: 02.04.2021 um 16:13 Uhr
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Aktualisiert: 03.04.2021 um 10:08 Uhr
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Schwester Ariane versorgt mit ihrem Verein Incontro Menschen in Not.
Foto: Thomas Meier
Aline Wüst

Die Helfer sind bereit. Schwester Ariane (48) auch. «Der Kern unserer Arbeit ist Begegnung und Freundschaft. Wir missionieren nicht», sagt sie. Und auch, dass ihr ein Mann am Tag zuvor erzählt habe, dass er früher ehrenamtlich bedürftigen Menschen half. Jetzt stehe er selber hier. Er sagte, er schäme sich so. Sie gibt ein paar letzte Instruktionen, dann machen sich die rund 20 Freiwilligen mit ihren Wägeli voller Lebensmittel auf den Weg. Jeden Abend seit dem ersten Lockdown verteilen Schwester Ariane und der Küsnachter Pfarrer und Psychoanalytiker Karl Wolf (66) im Zürcher Quartier warme Mahlzeiten. Die Menschen stehen bereits in der Reihe. Manche seit Stunden. Von überallher tönt es: «Hallo Schwester!» Schwester Ariane grüsst viele mit Namen. Ganz vorne wird die mobile Mensa aufgebaut. Schwester Ariane und Karl Wolf übergeben die Mahlzeiten und – für sie fast wichtiger – lachen, scherzen, hören zu und nehmen Anteil.

350 Mahlzeiten sind zu verteilen. Es reicht nicht für alle. Doch Lebensmittelpakete sind noch übrig. Schwester Ariane bittet eine Gruppe Helfender, einen Teil davon zu den Drogensüchtigen und Obdachlosen zu bringen. Die anderen will sie in den Bordellen verteilen. «Die Frauen brauchen das dringend.» Die Säcke werden auf Wägeli verladen. Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf steuern durch das Langstrassenquartier. Sie telefonieren, klopfen an Fenster, klingeln an unscheinbaren Türen, betreten die Bordelle. Die beiden unterhalten sich mit den Frauen, hören zu. Lassen Lebensmittelsäcke da. Es ist halb elf, als sie fertig sind und in ihrem Lokal ankommen. In dem Lokal können sich Bedürftige auch tagsüber treffen. Beide sind erschöpft. Sie trinken ein Glas Orangina.

Schwester Ariane und Karl Wolf, Sie hätten heute Abend gemütlich zu Hause sitzen können. Weshalb waren Sie stattdessen auf der Gasse?
Karl Wolf: Das gehört zu meinem Selbstverständnis, meiner Biografie und meiner Gottesbeziehung. Wen hat Jesus eingeladen? Die von der Gasse. Bei wem war er? Bei denen von der Gasse. Bei den Kranken, Marginalisierten, Weggedrückten. Ich kann meinen Glauben gar nicht anders verstehen. Es ist aber nicht so, dass ich einfach nur gebe. Ich bekomme so viel zurück von den Menschen, denen ich auf der Gasse begegne.

Wer sind diese Menschen?
Schwester Ariane: Unsere Freunde.

Aber weshalb stehen sie in dieser Schlange?
Wolf: Wir haben von der Stadt die letzten Monate Lebensmittelgutscheine à 20 Franken bekommen, um sie zu verteilen. Wir verbinden mit der Verteilung jeweils eine anonyme Befragung und erhalten dadurch Daten. Fünfmal haben wir das bereits getan. Ein Riesenaufwand. Aber wir können nun dafür konkreter sagen, wo die Not ist.

Und wo ist die Not?
Schwester Ariane: Die Arbeitslosigkeit ist seit Dezember gestiegen. Und zwar bei den Familien im Dienstleistungssektor, vor allem bei Serviceangestellten und Reinigungskräften. Betroffen sind vor allem Migranten mit vielen Kindern. Die letzte Auswertung zeigte, dass 400 Kinder hinter den Menschen sind, die bei uns anstehen. Das ist ganz eine andere Situation als vor einem Jahr. Ein afrikanischer Vater fragte Anfang Woche nach drei Mahlzeiten. Ich erfuhr, dass sie zu sechst sind zu Hause. Ich sagte: «Das reicht doch nicht.» Er: «Schau doch, wie viele Menschen hier in der Reihe stehen. Ich gebe zuerst meinen Kindern und esse selber, was übrig bleibt.»

Wolf: Ich weiss, dass es Altersarmut gibt. Hier aber deutet sich Kinderarmut an.

