Hat die Welt Corona bald im Griff? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält ein Ende der Pandemie nach der derzeitigen Omikron-Welle für möglich. «Es ist plausibel, dass die Region sich auf eine Endphase der Pandemie zu bewegt», sagte der Europa-Chef der WHO, Hans Kluge (53). Blick zeigt, welche Punkte für ein Ende des Corona-Schreckens sprechen.
Übergang von Pandemie zu Endemie
In einer Pandemie infizieren sich weltweit sehr viele Menschen gleichzeitig. Dies, weil ein Erreger neu im Umlauf ist und die Bevölkerung keinen Immunschutz dagegen aufweist. Eine Pandemie zeichnet sich zudem durch viele schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle aus. In der endemischen Phase hingegen ist der Erreger zwar immer noch da, aber viele Menschen haben bereits einen gewissen Immunschutz dagegen aufgebaut – durch eine durchgemachte Infektion oder durch Impfung. Die Folge davon ist, dass weniger Menschen gleichzeitig krank werden. Zudem gibt es weniger häufig schwere Verläufe und weniger Todesfälle. Die Spitäler sind daher weniger stark belastet. Viele Experten – darunter auch Warner wie der US-Präsidentenberater Anthony Fauci (81) oder der deutsche Star-Virologe Christian Drosten (49) – sind der Meinung, dass der endemische Zustand bei Corona inzwischen in greifbarer Nähe ist.
Milde Verläufe bei Infektionen mit hochansteckender Omikron-Variante
Die Omikron-Variante des Coronavirus ist hochansteckend, löst aber bisherigen Erkenntnissen zufolge in der Regel weniger schwere Erkrankungen aus als etwa bei Delta oder dem Urtyp. Gegen Omikron haben in vielen Fällen selbst Geimpfte und Genesene keinen ausreichenden Schutz vor einer Infektion. Grund dafür sind Veränderungen im sogenannten Spike-Protein, mit dem das Virus in die menschlichen Zellen eindringt. Omikron kann deshalb der Immunantwort von Genesenen und Geimpften besser ausweichen als frühere Varianten. Zudem vervielfältigt sich das Virus schneller in Nasenhöhle und Rachen. Somit werden Infizierte leichter infektiös. Mediziner vermuten, dass sich Omikron häufiger symptomlos verbreitet. Das Vordringen des Virus in die unteren Atemwege bis in die Lunge ist hingegen seltener, was einen geringen Anteil an schweren Verläufen zur Folge hat. Aufgrund dieser Eigenschaften könnte Omikron in dieser Pandemie zu so etwas wie einem Glücksfall werden.
Viele Infizierte, verhältnismässig wenige Spitaleinweisungen
Die Infektionszahlen schiessen während der Omikron-Welle in nie dagewesene Höhen. Dieses Bild zeigt sich sowohl in der Schweiz, als auch – teilweise zeitlich versetzt – in anderen Ländern und Weltregionen. Hierzulande liegt die Zahl der Neuinfektionen inzwischen bei täglich um die 40'000 – ein Abflachen der Kurve ist nicht in Sicht. Trotzdem: Die Zahl der täglichen Spitaleinweisungen nimmt ab. Im Winter 2020/2021 zeigte sich diesbezüglich noch ein ganz anderes Bild: Die Zahl der Neuinfektionen überstieg damals höchsten knapp die 10'000-er-Grenze, während pro Tag etwa doppelt so viele Corona-Patienten ins Spital eingewiesen wurden wie heute. Ein noch deutlicheres Bild zeichnet sich bei den registrierten Todesfällen im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion. Diese liegen laut den Angaben des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) seit Anfang 2022 konstant im untersten zweistelligen Bereich, während sie vor einem Jahr teilweise sogar die Hunderter-Grenze überschritt.
