Amine Diare Conde (22) schläft nicht gut. Seit Tagen. Denn es werden immer mehr. Immer mehr Menschen. Auch heute stehen sie wieder draussen, Hunderte mit ihren Einkaufstaschen oder Wägelchen, und warten auf Einlass.
Conde checkt eine seiner Listen: «155 Neue.» So geht das Woche für Woche. Der junge Mann lächelt schüchtern, wie er eigentlich immer lächelt und weshalb ihn manche schon den «Dalai Lama von Zürich» nennen, was ihm eher peinlich ist. Er lächelt also und erklärt: «Ich will, dass sich hier jeder wohlfühlt.» Man fragt sich nur, wie wohl ihm selber gerade ist.
Diese Geschichte dürfte es gar nicht geben. Nicht in der reichen Schweiz. Conde, aus Guinea geflohen, verteilt Lebensmittel an alle, denen es noch schlechter geht als ihm. An Sans-Papiers, Flüchtlinge, Obdachlose und alle, die das Coronavirus und der Lockdown noch tiefer ins Elend gestürzt haben. Seit einem halben Jahr sammelt er Spenden und verteilt mit freiwilligen Helfern Essen. «Essen für Alle» heisst die Aktion.
Als in Genf Tausende für gratis abgegebene Nahrungsmittel anstanden, staunte der Rest des Landes. Und fragte sich, wie es dort so weit kommen konnte. Vielleicht aus dem gleichen Grund, warum sich die Szene nun in Zürich wiederholt. Weil dies am Ende politisch so gewollt ist.
Manche gehen leer aus
Auch am Samstag stehen an der Zürcher Hohlstrasse wieder Hunderte für Reis, Zwiebeln und Speiseöl an. Für diese Woche hat Conde 7500 Franken aufgetrieben. Damit kauft er Grundnahrungsmittel, Warenspenden des Detailhandels kommen hinzu. Sechs Stunden lang wird verteilt. Oft wartet einer für die ganze Familie. 1500 werden am Ende da gewesen sein. Pechvögel gehen manchmal leer aus. Es ist dann schlicht nichts mehr da.
Es kommen Menschen wie Fatima E. (42), Kurdin aus Syrien. Sie arbeitete in der Reinigung und Wäscherei eines Altersheims. Bis sie wegen der Corona-Krise entlassen wurde: «Ich würde so gerne irgendwo arbeiten.» Die Frau hat vier Kinder. Rasch packt sie einen Becher Joghurt in ihre Tüte. Es war der letzte mit Erdbeergeschmack.
«Ich will helfen», sagt der Knabe mit der Brille und den dünnen Armen. Er heisst Aymen, sechs Jahre ist er alt. Man sorgt sich um seine Gesundheit, wenn er eine der schweren Kisten stemmt. Seine ganze Familie, die aus dem Irak flüchtete, ist heute da, alle helfen mit. Die Mutter füllt Reis ab, immer ein Kilo pro Person, bis 1,5 Tonnen verteilt sind.
«Scheissausländer», schimpft die Frau in Rot, die in der Warteschlange steht und frustriert einen Denner-Sack wegtritt. Sie habe den Schweizer Pass, sagt sie. Die andere ja wohl nicht, drängle sich aber immer vor. Die andere Frau spielt das Unschuldslamm. Die Szene spiegelt vor allem Verzweiflung. Auch darüber, hier stehen zu müssen. Man könnte das Ganze leicht als rassistisch aufgeladenen Futterneid abtun. Allerdings sind sich im Lockdown manche auch wegen WC-Papier in die Haare geraten.
Manchmal wirkt Amine Diare Conde in diesem Pandämonium ein wenig verloren. Er ist zwar ganz offensichtlich ein Organisationstalent, schultert hier aber eine ziemliche Bürde. Seit Juli trägt das Sozialwerk Pfarrer Sieber die Verantwortung für das Projekt, entlastet Conde finanziell und administrativ. Vielleicht wird ihm sogar bald der Prix Courage verliehen. Der junge Mann lächelt nun wieder etwas verlegen, wie er eigentlich immer lächelt, und macht dann einfach weiter.
Eine Familie aus Sizilien gibt alles
Nicoletta Panebianco (44) greift nach dem Besen, eine zierliche Frau, jeder Zentimeter aufrechte, federnde, stolze Italianità. Woher sie ihre Energie nimmt, kann sich die Putzfrau selber nicht erklären. An den fünf Stunden Schlaf könne es jedenfalls nicht liegen, meint sie und zuckt mit den Schultern. Im Moment arbeitet sie sechs bis sieben Tage die Woche. Ihre Kinder – 10, 12, 15 Jahre alt – sieht sie nur morgens und abends. Sie schuftet, um Geld auf die Seite legen zu können, falls «das» wieder passiert.
Damit meint sie den Lockdown. Das Hotel, in dem sie damals saubermachte, schloss zunächst für zwei Wochen, dann wurde Kurzarbeit eingeführt. Bei einem Brutto-Stundenlohn von 19.10 Franken bleibt da kaum etwas übrig. «Viel arbeiten für wenig Geld», nennt sie es. Aber die Kündigung war unausweichlich. Die Frist betrug einen Monat. Nicoletta Panebianco war sehr besorgt.
Familie Panebianco kam aus dem italienischen Catania nach Zürich, um nochmals neu anzufangen. Ihr Leben in Sizilien war prekär, sie arbeitete bis zu 13 Stunden täglich, am Ende des Monats blieb trotzdem nichts übrig. Sie drängte ihren Mann Francesco (51), Maschinenführer auf dem Bau, fortzugehen. Er zögerte, sagte, er sei zu alt für einen Neustart. Aber eben, die Frau hat Energie.
