Handyverbot an der Eliteschule
Vor dem Verbot war sie 8 Stunden am Handy – jeden Tag

Ein Eliteinternat setzt auf ein Handyverbot, weil es um den Lernerfolg seiner Schülerinnen und Schüler fürchtet. Was bedeutet es, wenn selbst diejenigen mit den besten Ressourcen nicht mehr gegen Smartphones ankommen?
Publiziert: 30.11.2024 um 18:56 Uhr
|
Aktualisiert: 30.11.2024 um 19:57 Uhr
1/5
Im Eliteinternat Lyceum Alpinum in Zuoz GR gilt seit diesem Schuljahr ein Handyverbot während der Unterrichtszeit.
Foto: Thomas Meier

Auf einen Blick

  • Schweizer Eliteschule führt Handyverbot ein. Schüler reagieren positiv auf Regelung
  • Schüler fühlen sich ohne Handy unsicher, auch im idyllischen Zuoz
  • Bildschirmzeit sank bei einer Schülerin von 8 auf 1,5 Stunden täglich
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Mitarbeiterfoto_06.jpeg
Lisa AeschlimannReporterin & Blattmacherin

Am Ende der Diskussion sprudelt es aus Rektor Oliver Hartwright (43) hervor. In der Runde aus Schülern, Lehrpersonen und Internatsleiterinnen spricht er auf die Jungen ein: «Ich reiste mit 18 um die Welt. Ohne Handy.» Er habe seinen Eltern damals Briefe geschrieben.

Die Jugendlichen lachen kurz und etwas verwirrt, als ob sie nicht genau wüssten, was sie mit dieser Information anfangen sollen. Martin (17) sagt etwas später: «Meine Eltern würden in Panik geraten, wenn ich einmal nicht erreichbar bin.» 

In der Diskussion war es darum gegangen, ob es den Schülern und Schülerinnen zuzumuten sei, sich ohne Handy in Zuoz zu bewegen, in der 600-Einwohner-Gemeinde im Oberengadin, mit 30er-Zonen, gepflasterten Strassen. Eine Idylle im Bündnerland, in der Kriminalität so fern ist wie Zürich oder Bern. Helena (17) meint: «Ohne mein Handy fühle ich mich nirgendwo sicher.»

Es sind nicht nur fast 30 Jahre Altersunterschied, es sind Welten, die sie trennen. 

Einzigartig für ein Schweizer Internat

Das Lyceum Alpinum in Zuoz hat auf den Schulbeginn im August die Handynutzung reglementiert. Während des ganzen Unterrichts, wie auch am Mittwochnachmittag, gilt ein Handyverbot. Internatsschüler müssen das Handy morgens spätestens um 7.45 Uhr in einen verglasten, verschlossenen Kasten in ihren Häusern abgeben. Die älteren erhalten das Gerät nach Unterrichtsende um 16 Uhr zurück – sofern ihr Leistungsausweis stimmt. Die jüngeren dürfen es nur von 19.30 bis 21.30 Uhr benutzen, müssen es aber nachts abgeben.

Der Pilotversuch wird von Aida Bikic, Psychologin an einer dänischen Universität und ehemalige Schülerin des Lyceums, begleitet. Sie hat im Juni untersucht, wie Handys auf dem Campus genutzt werden und welche Auswirkungen das hat. Ihre Ergebnisse decken sich mit denen anderer Wissenschaftler: Kinder schlafen schlechter, sind einsamer, die Konzentrationsfähigkeit hat abgenommen, Angststörungen und Depressionen sind gestiegen.

Die strengen Regeln am Lyceum Alpinum sind für ein Schweizer Internat einzigartig. Ziel ist es, den Lernerfolg und den Austausch unter den Jugendlichen zu stärken. Sind die Ergebnisse gut, will man das Verbot definitiv einführen.

Schweizer Schulen denken um

Zuoz ist nicht alleine – viele Schweizer Schulen haben inzwischen die Handynutzung reglementiert, auch im Ausland ist das Thema omnipräsent. 

Das Schulhaus Burghalde in Baden AG führte ein Verbot ein, weil «die Anforderung, dass Jugendliche ihren Handykonsum selbständig regulieren können», zu hoch war. In einem Schreiben an die Eltern heisst es: «Der Anblick ist unerträglich geworden, alle starrten nur noch in ihre Geräte.» In der Sekundarschule in Embrach ZH applaudierte die Lehrerschaft, als die Schulleitung das Verbot aussprach. In der Schule Würenlos AG haben die Kinder seit der Einführung eines Verbots mehr Austausch miteinander, die Fälle von Cybermobbing gingen zurück.

