Musikkritiker Bänz Friedli (57) zum Reggae-Eklat in der Brasserie Lorraine
«Wenn wir im Pop Aneignung verbieten wollen, darf es keine Rolling Stones und keinen Eminem geben»

Nach dem Konzertabbruch in Bern erklärt Musikkritiker Bänz Friedli, wieso in der Musik die Diskussion über «kulturelle Aneignung» in die Sackgasse führt.
Publiziert: 27.07.2022 um 18:13 Uhr
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Aktualisiert: 27.07.2022 um 20:31 Uhr
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Musikkritiker Bänz Friedli sagt zum Reggae-Eklat: «Stellt sich da nicht die Frage, wer hier wen diskriminiert?»
Foto: Philippe Rossier
Interview: Benno Tuchschmid

Die Band Lauwarm musste in der Berner Beiz Brasserie Lorraine ein Konzert abbrechen, weil sich Besucher unwohl fühlten. Der Grund: Sie empfanden den Fakt, dass weisse Musiker Reggae spielten als «kulturelle Aneignung». Dürfen weisse Musiker schwarze Musik spielen? Wir haben mit einem der bekanntesten Musikkritiker der Schweiz darüber gesprochen: Autor und Satiriker Bänz Friedli.

Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie vom Konzert Abbruch in der Brasserie Lorraine hörten?
Bänz Friedli: Dass es verflucht knifflig ist. Übertreibt es die «Brass» mit linksalternativem Zeitgeist – oder sensibilisiert sie für etwas, das ich erst viel später begreifen werde? Dort stand schon vor 30 Jahren auf der Menütafel «Kartoffelstock mit totem Tier».

Jetzt aber brach man ein Reggae-Konzert ab, weil Besucher sich über kulturelle Aneignung beklagten! Was sagen Sie dazu?
Die Geschichte der Popmusik ist eine Geschichte der kulturellen Aneignung.

Populär bis kompliziert

Bänz Friedli kommt 1965 in Bern zur Welt und wächst als jüngstes Kind einer Lehrerfamilie in Wohlen BE auf. Von 1983 bis 2005 spricht und schreibt er über Sport und Populärkultur u. a. für das Berner Privatradio Förderband und das Schweizer Nachrichtenmagazin «Facts». Eine grosse Leserschaft erreicht Friedli ab 2000 mit seiner Kolumne «Pendlerregel» für die Gratiszeitung «20 Minuten», ab 2005 mit «Der Hausmann» für das «Migros-Magazin». 2011 tritt er mit seinem ersten Bühnenprogramm «Sy no Frage?» auf und erhält 2015 den Salzburger Stier, den bedeutendsten deutschsprachigen Kleinkunstpreis. «S isch kompliziert» ist Bänz Friedlis fünftes Soloprogramm. Er lebt mit seiner Frau und den beiden erwachsenen Kindern in Zürich.

Erhielt 2015 den Salzburger Stier: der Schweizer Kabarettist Bänz Friedli.
Philippe Rossier

Bänz Friedli kommt 1965 in Bern zur Welt und wächst als jüngstes Kind einer Lehrerfamilie in Wohlen BE auf. Von 1983 bis 2005 spricht und schreibt er über Sport und Populärkultur u. a. für das Berner Privatradio Förderband und das Schweizer Nachrichtenmagazin «Facts». Eine grosse Leserschaft erreicht Friedli ab 2000 mit seiner Kolumne «Pendlerregel» für die Gratiszeitung «20 Minuten», ab 2005 mit «Der Hausmann» für das «Migros-Magazin». 2011 tritt er mit seinem ersten Bühnenprogramm «Sy no Frage?» auf und erhält 2015 den Salzburger Stier, den bedeutendsten deutschsprachigen Kleinkunstpreis. «S isch kompliziert» ist Bänz Friedlis fünftes Soloprogramm. Er lebt mit seiner Frau und den beiden erwachsenen Kindern in Zürich.

