Milch, Butter, Brot. Brigitte (78) und Emil Reuss (80) sitzen am Küchentisch in ihrer gemeinsamen Wohnung in Hombrechtikon ZH. Sie berechnen die Kosten des Einkaufs. Wenn am Ende des Monats nur noch wenige Franken übrig bleiben, müssen die beiden auf jeden Rappen achten. «Das Brot beispielsweise kostet neu 5 statt 4.50 Franken. Das geht mit der Zeit ins Geld», sagt Brigitte Reuss im Gespräch mit Blick. Immer wieder stellt sich die Frage: Reicht es noch beim nächsten Mal? Und wenn nicht, wo lässt sich etwas einsparen?
Das Ehepaar Reuss kennt sich seit 60 Jahren. Sie gingen gemeinsam durch gute und schlechte Zeiten. Doch die stetige Teuerung schlägt sogar dem rüstigen Rentnerpaar auf das Gemüt. «Ständig müssen wir rechnen und hoffen, dass keine grossen Ausgaben dazwischenkommen. Am Ende des Monats geht das Budget gerade so auf. Dass wir noch Geld übrig haben, kommt kaum vor», erzählt Emil Reuss.
Das Geld reicht nicht mehr lange
Der Senior hat sein Leben lang gearbeitet, bediente bis zuletzt Kunden am Schalter einer grösseren Bankfiliale. «Es ist eigentlich absurd, dass meine jahrzehntelange Arbeit jetzt doch nicht reicht, um das Leben noch richtig zu geniessen», sagt er und zeigt Blick sein Haushaltsbudget – etwa eine Tankfüllung Benzin für 85 Franken, ein Lebensmitteleinkauf für 120 Franken. Am Ende des Monats steht eine schwarze Null.
Mit der Teuerung reichen die aktuellen Einkünfte nicht mehr lange. Alles kostet mehr, die AHV hingegen bleibt gleich. Darum müssen sie den Gürtel enger schnallen. Die Ferien sind bei dem Ehepaar in diesem Jahr gestrichen.
Nun ist auch das Auto zum Verkauf ausgeschrieben. Service, Reinigung, neue Reifen – das alles geht ins Geld. Allein die Ausgaben für Benzin sind schweizweit deutlich gestiegen. Kostete ein Liter Bleifrei im März 2020 im Schnitt 1.40 Franken, waren es in diesem März bereits 2 Franken. Eine Tankfüllung kostet somit 30 Franken mehr. «Für uns geht es ohne Auto noch gerade so. Wir haben eine Busstation in der Nähe und sind für unser Alter noch immer fit», sagt Emil Reuss. «Trotzdem: Es ist schwierig. Wenn man jahrzehntelang arbeitet, möchte man sich im Alter auch mal was gönnen. Zu akzeptieren, dass das nicht geht, ist schwierig.»
Jede dritte Person über 75 ist von Armut bedroht
Das Ehepaar Reuss ist nicht alleine. Gemäss Schätzungen von Pro Senectute können in der Schweiz etwa 20 Prozent aller Senioren über 65 Jahren als armutsgefährdet angesehen werden. «Dieser Anteil steigt mit zunehmendem Alter, beispielsweise weil die Ersparnisse aufgebraucht sind», sagt Sprecherin Tatjana Kistler. «Etwa 30 Prozent der über 75-Jährigen sind von Armut bedroht.»
Alles wird teurer
Die Sorgen aufgrund der Teuerung merke man auch bei den Beratungsstellen. Genaue Zahlen gibt es nicht, Ende Jahr will Pro Senectute erstmals einen Überblick veröffentlichen. Aber es sei wichtig, dass Senioren mit wenig Geld ihre Ansprüche auf Ergänzungsleistungen (EL) genau abklären würden. Denn Scham und Unwissenheit würden sie laut Kistler oftmals davon abhalten, einen Antrag auf EL zu stellen.
«Man hält sich irgendwie über Wasser»
Auch Edwin Beer (74) spürt die Folgen der Teuerung. Der Rentner lebt am absoluten Minimum. Er erhält AHV und Ergänzungsleistungen, total 2750 Franken pro Monat. «Ich versuche, irgendwie durchzukommen», sagt Beer in seiner Wohnung in Kölliken AG. «Das geht nur mit viel Verzicht.»
Beer hat ebenfalls sein Leben lang gearbeitet. Der gelernte Käser hat sich als selbständig Erwerbender im Bereich Marketing durchgeschlagen. Das Geld reichte immer – bis zur Pensionierung. «Da hatte ich auf einen Schlag über 1500 Franken pro Monat weniger. Das war brutal.»
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Seither hält sich der Pensionär «irgendwie über Wasser», wie er erzählt. Obwohl die Wohngegend deutlich attraktiver sei als noch bei seinem Einzug, habe der Vermieter den Mietzins nie erhöht. «Dafür bin ich dankbar.»
Kein Luxus – und jetzt gehen die Nebenkosten hoch
Luxus liegt allerdings nicht drin. «Ich wollte nach der Pensionierung gerne nach Nordamerika reisen. Doch es geht einfach nicht», erzählt er. Drei Tage konnte er diesen Winter auf den Ski stehen, für mehr reichte es nicht. «Ein Skitag kostet schnell einmal 100 Franken. Das ist viel Geld, das ich woanders einsparen muss», sagt Beer. Sein Hobby, das Töfffahren, musste er aufgeben. Seine Suzuki steht verstaubt und ungenutzt in der Garage.
Die Angst vor einer Teuerung ist allgegenwärtig. Erst kürzlich hat der Vermieter Beer mitgeteilt, die Abgeltungen für die Nebenkosten erhöhen zu müssen. Ein Grund ist die Ölheizung im Mehrfamilienhaus. Die Preise für Heizöl sind in den vergangenen Monaten explodiert. 100 Liter Heizöl kosteten laut einer Statistik des Hauseigentümerverbandes im März rund 124 Franken – das sind 50 Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Eine Erhöhung aufgrund der Nebenkosten ist für viele Vermieter daher unumgänglich.
Zahl der armen Menschen wird weiter steigen
Edwin Beer hat sich entschieden, 40 Franken pro Monat mehr einzuzahlen, um einen Nebenkosten-Schock am Ende des Jahres zu vermeiden. Doch 40 Franken sind viel Geld für ihn. «Ich hoffe einfach immer, dass nichts dazwischenkommt», sagt er und fügt an: «Noch bin ich bei guter Gesundheit und habe kaum Ausgaben für den medizinischen Bereich. Ich hoffe, dass das so bleibt. Einen teuren Spitalaufenthalt kann ich mir nicht leisten.»
So wie Edwin Beer könnte es in Zukunft noch mehr Menschen ergehen, schätzt Pro Senectute. Denn die Teuerung nimmt weiter zu, zudem werden die Menschen immer älter. «Darum muss das ersparte Geld auch länger reichen», sagt Tatjana Kistler. «Die Zahl der Menschen, die heute schon im Alter mit knappen finanziellen Mitteln auskommen müssen, ist erheblich.» In Zukunft dürfte sie weiter steigen.