In der Schweiz hat ein Umdenken stattgefunden – in Schulleitungen, Elternräten und Politik. In mehreren Kantonen sind derzeit Motionen hängig, die kantonsweite Verbote an Schulen anregen. Denn die Schulen kämpfen alle mit ähnlichen Problemen: Kinder filmen andere in Garderoben und Toiletten, sie verschicken Aufnahmen von Lehrpersonen, überfluten WCs, um Tiktok-Challenges zu erfüllen, verabreden sich in Klassenchats zu Pausenschlägereien.

Ausbildungsstätte für CEOs und Präsidenten

Das Lyceum Alpinum aber ist nicht irgendeine Schule, sondern eine der renommiertesten Privatschulen der Schweiz. Hier werden junge Menschen von wohlhabenden Familien zwischen 12 und 19 Jahren für ihr späteres Leben in der Wirtschaft oder an anderen Stellen der Macht vorbereitet.

Eingang im Lyceum zur Unterrichtszeit.
Foto: Thomas Meier

Ex-VW-Chef Ferdinand Piëch war hier, Gunter Sachs ebenso wie Ulrich «the Knife» Körner, dessen aufkommender Geburtstag in Hartwrights Kalender vermerkt ist – und kurioserweise auch Mundartrocker Chris von Rohr.

Die 220 Internatsschüler und -schülerinnen (dazu gibt es 100 Externe aus dem Tal, die keine Gebühren zahlen) kommen aus über 45 Nationen, die meisten sprechen drei bis vier Sprachen. Die Jugendlichen können aus 70 «Extracurriculars» auswählen: Cricket, Fashion School, Kickboxen. Jedes Jahr kommen die Unis Oxford und Cambridge zum Hockey-Turnier auf Besuch. Im Gymnasium gibt es sogar den Zuoz Globe, einen dem weltbekannten Londoner Shakespeare Globe nachempfundenen Theatersaal.

Die Schülerinnen und Schüler hier gehen nach St. Moritz in den Ausgang, sie tragen Ralph-Lauren-Pullover und Boss-Käppli, die Schultaschen sind von Christian Dior, in den Zimmern sammeln sie Chanel-Parfüms und Cartier-Einkaufstaschen säuberlich aufgestellt über dem Bett. 

Ausblick auf den Lärchenwald, über dem Bett eine Sammlung von Taschen berühmter Luxusmarken.
Foto: Thomas Meier

Das Privileg von Zuoz

Oliver Hartwright, ein britisch-deutscher Doppelbürger mit festem Händedruck und gut sitzendem Anzug, ist seit August 2023 Rektor. Mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern wohnt er in einer Wohnung auf dem Gelände. Er führt durch die geschichtsträchtigen Gänge, bleibt immer wieder stehen, um mit den Schülern, die er alle mit Namen begrüsst, kurz Small Talk zu machen.

Die Hallen sind penibel sauber, und einmal, als ein winziger Alu-Fötzel auf einer Treppenstufe liegt, bleibt Hartwright stehen und nimmt ihn mit. Es riecht nach frischer Bergluft und teuren Parfüms.

Dior statt H&M – in Zuoz läuft die Welt etwas anders als vielerorts.
Foto: Thomas Meier

Die Mädchen haben Kleider und Schmuck angezogen, die sie älter wirken lassen, und die Anzüge der Jungs, die viele für die Klassenfotos am Tag des Besuchs tragen, werden mit einer Selbstverständlichkeit getragen, wie man sie bei Jugendlichen sonst nicht sieht.

Idyllisch, sauber, geschichtsträchtig. Die Mensa am Lyceum.
Foto: Thomas Meier

Blickt man in der Mensa vom Fischgrätparkett zu den bodenlangen Fenstern mit Aussicht aufs gegenüberliegende Bergpanorama, wo die Lärchen golden glänzen und die Gipfel ersten Schnee tragen, denkt man unweigerlich: Warum braucht es hier oben ein Handyverbot? Eingekesselt von Bergen, abgeschnitten von jeglichem Unheil. Welches Böse oder Unbekannte kann diesen Ort hier schon erreichen?

Es geht auch ums Business

Die Probleme der staatlichen Schulen kenne man nicht, sagt Rektor Hartwright. Auch habe die schulische Leistung seit dem Aufkommen der Smartphones nicht abgenommen. Vielmehr wolle man einer unguten Entwicklung zuvorkommen; ein Problem anpacken, bevor es zu einem werde. «Jugendliche müssen lernen, wie man Aufmerksamkeit übt. Zuhören ist ein Skill.» Das sei wichtig fürs ganze Leben.

