Ein Telefonat. Daran denkt Jasmin Alves (35) jeden Tag. Das verbindet sie mit ihrem Vater Roland. Seit dem 15. Oktober. Ein Samstag. Unvergesslich. Ihr war alles über den Kopf gewachsen. Vier Kinder zwischen zehn und 14 Jahren und ein Ehemann, der wegen einer Krankheit nicht auf die Beine kommt. Alle brauchten sie. Und jetzt brauchte sie ihn, den Vater, rief ihn an, sagte: «Papi, ich mag nicht mehr.» Und er, auf dem Weg ans Oktoberfest in Zürich, tröstete sie: «Wir schauen das morgen zusammen an. Wir finden eine Lösung, mein Schatz.»
«‹Morgen› gab es nicht mehr», sagt Jasmin Alves nun leise. In Kloten ZH, wo sie wohnt, in einem roten Oberteil mit grossen Glitzersternen sitzt sie da. Etwas Glanz in dieser tristen Zeit. Die junge Frau hat ihren Vater verloren. Ganz plötzlich. Er war gestürzt und starb an den Verletzungen. Er wurde nur 57 Jahre alt.
Nie im Jahr kommt der Familie eine so grosse Bedeutung zu wie an Weihnachten. In einer dreiteiligen Serie sprechen wir mit Menschen, deren Familie im Jahr 2022 eine Veränderung erlebt hat, darüber, was Familie ihnen bedeutet und wie sie Weihnachten feiern.
Nie im Jahr kommt der Familie eine so grosse Bedeutung zu wie an Weihnachten. In einer dreiteiligen Serie sprechen wir mit Menschen, deren Familie im Jahr 2022 eine Veränderung erlebt hat, darüber, was Familie ihnen bedeutet und wie sie Weihnachten feiern.
Roland war immer da
Zum ersten Mal feiern Jasmin Alves und die Familie ohne den Vater, den Grossvater, den Schwiegervater. Sie sagt: «Ohne Papi ist Weihnachten trostlos.» Etwas Trost gibt es trotzdem: Raclette. Das letzte gemeinsame Weihnachtsmenü. Und die Erinnerung an ihn. Sie sagt: «Papi war immer für mich da.»
Jasmin und ihr Vater waren unzertrennlich. Schon als Kind. Sie schufen sich gemeinsame Rituale. Wie den Papi-Samstag, der immer gleich ablief: Früh aufstehen, zusammen einkaufen gehen und vor dem Hausputz gab es noch ein Bierli für ihn und ein Sirüpli für sie in der Beiz. Am Stammtisch, wo das Mädchen Jasmin die Serviertochter spielte, zum Spass die Getränke brachte und von Vaters Freunden Trinkgeld erhielt. Sie erinnert sich: «Ich kam immer mit den Hosentaschen voller Münz nach Hause.»
Auch als Grossvater von Alves Kindern war er vor allem eines: präsent. Wenn die Teenager-Enkelin genug von ihren Eltern hatte, rief sie ihn an: Mami nervt, komm! Und er kam, kam immer, nahm die Kinder mit. Zum Schlitteln, Schwimmen und an die Chilbi.
Roland war immer da. Daran lässt Jasmin Alves keinen Zweifel. «Er wollte mich entlasten», sagt sie. Nachdem sie Mutter geworden war, organisierte er die Weihnachtsfeiern. Kaufte Essen ein, organisierte Tannenbaum und Weihnachtskranz und schmückte alles mit Goldkugeln. Ein grosses Fest mit Kindern, Eltern, Gottis und Göttis. Für das Scheidungskind Alves war das etwas Besonderes, sie sagt: «Dank Papi hatte ich ein richtiges Familienweihnachten.» Vorher habe es das nicht gegeben.
Er ist immer noch da
Nun ist alles anders. Keine Kerze brennt in der Wohnung, keine Lichterkette hängt am Balkongeländer. Die Kinder, die Eltern, die zwei Hunde, alle trauern. Und darin liegt auch etwas Schönes. Alves sagt: «Die Kinder sprechen jeden Tag mit ihm.» Raclette mit Tischgrill – es war ihre Idee, das Weihnachtsessen vom letzten Jahr heuer zu wiederholen. «So ist es für sie, als sässe er noch mit am Tisch.»
Richtig fort ist ihr Vater nicht. Dafür hat Jasmin Alves gesorgt. Um ihren Hals baumelt ein Herz aus Harz mit dem eingearbeiteten Fingerabdruck ihres Vaters. Sie sagt: «So wird er immer für mich da sein.»