Frau Pinto, in den Kommentarspalten dominierte die Empörung über den Abbruch des Konzerts in der Brasserie Lorraine in Bern. Was war Ihre erste Reaktion, als Sie davon erfuhren?
Jovita Pinto: Ich war genervt und hoffte, das Thema werde bald wieder verschwinden. Wir sind mitten im Sommerloch, Skandale generieren Klicks.
Warum hofften Sie, das Thema würde bald wieder verschwinden?
Diese Art der Debatte bringt Menschen, die Rassismus erfahren, keinen Nutzen. Im Gegenteil. Skandalisiert wird der Abbruch des Konzerts, damit werden weisse Menschen als Opfer dargestellt.
Sie sagen, der Fokus ist falsch?
Absolut. Die Berichterstattung impliziert, dass Menschen, die der Mehrheitsgesellschaft angehören, wegen einer Debatte über Dreadlocks in ihrer Existenz bedroht sind. Das ist eine Bagatellisierung von Rassismus.
Wie meinen Sie das?
Bei Rassismus geht es um strukturelle Ungleichheit: Darum, dass Menschen aufgrund ihrer Kultur, Religion oder Körper nicht denselben Zugang zu Bildung, Wohnraum oder ökonomischen Mitteln haben. Weisse können Nachteile erleben, aber nicht, weil sie weiss sind.
Machen wir einen Schritt zurück: In der aktuellen Debatte ist viel von kultureller Aneignung die Rede. Was bedeutet der Begriff?
Von kultureller Aneignung spricht man, wenn eine dominante Kultur gewisse Aspekte eines benachteiligten Teils der Gesellschaft übernimmt, sie wieder verwendet und daraus Profit schlägt.
Es geht also um ein Machtgefälle: Dass die Mehrheitsgesellschaft sich bei einer Minderheit bedient und von deren Ideen und Kultur profitiert?
Genau. Aber lassen Sie mich etwas ausholen.
Bitte.
Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen kultureller Aneignung und Kolonialismus. Die Idee, an fremde Orte zu gehen und die Menschen, Länder und Ressourcen vor Ort zu besitzen, verkaufen und daraus Profit zu schlagen, ist Teil der kolonialen Logik. Das betrifft nicht nur Rohstoffe, sondern eben auch Kultur. Man hat Lebensweisen abgewertet, zerstört und gleichzeitig Teile davon übernommen. Kulturelle Aneignung und Enteignung muss man zusammendenken.
Jovita dos Santos Pinto (38) ist Gender- und Rassismusforscherin. Sie schreibt ihre Dissertation an der Uni Bern und befasst sich dort mit dem Thema «Postkoloniale Öffentlichkeiten und Schwarze Frauen in der Schweiz». Sie lebt im Kanton Zürich.
Jovita dos Santos Pinto (38) ist Gender- und Rassismusforscherin. Sie schreibt ihre Dissertation an der Uni Bern und befasst sich dort mit dem Thema «Postkoloniale Öffentlichkeiten und Schwarze Frauen in der Schweiz». Sie lebt im Kanton Zürich.
Zurück zum Vorfall in der Brasserie Lorraine: Ist es aus Ihrer Sicht ein Problem, wenn weisse Menschen Dreadlocks tragen?
Ich will niemandem vorschreiben, was er zu tun hat. Wichtig ist: Dreadlocks haben eine Geschichte. Sie wurden in den 60er-Jahren zu einem globalen Symbol von schwarzem Widerstand, im Kampf gegen die jahrhundertelange Entmenschlichung. Als die Reggae-Musik im Laufe der 70er-Jahre nach Europa überschwappte und Dreadlocks von der europäischen Jugendkultur aufgenommen wurden, gab es teils eine Solidarisierung mit schwarzen antikolonialen Bewegungen. Gleichzeitig kam die Frage auf, wie man sich solidarisch zeigen soll: Setzen sich weisse Menschen mit der Tatsache auseinander, dass sie von rassistischen Strukturen bevorzugt werden? Und ist es Solidarität oder Aneignung, wenn Weisse Dreadlocks tragen? Denn sie tragen eine Frisur, für deren Tragen schwarze Menschen diskriminiert werden. Diese Debatte war auch der Grund, warum viele Weisse irgendwann entschieden, keine Dreadlocks mehr zu tragen.
Eine weitere Kritik am Konzert in der Brasserie Lorraine betraf das Genre: dass weisse Menschen Reggae-Musik spielen. Ist Musik denn nicht für alle da?
Natürlich gab es schon immer einen kulturellen Austausch. Die Frage, die man sich stellen muss, ist die Frage der Macht: Es gibt Leute, die durch den Austausch ihr Wohlfühlgefühl erweitern – und andere, denen die Lebensgrundlage wegbricht. Das berühmteste Beispiel ist Elvis Presley. Von ihm wissen wir, dass er eins zu eins Lieder von schwarzen Künstlern geklaut und damit Geld verdient hat und von der Mehrheitsgesellschaft als innovativ gefeiert wurde. Es waren dieselben Lieder, die, wenn sie schwarze Künstler spielten, als Lärm betitelt und nicht am Radio gespielt wurden. Beim Hip-Hop war es ähnlich: Die Musik wurde in jenem Moment zum Mainstream, in dem weisse Künstler mit Rappen anfingen.
Aber sollen Weisse denn nur noch Volksmusik machen dürfen? Das ist ja auch keine Lösung.
Nein. Aber wenn man Musik von marginalisierten Menschen übernimmt, kann man sich als Künstler beispielsweise dafür einsetzen, dass nicht-weisse Künstler denselben Zugang zum Konzertlokal bekommen wie man selber. Davon sind wir heute weit entfernt. Schauen Sie sich nur einmal die Bands an, die derzeit auf den Hauptbühnen der Open Airs spielen: Es sind hauptsächlich weisse Männer. Und wenn ich noch etwas anfügen darf …
Ja?
Die Diskussion um kulturelle Aneignung ist wichtig. Woran ich an der aktuellen Debatte aber fast verzweifle: Wir fragen uns nun, was weisse Menschen dürfen und was nicht. Dabei geht es kaum um Menschen, die von Rassismus betroffen sind – Schwarze und andere. Dabei müssten doch diese Menschen im Zentrum stehen. Und wir müssten fragen: Was können wir tun, damit Rassismus ihr Leben nicht mehr einschränkt?