Es gebe genügend wissenschaftliche Forschung, die beweise, wie schädlich Mobiltelefone für den Denkprozess der Jugendlichen seien, sagt Hartwright. Er erzählt von der schwierigen Suche nach Schulpsychologinnen – diese seien kaum zu finden, da sie immer öfter von App-Entwicklern abgeworben würden. Die Psychologen sollen für diese herausfinden, wie die Kinder noch länger auf den Apps bleiben. Er erzählt von den «unpredictable awards», den unvorhersehbaren Belohnungen, die in den Apps eingebaut seien – indem sie bei jedem «Pull» neuen Content anzeigen. Eine Technik, die ursprünglich für Casinos entwickelt wurde. «Wir würden unseren Schülern nie erlauben, regelmässig ins Casino zu gehen. Warum sollen wir das mit Smartphones machen? Mit diesen Apps?»

Es geht aber noch um etwas anderes als gute Bildung und gesunde Kinder, das man nicht offen sagt: Bei einem jährlichen Schulgeld von mindestens 91'000 Franken geht es immer auch ums Business.

Die internationale Konkurrenz für Elite-Ausbildungen hat zugenommen. Die Ivy Leagues sind bei der Aufnahme selektiver geworden, die Konkurrenz härter, das gibt auch Hartwright zu: «Es ist ein sehr kompetitives Umfeld geworden.» Gewisse Unis hätten 1000-mal mehr Bewerber als Plätze. Nur die wenigsten Absolventinnen des Lyceums Alpinum schaffen die Aufnahme nach Harvard oder Yale.

Mit dem hohen Schulgeld kommen auch die Ansprüche der Eltern. Eine Handyregelung sei ein Thema bei den Eltern, sagt Hartwright. Viele seien jetzt «sehr, sehr froh» um die neue Regel.

«
Während die Kinder früher aus den Klassenzimmern gekommen seien, den Blick aufs Handy gerichtet, würden sie nun zusammen durch die Gänge laufen und miteinander sprechen.
»

«Wir wollen, dass alle hier den maximalen Erfolg erreichen», sagt Hartwright. Ältere Schüler, deren schulische «Performance» über die Dauer nachlasse, die regelmässig zu spät kämen oder schlecht schliefen, müssen im Gegensatz zum Rest das Handy über Nacht wieder abgeben und mit einer Schulpsychologin sprechen. «Es ist wichtig, dass sie Selbstdisziplin lernen.»

Wobei – wer hier zur Schule geht, lernt früh, sich anzupassen: In Zuoz gibt es wöchentliche, unangekündigte Drogentests. Ein positives Ergebnis führt zum sofortigen Schulausschluss. Und alle Mitarbeitenden werden vor der Anstellung einem rigorosen Background-Check unterzogen.

Das Verbot ist akzeptiert

Das erste Fazit nach wenigen Monaten zur neuen Regel sei positiv, sagt Hartwright. Während die Kinder früher aus den Klassenzimmern gekommen seien, den Blick aufs Handy gerichtet, würden sie nun zusammen durch die Gänge laufen und miteinander sprechen. In der Mensa blieben sie länger sitzen.

In der ersten Woche sei das Verbot ein grosses Thema gewesen. «Aber jetzt redet niemand mehr darüber.» Das Verbot sei akzeptiert, Verstösse seien ihm bisher keine bekannt.

«
«Wenn ich nun am Handy bin, mache ich mir mehr Gedanken dazu, was ich dabei mache.»
Helena, 17
»

Doch jede Regel kann umgangen werden: mit einem Zweithandy beispielsweise – was bei den Zuozer Budgets keine finanzielle Frage sein dürfte. Dass dies eine Möglichkeit ist, die einige nutzen, sagt auch eine Schülerin freiheraus, als der Rektor einmal nicht zuhört. 

Von 8 auf 1½ Stunden Bildschirmzeit

Nach anfänglicher Skepsis kommt das Verbot aber auch bei den Jugendlichen gut an. «Zuerst war es ein Schock», sagt die 18-jährige Luisa aus München. «Was für ein Eingriff in meine Privatsphäre.» Aber da es alle betreffe, gehe es viel besser. Ihre Bildschirmzeit – vor dem Verbot bei sieben bis acht Stunden täglich – liege noch bei eineinhalb Stunden. «Wenn ich nun am Handy bin, mache ich mir mehr Gedanken dazu, was ich dabei mache.»