Situation in Südafrika, Grossbritannien
Weil die Fälle mit schweren Verläufen und Spitaleinweisungen sowie die Todesfälle während einer Pandemie-Welle zeitlich erst nach dem Anstieg der Neuinfektionen in Erscheinung treten, stellt sich für die Schweiz die Frage, ob dem Land das schlimmste Omikron-Unheil erst noch bevorsteht. Das BAG gibt bereits vorsichtig Entwarnung – trotz explodierender Neuinfektionen. Zu dieser Einschätzung könnte auch die Entwicklung im Ausland geführt haben. Ein Blick in Gebiete, die schon früh von der Omikron-Welle getroffen wurden, ist für die Schweiz wie ein Blick in die Zukunft. In Ländern wie Südafrika oder Grossbritannien sinkt die Kurve der Corona-Neuinfektionen inzwischen drastisch. Die Situation an den Spitälern ist trotz der ausserordentlich hohen Ansteckungsrate durch die Omikron-Variante dort nicht ausser Kontrolle geraten. Als diese Entwicklung in Südafrika offensichtlich wurde, hielten sich Experten zuerst mit Optimismus zurück – die Bevölkerung von Südafrika sei im Schnitt sehr jung, hiess es. Bei der im Vergleich dazu alten Bevölkerung in Europa könnte Omikron schlimmere Konsequenzen zur Folge haben. Mittlerweile zeigt die Hospitalisierungskurve jedoch auch in Grossbritannien nach unten – und Corona-Massnahmen wie Masken-, Zertifiks- und Homeofficepflicht werden je nach Landesteil nach und nach bereits abgeschafft.
Die Rolle der Impfungen
Obwohl eine vollständige Impfung oder ein Booster eine Infektion mit Omikron nicht unbedingt verhindern kann, tragen die Impfungen ihren Teil zur Eindämmung von Corona bei. Denn zum einen schützen sie gegen andere Varianten, zum andern schützen sie laut Experten vor schweren Verläufen. In der Schweiz sind über 68 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, fast 37 Prozent sind geboostert. Im europäischen Vergleich sind diese Werte eher niedrig. In Portugal etwa sind fast 90 Prozent doppelt geimpft, über 40 Prozent haben bereits eine Auffrischungsimpfung erhalten. Zusammen mit der natürlich erworbenen Immunität durch eine Infektion wird sich so ein hohes Mass an Immunität in der Bevölkerung einstellen.
Alle werden sich früher oder später infizieren
Nach Einschätzung der WHO könnten sich bis März 60 Prozent aller Menschen im Grossraum Europa mit der Omikron-Variante infiziert haben. Laut WHO-Europa-Chef Kluge werde es dann, wenn die derzeitige Omikron-Welle in Europa abgeebbt sei, «für einige Wochen und Monate eine globale Immunität geben, entweder dank der Impfung oder weil die Menschen wegen einer Infektion Immunität haben». Auch der US-Experte Fauci sagte unlängst im TV, praktisch jeder werde sich irgendwann mit Omikron infizieren. Der deutsche Virologe Drosten sieht das ähnlich. Alle Menschen müssten sich früher oder später infizieren, sagte Drosten dem «Tagesspiegel am Sonntag». «Ja, wir müssen in dieses Fahrwasser rein, es gibt keine Alternative», sagte er. So gesehen sei Omikron auch eine «Chance», aus dem Krisenmodus rauszukommen. Die ursprüngliche Idee, dass man Corona komplett unter Kontrolle halten könne und müsse, sei nicht realisierbar.
Saisonalität: Timing stimmt
Mit dem bald erwarteten Abklingen der Omikron-Welle steht in Europa auch der Frühling vor der Tür: Die Menschen werden sich vermehrt im Freien aufhalten, wo es das Virus schwerer hat, sich auszubreiten. Unabhängig von der Virusvariante muss davon ausgegangen werden, dass die Jahreszeit einen starken Einfluss hat auf das Infektionsgeschehen.
Neue Möglichkeiten in der Medizin
Auch neue Wege in der Medizin werden dabei helfen, die endemische Lage herbeizuführen. Als Beispiel nennt Virologe Drosten einen Corona-Nasenspray, eine sogenannte Lebendimpfung. Lebendimpfstoffe enthalten geringe Mengen vermehrungsfähiger Krankheitserreger, die jedoch so abgeschwächt wurden, dass sie die Erkrankung selbst nicht auslösen. Für Drosten ist der Corona-Spray der «nächste Meilenstein» in der Forschung und im Kampf gegen das Virus. Die Erfindung befinde sich in der Zulassung. Er sei sicher, dass das Leben in absehbarer Zeit wieder sein werde wie vor der Pandemie, so Drosten. Auch Medikamente zur Behandlung von Corona nach einer Infektion werden ihren Beitrag zur Normalisierung leisten. Dass man sich jetzt einfach zurücklehnen kann, glaubt Drosten allerdings nicht. «Es könnte sein, dass diejenigen, die noch gar keine Immunität haben, sich zwar mit dem Omikron-Virus, wie es jetzt im Moment ist, infizieren könnten – ohne einen sehr schweren Verlauf zu kriegen. Aber es könnte ebenfalls sein, dass innerhalb von wenigen Wochen plötzlich eine Omikron-Virusvariante da ist, die wieder eine stärker krankmachende Wirkung mitbringt», warnt Drosten.