Wie meinen Sie das?
Die Rockmusik selbst wäre gar nie entstanden, hätte Elvis sich nicht schwarze Musikkultur angeeignet und daraus mit Versatzstücken aus weissem Country etwas Neues erschaffen. Ihm warfen schwarze Musiker nie Aneignung vor, sie bedankten sich im Gegenteil dafür, dass er kulturelle Schranken eingerissen und ihre Musik gleichsam aus dem Ghetto befreit hätte. James Brown eilte als Erster ans Totenbett, als Presley starb.

Lauwarm singt in Mundart. Ist das vielleicht nochmals etwas anderes?
Auch Mundartrock ist kulturelle Aneignung: Weil Polo Hofer mit Rumpelstilz in den 1970er-Jahren den Sound der amerikanischen Band Little Feat kopierte. Durfte er das? Und durften sich die kalifornischen Little Feat ihrerseits im schwarzen Rhythm ’n’ Bluess und Funk von New Orleans bedienen? Ja. Perkussionist Sam Clayton war schwarz, Bassist Kenny Gradney trug einen Afro und war gemischtrassig. Beide stammten aus Louisiana. Das musikalische Resultat der Vermengung war etwas Neues.

«Das hat uns gröber verletzt»
2:10
Lauwarm-Sänger zum Vorfall:«Das hat uns gröber verletzt»

Also ist es entscheidend, dass Neues entsteht und nicht bloss imitiert wird?
Popmusikalische Entwicklung geschah stets auch durch Übersprünge, selbst Reggae und Ska entwickelten sich in einem Hin und Her zwischen Jamaika und Grossbritannien, Schwarz und Weiss. Die Briten liessen 1962 in Kingston ihr BBC-Equipment zurück – darauf entstanden dann Dub und Reggae. Schon da kamen Strömungen zusammen, das ist ein Fakt.

Fakt ist aber auch, dass immer weisse Künstler die grössten Superstars in schwarzen Musikgenres waren. Elvis im Rock ’n’ Roll. Eminem im Hip-Hop.
Ja, aber Eminem öffnete damit dem Rap Tür und Tor zu den weissen Vorstadtkids. Die begannen sich dann für andere, schwarze Rap-Künstler zu interessieren. Eminem ebnete dem Rap zudem den Weg in die Radios.

Aber können weisse Künstler wie Eminem oder Lauwarm überhaupt Musik spielen, die aus der schwarzen Kultur entstammt?
Darf ein Japaner jodeln? Ja, aber es klingt halt einfach anders. Eminem macht andere Musik, mit anderen Einflüssen, als Jay-Z. Und seine Kindheit war genauso schwierig. Ist das noch schwarze Kultur? Nein, aber es ist Musik.

Wie meinen Sie das?
Wenn wir im Pop Aneignung verbieten wollen, darf es keine Rolling Stones und keinen Eminem geben. Auch keine Tracy Chapman, die als Schwarze Folk singt. Aber: Es entsteht zwangsläufig etwas Neues. Wenn schwarze US-Amerikanerinnen Blues spielen, ist es Ausdruck einer Kultur, erzählt jeder Song wortlos immer auch von Sklaverei und Verschleppung. Wenn Philipp Fankhauser es tut, ist es nur noch Musik. Dennoch darf er doch solidarisch und einfühlsam diese Kultur teilen.

Was heisst das im Fall von Lauwarm?
Inwieweit die Lauwarm-Musiker, die Dreadlocks tragen, sich der Rastafari-Religion zugehörig empfinden, weiss ich nicht. Es ist aber letztlich ihre Sache. Wenigstens sind Lauwarm jetzt weltberühmt. Danke, «Brass» Lorraine!

Also alles gar nicht so schlimm?
Doch. Mich stimmt die ganze Sache nachdenklich. Da versuchen wir in Zeiten gelebter Diversität einerseits, niemanden aufgrund seines Aussehens zu beurteilen – alle sollten so leben, sich so geben können, wie sie sich fühlen. Und gleichzeitig dürfen Weisse keine verfilzten Haare mehr tragen? Stellt sich da nicht die Frage, wer hier wen diskriminiert?

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