Judith Erdin (34) nimmt ein abgekühltes Mailänderli vom Gitter, schnuppert daran, beisst ab, kaut, nickt zufrieden. Es ist der erste Anlauf – weitere Versuche werden folgen, bevor sie Rezept und Bild auf ihrem Back-Blog Streusel.ch veröffentlicht. Das Mailänderli, beliebtestes Weihnachtsguetzli in der Schweiz, ist ein Spezialfall: Der Teig gehört zu den Basis-Teigen und hat eine fixe Zusammensetzung. Eine persönliche Note bringt Judith Erdin mit der Menge Zitronenabrieb oder der Backdauer hinein.
Das Guetzle gehört zur Adventszeit wie der Spinat zur Comicfigur Popeye. Gemeinsam mit Kindern, Freundinnen, Nachbarn wird gebacken, genascht, geschleckt. Erwachsene ermahnen die Kinder, nicht ständig rohen Teig in den Mund zu stecken, schieben die Bleche im Akkord in den Ofen. Sie arbeiten mit Blick auf die Uhr schneller, um mit dem ambitionierten Programm durchzukommen, und reinigen den Tisch von klebrig-zuckrigem Belag nach dem Brunsli-Ausstechen. Danach wird das Weihnachtsgebäck aufgeteilt, in Büchsen gestapelt, verschenkt – und natürlich in grossen Mengen gegessen.
Jeden Tag ein Kribbeln
Bei Judith Erdin läuft der Ofen nicht nur im Dezember heiss. Die gelernte Bäckerin-Konditorin und Polygrafin startete ihren Blog 2016. Hier veröffentlicht sie Rezepte für Backwaren, die von Grund auf selbst gemacht sind.
Ihre zwei Fachgebiete Backen und grafische Gestaltung verknüpfte sie Anfang 2020 zu ihrem Traumberuf. Sie sagt: «Ich fühle mich seither jeden Tag beim Aufstehen so hibbelig wie als Kind am Ostermorgen, wenn ich wusste, jetzt darf ich dann gleich mein Nestchen suchen.»
Seit bald drei Jahren arbeitet sie selbständig als Rezeptautorin, Bloggerin und Backkursleiterin in Aarau, Winterthur und Zürich. Sie schiesst und bearbeitet die Fotos von Broten, Konfekt oder Torten, publiziert sie auf ihrer Website und in den sozialen Medien. Für den Videodreh holt sie sich Unterstützung aus der Familie. Ihre beiden preisgekrönten Bücher «Dein bestes Brot» und «Dein bestes Süssgebäck» gestaltete sie zur Freude des Verlags gleich selbst.
Ihr Blog profitierte vom Back-Trend
Die Pandemie war für die gebürtige Fricktalerin beruflich ein Glücksfall: Die Zugriffe auf Streusel.ch verdoppelten sich quasi über Nacht. So viele Menschen wollten Brot backen, dass im Lockdown und darüber hinaus Hefe in der Schweiz zur Mangelware wurde.
In ihrer hellen Wohnung in Freienwil AG, die sie mit ihrem Freund Markus Muoth (38) teilt, ist der Esstisch vor der Küchenzeile das Zentrum ihres Wirkens. Sie dreht an einer Kurbel und verlängert so die Tischbeine, bis die Chromstahlplatte eine gute Arbeitshöhe hat.
Beim Erarbeiten der Rezepte arbeitet sie immer auf dasselbe Ziel hin: «Es soll so schmecken wie von der Lieblingsbäckerei – aber von Grund auf selbst gemacht und ohne Zusatzstoffe oder E-Nummern.»
Bärentatzen-Fans überzeugt
Gerne stellt sie sich der Herausforderung, ein überzeugendes eigenes Rezept zu entwickeln für gekaufte Lieblingsgebäcke ihres Freundeskreises. So brauchte es etwa acht Anläufe und Feinjustierungen, bis Judith Erdin mit ihrem Bärentatzen-Rezept zufrieden war und sogar ihr Freund fand, die selbst gemachten schmeckten noch besser als die gekauften aus der Migros.
Man könnte meinen, Judith Erdin könne von Süssem nicht genug kriegen. Doch nachdem sie für ihr zweites Buch während eines Jahres täglich Süssgebäck produziert hatte, brauchte sie eine Pause. Heute sagt sie: «Ich muss nicht jeden Tag Süsses essen. Aber wenn ich es tue, will ich nicht ein Produkt, das nur mittelmässig fein, sondern richtig gut ist.»