Wonach sehnen sich diese Menschen?
Wolf: Nach jemandem, der sie nicht abwertet und entwertet, sondern liebevoll anschaut und einen Augenblick Zeit hat, um zuzuhören. Auf Augenhöhe mit einer Frau aus dem Milieu zu sprechen beispielsweise, mit ihr nachzudenken. Ich kann ihre Probleme oft nicht lösen. Aber ich kann sie ihren ganzen Kübel über mir auskippen lassen, damit sie etwas erleichtert wieder gehen kann. Zurück in die Misere. Aber gestärkt durch die Begegnung. Und vielleicht kann sie dadurch selber das eine oder andere regeln.

So simpel? Zuhören hilft?
Wolf: Davon bin ich überzeugt. Sprechen hilft. Hören hilft. Dabei kommt innerlich etwas in Bewegung. Es entstehen Ideen, um dann Konkretes zu tun.

Schwester Ariane: Das ist die Chance der Krise. Sich zu fragen: Was ist in meinem Herzen? Es ist die Sehnsucht, geliebt zu werden und zu lieben. Aus dieser Erkenntnis heraus dann wiederum dem anderen zu begegnen und zu merken: Der ist wie ich. Er ist Bruder und Schwester. Und es kann mir nicht egal sein, wie es ihm geht. Daraus entsteht echte Solidarität und Menschlichkeit.

Sie wurden im Frühling gebeten, Prostituierte, die in Quarantäne waren, im Haus oberhalb einer Bar an der Langstrasse zu betreuen. Was haben Sie mit diesen Frauen erlebt?
Schwester Ariane: Karl und ich sind ja zusammen mit vielen Freiwilligen schon seit dreieinhalb Jahren auf der Gasse. Es ist uns aber nicht gelungen, zu den Frauen des afrikanischen Kontinents wirkliches Vertrauen aufzubauen. Sie haben oft Schlimmes erlebt. Während der Quarantäne haben wir jeden Tag vier bis sechs Stunden mit ihnen verbracht. Die ersten drei Tage waren ein Ringen. Menschenhandel ist an der Langstrasse ein Thema. Sie hatten Angst vor der Polizei, vor einer Rückführung. Das ganze Haus hat einfach nur geschrien. Am dritten Abend baten sie uns, mit ihnen zu beten. Es kam nicht von uns aus. Sie sagten: «Wir brauchen Gott.» Also haben wir gebetet. Da gab es eine Wende.

Wolf: Es hat sich beruhigt, weil das gegenseitige Vertrauen gewachsen ist. Seither haben wir einen engen Kontakt. Es gibt Frauen, die mir jedes Mal wieder etwas mehr aus ihrem Leben erzählen. Tatsache ist aber, dass Frauen im Milieu immer wieder versetzt werden, damit sie nirgends eine Beziehung aufbauen können. Es ist ein System. Übrigens auch bei den Frauen aus Osteuropa, sie werden zwischen der Schweiz, Österreich und Deutschland herumgeschoben. Doch jedes Mal, wenn sie wieder in Zürich sind, können sie bei uns anknüpfen. Das ist sehr wichtig.

Prostitution wird vom Staat als normale Arbeit angesehen. Das passt nicht zu dem, was Sie schildern.
Wolf: In meiner Tätigkeit als Psychoanalytiker erlebe ich Patienten, die sich aus einer frühen Traumatisierung heraus selber schneiden. Sie schneiden sich bis auf die Knochen, um sich zu spüren und in ihren Körper zurückzukommen. Ein Mensch kann also in einer Verfassung sein, in der er sich selber zerstört. Viele Frauen im Milieu haben traumatische Erlebnisse in ihrer Biografie. Und sie erleben Männer, die etwas mit ihrem Körper machen, das sie nicht ertragen. Also gehen sie aus dem Körper raus, spalten ab. Das als normal zu bezeichnen, wird dem Menschen nicht gerecht. Es bagatellisiert eine Wirklichkeit, die schrecklich ist für die einzelne Person.

Schwester Ariane: Heute sprach ich mit einer Frau aus Osteuropa. Sie erzählte mir, dass sie seit 19 Jahren an schweren Depressionen leidet, zwei Kinder hat. Von Depressionen erzählen uns fast alle Frauen. Es heisst, Prostitution sei selbstbestimmt, eine Arbeit wie jede andere. Warum treibt es die Frauen dann in die Depression? Warum fragen sie uns ständig nach einer anderen Arbeit? – und das nicht erst seit Corona. Was würden Sie einem Menschen sagen, der Ihnen erzählt, dass seine Arbeit ihn zerstört, ihn in tiefste Verzweiflung und Abgründe stürzt? Die Osteuropäerinnen sind oft sehr jung. Sie haben oft keine Familie. Die Zuhälter – und das sind sowohl Männer als auch Frauen – werden zu ihrer Familie.

