Die Corona-Krise stellte Familien und Paare vor neue Herausforderungen. Der Lockdown liess die Welt vieler auf die eigenen vier Wände schrumpfen. Plötzlich hockte man rund um die Uhr aufeinander. Ein Pulverfass, prognostizierten Experten und befürchteten in der Schweiz einen Anstieg der häuslichen Gewalt.
Sie hatten Recht. Jetzt hat das Bundesamt für Statistik (BFS) den Jahresbericht der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2020 veröffentlicht.
Total gibt es einen Anstieg von zwei Prozent. Waren es im Jahr 2019 noch total 19'669 Straftaten im Zusammenhang von häuslicher Gewalt, wurden für das Corona-Jahr 20'123 Fälle verzeichnet. Registriert wurden besonders Tätlichkeiten, Drohungen und Beschimpfungen. Insbesondere die Zahl versuchter Tötungsdelikte schnellte nach oben. Von 50 Fällen im Jahr 2019 auf nun 61.
Dunkelziffer dürfte höher sein
Besonders im Kanton Bern wurden deutlich mehr Fälle häuslicher Gewalt registriert. Konkret: 1557 Straftaten. Ein Fünftel mehr als im Vorjahr. Drei Viertel der Straftaten entfallen demnach auf Paarbeziehungen. In 15 Prozent waren Kinder betroffen, und in den übrigen 10 Prozent kam es zu Gewalt unter anderen Verwandten.
Auch im Kanton Zürich ist ein Anstieg zu verzeichnen. Wegen häuslicher Gewalt und Familienstreitigkeiten musste die Polizei im vergangenen Jahr im Durchschnitt kapp 18 Mal pro Tag ausrücken. Im Vorjahr lag der Durchschnitt noch bei 15 Mal pro Tag.
Die Fälle häuslicher Gewalt steigen aber nicht erst seit Corona. Im Jahr 2016 wurden 17'685 Fälle registriert. Vier Jahre später sind es nun über 20'000.
Eine explosionsartige Zunahme ist zwar nicht zu verzeichnen. Doch das dürfte auch daran liegen, dass durch die reduzierten sozialen Kontakte weniger Fälle ans Tageslicht kommen. Verletzungen, die sonst Freunden, Bekannten oder Dritten auffallen würden, dürften im Corona-Jahr weniger bemerkt worden sein. Heisst: Der Anstieg von zwei Prozent ist der offizielle Part. Die Dunkelziffer dürfte also deutlich höher liegen.
Nur 20 Prozent der Fälle werden gemeldet
Daher gibt die «Task Force Häusliche Gewalt und Corona» auch keine Entwarnung. Denn erstens sei aus einer früheren Studie des Bundesamtes für Justiz (BJ) bekannt, dass nur gerade 20 Prozent der Fälle überhaupt der Polizei gemeldet würden, heisst es in einer Mitteilung vom Montag. Und zweitens gebe es Hinweise dafür, dass Familienkonflikte und leichtere Formen häuslicher Gewalt, die nicht zu einer Anzeige führten, zugenommen hätten.
So stellten die Opferberatungsstellen in gewissen Kantonen eine Zunahme von Neumeldungen fest und auch die Polizeien müssten öfter wegen häuslicher Gewalt ausrücken, auch wenn es danach nicht zu einem Strafverfahren komme.
Vor allem die wachsende wirtschaftliche Not und Suchtprobleme führten potenziell zu Stresssituationen innerhalb des Haushalts. Noch verstärkt würden diese Probleme durch die eingeschränkte Mobilität und das Homeoffice. Deshalb müsse die Lage auch in den kommenden Monaten intensiv beobachtet werden.
Frauenhäuser hatten im Corona-Jahr ein Platzproblem
Dass die Fälle häuslicher Gewalt besonders im Lockdown stiegen und die Situationen für die Frauen noch prekärer wurden, bemerkten die Frauenhäuser in der Schweiz. Sie hatten mit Platzmangel zu kämpfen. Ein Problem, dass es bereits auch schon vor Corona gab. Doch der Lockdown habe die Situation noch einmal verschärft. «Wir haben ein Rekordjahr hinter uns», sagte Silvia Vetsch (60) vom Frauenhaus St. Gallen, bereits Anfang März zu BLICK. Das Frauenhaus sei die ganze Zeit voll, teilweise auch überbelegt gewesen. Zudem habe man ein Drittel mehr Beratungstelefone durchgeführt.