Nun leben sie seit vier Jahren in der Schweiz. Mit dem Lockdown kam die Angst von früher zurück. Das Geld wurde weniger, die Rechnungen für Krankenkasse, Miete, Telefon blieben die gleichen. Der Kinderhort liess sie die Rechnungen in Raten zahlen. Sie hatten ein wenig Erspartes, irgendwie kamen sie durch. Manchmal ist es ein schmaler Grat.
Mittlerweile hat Nicoletta Panebianco Arbeit in einer Reinigungsfirma gefunden. Zu einem besseren Tarif und erst noch näher von zu Hause, die Gewerkschaft Unia half ihr dabei. «Ich hatte Glück», sagt sie. Heimkehren nach Sizilien ist für sie keine Option. Dürfte sie sich etwas wünschen, wäre sie gern Verkäuferin. Bis dahin: Deutsch lernen, arbeiten, sparen. Falls ein zweiter Lockdown kommt, will sie vorbereitet sein.
Das Geschäft mit Krediten brummt
Er trägt Turnschuhe, einen Bart, dafür keine Krawatte. Mit dieser Kombination verkörpert er das Klischee des erfolgreichen, aber lässigen Firmengründers natürlich vollkommen: Willkommen bei einem Gewinner der Krise! Bart wie Turnschuhe trage er aus «Bequemlichkeit», erklärt Stefan Mühlemann (48), grosse Statur, leises Baseldeutsch, und lächelt milde.
Mühlemann durchschreitet sein Reich leicht hinkend. Sein Muskelkater verrät, dass man sich von Bart und vorgeschobener Bequemlichkeit nicht täuschen lassen sollte. Der Mann wagt sich an Viertausender heran. In seiner Freizeit und geschäftlich.
«Ja, wir sind ein Corona-Profiteur», sagt er völlig ironiefrei und meint damit das Unternehmen, das er vor vier Jahren gegründet hat. Loanboox, 50 Leute in fünf Ländern, vermittelt Kredite zwischen Spitälern, Gemeinden oder Firmen und Geldgebern wie Banken und Pensionskassen.
Früher, in der alten Welt, schickte eine Gemeinde, die ein neues Feuerwehrhaus brauchte, ihren Finanzverwalter zur Hausbank. Was einen Kredit zu bestimmten Konditionen und Laufzeiten ergab. Manchmal holte der Finanzverwalter auch Offerten anderer Banken ein. Das war aufwendig und zeitraubend. Die Gemeinde konnte aber auch einen teuren Broker die Arbeit machen lassen.
Mühlemann ist die neue Welt. Seine Onlineplattform funktioniert wie der Vergleichsdienst Comparis. Auf diese Weise wird die Geldbeschaffung für die öffentliche Hand transparenter – vor allem günstiger. Der Dienst ist kostenlos, bei Kreditabschlüssen verdient Loanboox einen Basispunkt (0,01 Prozent) pro Laufzeitjahr. Bei einer Million für ein Jahr gehen also 100 Franken an Loanboox.
Wegen der Krise laufen die Geschäfte vieler Firmen schlecht. Es kommt zu Steuerausfällen. Die wiederum bringen Gemeinden in die Bredouille, die sich mit Krediten behelfen müssen. «Corona gab uns einen Schub», sagt Mühlemann. Im Lockdown habe sich das Volumen auf der Plattform verdreifacht.
Die Pandemie ist für seine Firma «eine Art glücklicher Zufall». Ein moralisches Dilemma sieht er darin nicht. Im Gegenteil: «Weil wir die besten Konditionen anbieten, sparen die Steuerzahler Geld.»
Seine Neider sitzen am Paradeplatz
Während sein Laden brummt, kraxelt der Patron in den Alpen herum und meditiert. Nach überstandener Covid-Erkrankung im Frühjahr nahm der Familienvater die lang ersehnte Auszeit. «Zum ersten Mal im Leben nehme ich mir Zeit für mich», sagt der Unternehmer, der sich als rastlosen und getriebenen Menschen bezeichnet.
1995 war es, als er seine erste Firma gründete, mittlerweile ist es der grösste Essenslieferdienst in Basel. «Immer wurde ich von den etablierten Playern belächelt», lächelt Mühlemann nun zurück. Mehr als hundert Jobs habe er geschaffen, darauf ist er stolz. Natürlich erlebe er viel Neid. Derzeit sitzen seine Neider wenige Hundert Meter entfernt, drüben beim Paradeplatz.
Eine Corona-Steuer für Krisengewinnler lehnt Mühlemann ab. Ohnehin wären bei ihm «höchstens ein paar Hunderter» zu holen, sagt er nüchtern, denn Gewinn wirft sein Start-up noch nicht ab. Andererseits würde er Verlierer der Pandemie «nicht übertrieben unterstützen. Kranke Firmen künstlich am Leben zu erhalten, bringt ja nichts.»
Dennoch seien ihm die Menschen nicht egal, viele müssten sich nun einfach neu orientieren. Klar habe er schon erlebt, wie manche aus Angst um ihren Job die Digitalisierung bremsen. Er versteht diese Angst sogar, nur «entspricht sie nicht meinem Naturell».
Bei seiner Firma geht es jetzt ums Optimieren und Wachsen. Dafür sei er ungeeignet, er hat nun einen CEO eingestellt. Und irgendwann, wenn der passende Käufer kommt – einer, der auch der Gesellschaft etwas bringe –, könnte er die Firma verkaufen. Er wäre ein weiterer Firmenguru, dessen Start-up zwar noch keinen Gewinn abwirft, aber ein derart revolutionäres Potenzial birgt, dass der Gründer über Nacht ausgesorgt hat.
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