«Das bereitet uns keine Freude, aber wir haben keine andere Wahl»
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Aktivisten äussern sich:«Das bereitet uns keine Freude, aber wir haben keine andere Wahl»

Jetzt redet einer der Gotthard-Blockierer
«Wir machen weiter, bis unsere Forderungen erfüllt sind»

Max Vögtli von Renovate Switzerland hat sich am Freitag den Autofahrern am Gotthard entgegengestellt. Wie sie vorgingen, was er erlebte und warum das erst der Anfang war.
Publiziert: 08.04.2023 um 20:48 Uhr
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Aktualisiert: 08.04.2023 um 20:52 Uhr
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Aktivist Max Vögtli (rote Jacke) fungiert als Peacekeeper an der Aktion: «Wenn die Leute ihren Frust loswerden wollen, soll das möglich sein.»
Foto: ZVG
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Lisa AeschlimannReporterin & Blattmacherin

Morgens um halb sieben. Es ist noch dunkel. Der TCS meldet 15 Kilometer Stau am Gotthard – Wartezeit: zwei Stunden, 40 Minuten.

Die Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppe Renovate Switzerland sind schon nach Göschenen UR unterwegs. Sie fahren Zug. Ihre Aktion haben sie Monate im Voraus geplant. Max Vögtli (30) spricht vom «berühmtesten Stau der Schweiz», vom «nationalen Fokus» an diesen Tagen. Das heisst: minimaler Aufwand, maximale Aufmerksamkeit.

Frau reisst Plakate der Klimaaktivisten weg
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Wut am Gotthard:Frau reisst den Aktivisten die Plakate weg

Vögtli ist in Basel geboren, im Ausland aufgewachsen, war bis vor kurzem kaufmännischer Angestellter. Er hat seinen Job aufgegeben, um sich voll auf Renovate Switzerland zu konzentrieren. Wöchentlich führt er Informationsabende durch, lädt zum Training in gewaltfreiem Widerstand.

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«Wichtig ist, dass wir bei unserer Blockade keinen Notfalleinsatz behindern»
Max Vögtli, Renovate Switzerland
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Schon Stunden vor der Gotthard-Aktion sind Sympathisanten der Bewegung am Ort des Geschehens, schauen sich um, fotografieren und geben die Infos an die Aktivisten weiter. «Wichtig ist, dass wir bei unserer Blockade keinen Notfalleinsatz behindern», sagt Vögtli. In einem solchen Fall wollen sie abbrechen.

Vom Bahnhof Göschenen gehen die sieben zur Autobahn. Über die Gotthardstrasse, am Kreisel vorbei, hinab zur A 2. Alles ist bereit, als sich die Aktivistinnen und Aktivisten um 10.07 Uhr vor die Autos stellen. Sie tragen Leuchtwesten, machen sich gross, besetzen eine Spur nach der anderen. So wie sie es im Training gelernt haben. Zum Start ihrer Aktion informieren sie Polizei und Sanität.

Unter ihnen sind Studenten, ein Osteopath, eine Molekularbiologin, ein Maschinist, ein Sportlehrer. Alter: zwischen 19 und 64 Jahren. Sie stehen mit Namen und Gesicht hin. Sind bereit, explizit genannt zu werden. «Wir verstecken uns nicht», sagt Vögtli. Er ist stolz, Teil der Bewegung zu sein: «Endlich mache ich etwas. Keine Reden, kein Blabla mehr.»

Fünf kleben sich fest. Vögtli fungiert mit einem zweiten Aktivisten als Peacekeeper, geht auf die Automobilisten zu, erklärt, was vor sich geht, und versucht, ihre Forderungen darzulegen: Die Schweiz soll den Klimanotstand ausrufen und bis 2040 eine Million Häuser klimagerecht optimieren.

Die Stimmung ist aufgeladen. Mittelfinger werden gezeigt. Genervte Autofahrer versuchen, die Aktivisten selber von der Strasse zu tragen, eine wütende Frau reisst ihnen die Plakate weg. Vögtli lässt sich nicht beeindrucken: «Wenn die Leute ihren Frust loswerden wollen, soll das möglich sein.»

Manchmal fliessen auch Tränen

Seit mehr als einem Jahr engagiert er sich bei Renovate Switzerland, war bei der Blockade am Zürcher Utoquai und an der Berner Lorraine-Brücke dabei. Er hat miterlebt, wie sich ein Autofahrer bei der Hardbrücke-Blockade im Oktober 2022 zwischen zwei Aktivisten hindurchzwängen wollte. Manchmal seien es sehr emotionale Momente, sagt er: Er habe weinen müssen, als Mitaktivisten weggetragen wurden.

Nach zehn Minuten sind zwei Polizeiautos zur Stelle, das nötige Material haben sie bereits dabei. Die Polizisten giessen Sonnenblumenöl über die Hände der Angeklebten, mit einem Papierstreifen trennen sie die Haut Zentimeter um Zentimeter vom Asphalt. «Die Polizei war sorgfältig und korrekt», sagt Vögtli. Er habe auch schon andere Erfahrungen gemacht.

Sechs Aktivisten werden weggetragen und mit dem Polizeiauto zum Posten in Göschenen gebracht. Auch Vögtli wird festgenommen. Eine halbe Stunde nach der Aktion, um 10.40 Uhr, sind alle Fahrspuren geräumt, der Tunnel wieder geöffnet.

Während die Aktivisten auf ihre Befragung warten, wächst der Stau. Erst auf 16, dann auf 17 Kilometer. Um 12.33 Uhr erreicht er mit 19 Kilometern seinen Höhepunkt. Wartezeit: drei Stunden. Im Wallis kommt es zum Verkehrschaos, weil viele Autofahrer auf Alternativrouten ausweichen. Die Polizei spricht von einem immensen Verkehrsaufkommen.

In den sozialen Medien ist die Wut auf die Aktivistinnen um einiges grösser als der Stau vor dem Tunnel. Einsperren! Als Terroristen behandeln! Das fordert SVP-Nationalrat Mike Egger im Blick. Sein Parteikollege, der Transportunternehmer Benjamin Giezendanner, erklärt im «Tages-Anzeiger»: «Macht weiter so. Die Reisenden wissen nun, wen sie im Herbst wählen müssen.»

Zivlier Widerstand

Vögtli sagt: «Wir sind in einer Klimakrise, und niemand spricht darüber. Wir machen das nicht aus Spass, sondern weil es unsere einzige Option ist.» Die Aktion, so heisst es in einer Mitteilung von Renovate Switzerland, «markiere die Rückkehr des zivilen Widerstands für das Klima in der Schweiz».

Kurz vor 13 Uhr posten die Aktivisten ein Bild auf Twitter, sie sitzen auf einer Treppe, wirken gelassen, einige lächeln. Auf dem Posten werden Jacken und Taschen durchsucht und jeder einzelne befragt. Ihnen droht eine Anzeige wegen Nötigung, Nichtbefolgen polizeilicher Anweisungen, Verstoss gegen das Strassenverkehrsgesetz und Betreten der Autobahn.

Um 15.30 Uhr können die Aktivisten den Posten wieder verlassen. Vor der Gotthardröhre schiebt sich die Blechlawine weiter. Erst nach 21 Uhr rollt der Verkehr wieder frei.

Wie geht es weiter? Werden sie sich am Ostermontag in Airolo TI auf die Autobahn kleben?

Vögtli lacht. Er könne nicht über konkrete Pläne sprechen. So viel sei aber garantiert: «Wir machen weiter, bis unsere Forderungen erfüllt sind.»

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