Der Grund: Für manch eine Betroffene von häuslicher Gewalt wurde es im Lockdown unerträglich. Das zeigen Schilderungen von Frauen, die BLICK auf Anfrage beim Frauenhaus St. Gallen zugeschickt bekommt. So berichtet eine Frau, dass der Lockdown die Situation zu Hause noch viel schlimmer gemacht hätte. Besonders, weil ihr Ehemann und sie im Homeoffice waren.
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Häusliche Gewalt endete allein in diesem Jahr mehrmals mit dem Tod
Ähnliches schildert ein weitere Frau, die mehrmals versuchte, ins Frauenhaus zu kommen. Seit dem Lockdown konsumiere ihr Mann viel Alkohol, berichtet sie. Daher schlafe er öfters ein. Diese Zeit nutzte sie, um zu fliehen. Und nicht nur das: Durch Corona verzögerten sich gleichzeitig die juristischen Schritte. So hätte sich die Strafanzeige verzögert sich und der Gerichtstermin ebenfalls, schildert ein Frau. Zu wissen, dass die Behörden länger brauchten, um zu reagieren, es mehr länger dauerte, bis ihr Peiniger bestraft wurde, sei ebenfalls eine Belastung gewesen.
Eine Schulsozialarbeiterin berichtet, dass sie sich grosse Sorgen um einen Schüler im Lockdown machte. Dieser sei schon immer sehr introvertiert gewesen und könne einem nicht in die Augen schauen. Seit die Kinder nicht mehr in die Schule können und der Vater wegen des Lockdowns ebenfalls täglich zu Hause sei, habe sich das Verhalten des Jungen noch einmal in eine sehr beunruhigende Richtung entwickelt.
In manchen Fällen endete die häusliche Gewalt mit einem Femizid. So zum Beispiel für Besime S.* (†44), die in Schafisheim AG lebte. Ihr Mann Ardit S.* (46) versuchte, sie zu töten. Rettungskräfte konnten sie reanimieren. Doch später starb die 44-Jährige im Spital. Kurz darauf erschoss ein Polizist (†52) in Bussigny VD seine Freundin und richtete sich danach selbst.
Weniger Einbrüche und Drogen-Delikte
Während die Fälle häuslicher Gewalt im Corona-Jahr anstiegen, ging die Zahl der Straftaten im Pandemiejahr 2020 zurück. Vor allem während der ausserordentlichen Lage war der Rückgang auffallend. Zugenommen haben hingegen die versuchten Tötungsdelikte, die Vergewaltigungen und die schweren Körperverletzungen.
Besonders im ersten Lockdown, also vom 16. März bis zum 19. Juni 2020 wurden 21 Prozent weniger Widerhandlungen gegen das Strafgesetzbuch registriert, 14 Prozent weniger gegen das Betäubungsmittelgesetz und 37 Prozent weniger gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz.
Auch im Gesamtjahr gingen die Straftaten insgesamt zurück. Jedoch wurden fast 9 Prozent mehr schwere Gewaltstraftaten verübt als im Vorjahr. Dieser Anstieg sei besonders auf die Zunahme der versuchten Tötungsdelikte (+45 Fälle), der Vergewaltigung (+34 Fälle) und der schweren Körperverletzung (+32 Fälle) zurückzuführen, hiess es.
Zurückgegangen sind dagegen die Einbruch- und Einschleichdiebstähle und zwar um fast 10 Prozent. Bei den Taschendiebstählen beträgt der Rückgang gar 28,7 Prozent. Trotzdem wurden damit immer noch 90 Einbrüche pro Tag registriert. Zugenommen haben die Diebstähle aus Fahrzeugen und von E-Bikes.
* Namen geändert