Was meinen Sie mit traumatischen Erfahrungen?
Wolf: Sexuelle Übergriffe, Gewalt verbunden mit Sexualität, Vergewaltigungen. Von Vater und Mutter verstossen als Kind, nicht wissen, wo man hingehört.

Schwester Ariane: Oder Gewalt in der Ehe. Eine Frau wurde von ihrem Ehemann fast totgeschlagen und ist später in die Prostitution gegangen. Zu denken gibt mir, dass verschiedenste Frauen und Männer aus dem Milieu fast wörtlich das Gleiche sagen. Das erste Mal hörte ich es, als ich mit einer Frau im Spital war. Sie hatte einen Hirntumor. Ich hielt ihre Hand, sie weinte und sagte: Die Prostitution hat meinen Körper zerstört, mein Denken, meine Seele.

Wie gehen Sie mit solchen Situationen um?
Schwester Ariane: Wenn du diese Frauen zum ersten Mal siehst, lächeln sie ja meist. Wenn sie irgendwann sagen, wie sie sich wirklich fühlen, sie zulassen können, was in ihnen ist und was geschehen ist, sind das für mich heilige Momente. Ich lasse das zuerst einfach so stehen. Erst in einem nächsten Schritt geht es darum, gemeinsam einen Weg zu finden.

Wolf: Der Spannungsbogen ist, dass wir wunderbaren Menschen begegnen. Diese Frauen haben Wärme und eine tolle Persönlichkeit. Zu sehen, wie sie ausgebeutet, herumgeschoben und nicht wie Menschen, sondern als Ware behandelt werden, schmerzt. Man muss es benennen als das, was es ist: die Zerstörung von Menschen.

Hat Ihr Engagement etwas mit Ostern zu tun?
Wolf:
Es gibt einige Menschen, die am Boden lagen und wieder aufgestanden sind. Sie haben erste Schritte gemacht – haben eine Wohnung, lernen Deutsch. Andere, die sich aus dem Milieu aufgemacht haben, begleiten wir, um tatsächlich zu einem neuen Leben auferstehen zu können.

Schwester Ariane: Auf der Gasse sind die Wunden offensichtlich. Es gibt oft Begegnungen, bei denen man die Wunden des anderen berührt oder die eigenen Wunden zeigen darf. Da kommt mir Jesus in den Sinn, der als Auferstandener den Jüngern erschien und ihnen seine Wunden zeigte. Thomas durfte sie berühren. Einander die Wunden zu zeigen und nichts zu verbergen, das bringt Heilung und Befreiung. Letzte Woche trafen wir vor einem Bordell eine junge drogensüchtige Frau – schwer krank, 27 Kilogramm wiegt sie noch. Sie spüre, dass sie bald sterbe, sie habe solche Schmerzen, sagte sie. Ich fragte, ob sie Angst vor dem Tod habe. Sie antwortete: «Nein. Ich werde Gott sehen.» Ihre Augen leuchteten. Das ist für mich wie Ostern. Das neue Leben wird sichtbar. Hoffnung in Dunkelheit und Schmerz.

Sie decken mit Ihrer Arbeit Lücken im System auf. Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Wolf:
Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung, Krankenkasse und Geld müssen kostenlose medizinische Hilfe bekommen. Die Stadt hat das versprochen. Schicken wir die Frauen aber zum entsprechenden Angebot, stehen sie nach zehn Minuten wieder da und sagen, dass es nicht kostenlos ist. Wir wünschen uns, dass die Stadt hier Wort hält. Ausserdem braucht Zürich einen Armutsbericht.

Schwester Ariane: Die Umfragen zur Situation sind wichtig. Aber wir müssen auch entsprechend handeln. Die Not ist jetzt. Die Leute sind jetzt am Ende. Heute hat mir eine Mutter in der Reihe erzählt, dass sie sich ständig erbrechen müsse. Sie habe so einen Stress, ihre Familie durchzubringen. Zweitens: Wir brauchen Ausstiegshilfen für die Frauen und Männer aus dem Milieu.

Was wünschen Sie sich?
Schwester Ariane: Die Schweiz hat eine lange Tradition, was humanitäre Einsätze betrifft. Durch die Corona-Krise müssen wir lernen, langfristig solidarisch zu sein. Machen wir einen Aufruf für Lebensmittelpakete, haben wir zwei Wochen genug. Dann sind unsere Lager wieder leer. Warum also, wenn ich posten gehe, nicht gleich noch für jemanden einkaufen, der es gerade schwer hat? Um sich so ganz praktisch mit den Menschen am Rand zu solidarisieren.

Wolf: Wenn es wieder möglich ist, wünsche ich mir ein grosses Fest! Ein Fest mit allen Menschen, die jemals in der Reihe standen.

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