Camille Dambrine, Internatsleiterin im Mädchenhaus: «Das Handy ist nicht mehr so wichtig wie vor zwei Monaten.»
Foto: Thomas Meier

Helena glaubt, dass viele Schüler so bessere Noten erreichen können, weil die Ablenkungen nicht mehr dieselben sind. Katharina Weigel (24), Englisch- und Deutschlehrerin, sagt, der Unterricht sei jetzt viel fokussierter. Camille Dambrine (31), Internatsleiterin im Mädchenhaus, meint, das Handy sei nicht mehr so wichtig wie vor zwei Monaten. 

Brigida Lorenz, die Leiterin der Schulpsychologie, erzählt von einer jungen Schülerin, die grosse Angst hatte, ohne Handy überhaupt unter Leute zu gehen.
Foto: Thomas Meier

Brigida Lorenz (42), die Leiterin der Schulpsychologie, erzählt von einer jungen Schülerin, die grosse Angst hatte, ohne Handy überhaupt unter Leute zu gehen. «Sie fragte mich, wo sie hinschauen soll.» Martin, aus Slowenien, bemerkt, dass viele jüngere Schüler alleine herumsässen und nicht wirklich wüssten, wie man ein Gespräch führe oder am Laufen halte.

Dass iPads und Laptops weiterhin im Unterricht verwendet werden, sehen einige kritisch. Martin meint: «Die Lehrpersonen müssen uns zwar nicht mehr ständig sagen, dass wir unsere Telefone weglegen sollen, aber Geräte sind immer eine Ablenkung.» Er löse jetzt während des Unterrichts am iPad Kreuzworträtsel.

Kaum wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit

Was bringt ein Handyverbot überhaupt? Kann es akademische Leistungen verbessern? Zu den tatsächlichen Auswirkungen gibt es bisher fast keine wissenschaftlichen Untersuchungen. Ein deutscher Professor aus Augsburg kommt zum Schluss, dass Handyverbote, zumindest in bescheidenem Mass, Cybermobbing an Schulen reduzieren können, jedoch gebe es bis jetzt keine Hinweise darauf, dass es die schulischen Leistungen verbessere. Tatsächlich basierten Verbote von Smartphones in Schulen derzeit vor allem auf subjektiven Überzeugungen und nicht auf wissenschaftlichen Beweisen.

Kritiker bemängeln denn auch, ein undifferenziertes Verbot sei Resignation. Aufgabe der Schule sei es, die Kinder zu einem vernünftigen Gebrauch von Smartphones anzuhalten und diese auf geeignete Weise in den Unterricht einzubauen. Einen sinnvollen Umgang mit dem Handy finden müssen die Schüler nämlich sowieso.

«Ohne mein Handy fühle ich mich nirgendwo sicher»

In der Gesprächsrunde gibt der handyfreie Mittwochnachmittag zu reden. Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich ihrer Freiheit beraubt, sie wollen nicht ohne Handy ins Dorf, einkaufen oder ins Fitnessstudio gehen.

Helena meint: «Ich würde Zuoz ohne mein Telefon nicht verlassen. Für mich ist das ein zu grosses Risiko. Wenn etwas passiert, würde ich ausflippen. Ich wüsste nicht, was tun, weil mein Telefon die einzige Kommunikationsmöglichkeit ist.» Schlimme Dinge könnten überall passieren – auch in Zuoz. 

Eigentlich sei das Verbot eine gute Sache, wenn da nur der Mittwochnachmittag nicht wäre.
Foto: Thomas Meier

Hartwright geben solche Aussagen zu denken: «Wir können das Dorf vom Fenster aus sehen. Wo ist es sicherer auf der Welt als in Zuoz?» Wenn wir fänden, dass Kinder ohne Handy nicht in den Coop gehen dürften, sei das furchtbar. «Wir geben ihnen keine Möglichkeiten, freie Entscheidungen zu treffen und Risiken einzugehen.»

Vielleicht geht es beim Verbot nicht nur um psychische Gesundheit oder schulische Leistung, sondern um eine grössere Frage: Wie sollen Jugendliche heute Selbstverantwortung lernen, wenn sie immer erreichbar und überwacht sind? Wie sollen Kinder, die nur mit Handy aufwachsen, noch erwachsen werden?

Seine Eltern, sagt Hartwright zu den Schülerinnen und Schülern, hätten während seiner Weltreise teilweise wochenlang nichts von ihm gehört. «Aber auch das ist ein Teil des Erwachsenwerdens.»

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?