Auf einen Blick
- Bergdorf Brienz erneut evakuiert wegen drohendem Bergrutsch
- Einwohner emotional belastet
- Feuerwehr darf nicht ohne weiteres ins Dorf
- Knapp 100 Einwohner müssen Dorf verlassen, 1,2 Millionen Kubikmeter Felsschutt
Morgens um 9 Uhr brettert ein SUV über die kleine Strasse durch Vazerol GR, die ins berühmte Nachbardörfchen Brienz/Brinzauls GR führt. Auf dem engen Strässchen im Wohngebiet herrscht freiwillig Tempo 30 – das scheint den Fahrer nicht zu kümmern.
Nachdem das Auto weg ist, trifft Blick am Strassenrand eine Frau. «Ich habe nur den Kopf geschüttelt, weil er so schnell fuhr. Und der zeigt mir den Finger», sagt sie verständnislos. Die Stimmung an diesem Sonntagmorgen ist gereizt. Schon wieder muss das Bergdorf Brienz/Brinzauls GR geräumt und evakuiert werden.
Lichterlöschen in der Bergidylle
Einmal mehr müssen die knapp 100 Einwohnerinnen und Einwohner ihre Sachen packen und das Dorf verlassen. Das grosse Lichterlöschen in der Bergidylle kommt nicht von ungefähr. Am Dienstag informierten die Behörden darüber, dass der «Brienzer Rutsch», 1,2 Millionen Kubikmeter Felsschutt, wieder an Fahrt aufgenommen hat. Dies, nachdem im Juni 2023 bereits ein erster grosser Bergrutsch nur kurz vor den Toren des Dörfchens zum Stillstand gekommen war. Die erneute Evakuierung: unumgänglich.
Um 13 Uhr rief die Gemeinde Albula/Alvra GR, zu der Brienz gehört, die «Phase Rot» aus. Das Dorf ist vollständig evakuiert und darf nicht mehr betreten werden. Auch nicht mehr von den Einheimischen. Es herrscht ein Drohnenflugverbot, um Plünderungen zu verhindern, steht das Dörfchen unter konstanter Videoüberwachung. Tiere, Futter, Schützenswertes aus dem Archiv und aus der Kirche: in Sicherheit.
Nicht einmal die Feuerwehr darf einfach so ins Dorf
Nicht einmal die Feuerwehr darf im Brandfall einfach so ins Bergdorf. «Die Feuerwehr muss abklären, wie gefährlich es für die Einsatzkräfte ist», sagt Christian Gartmann, Sprecher der Gemeinde Albula. Käme es tatsächlich zu einem Alarm für die Feuerwehr, würde diese an einen Treffpunkt ausrücken und sich dort erst mit Frühwarndienst, Geologen und Polizei beraten.
Die Sicherheit der Einsatzkräfte gehe dabei über alles: «Das sind die Einsatzleiter ihren Leuten schuldig und die Leute ihren Familien.» Falls die Gefahr eines Schuttstroms zu gross ist, würde ein mögliches Feuer im Dorf also nicht gelöscht.
«Psychisch gehen hier alle kaputt»
Viele Direktbetroffene sind mit den Nerven am Ende. Wenige Stunden nach der Evakuierungs-Frist kann Blick mit Marcellina Alig (47) sprechen. Sie wohnt im Bergdörfchen Brienz mit ihrem Mann und ihren drei Kindern und betreibt dort einen Bauernhof. Die Familie konnte im benachbarten Lantsch/Lenz GR eine Wohnung ergattern.
Als Blick sie besucht, springen die beiden Kinder auf der noch nicht angezogenen Matratze herum, in der Küche warten Kartonschachteln mit Hausrat darauf, ausgepackt zu werden. «Ich habe den Kaffee vergessen mitzunehmen», sagt Marcellina Alig und verdreht die Augen. Er ist noch in Brienz. Zurückgehen: unmöglich.
«Die letzten Tage waren nicht zum Aushalten. Psychisch gehen hier alle kaputt», sagt Alig. Hinter ihr thront der Brienzer Rutsch in seiner eindrücklichen Grösse. «Zum Glück muss ich ihn nicht anschauen», sagt sie verärgert. «Wir wissen, dass wir vielleicht in ein paar Monaten wieder zurückdürfen. Aber wenn wir dann da sind, kann es sein, dass wir bald wieder gehen müssen. Das ist doch kein Leben.» Sie geht noch einen Schritt weiter: «Wenn der Berg kommt, hätten wir wenigstens endlich Gewissheit.»
«Ich danke allen herzlich dafür»
Alig und ihre Familie hat dank Freundinnen eine Unterkunft in Lantsch/Lenz GR gefunden. «Mir ist es wichtig, dass die Kinder weiterhin in dieselbe Schule gehen können», sagt sie. Die Familie hat ihre Wohnung bis Ende März gemietet, doch das alte Zuhause sorgt schon für Heimweh.
«Als ich mich von meinen Nachbarn verabschieden musste, hat es mir fast das Herz gebrochen», sagt Alig über den Moment des Abschiednehmens von Brienz. Das einzig Positive: «Ich konnte viele meiner Kleintiere dem Gnadenhof Luna im St. Galler Weisstannental übergeben. Ihnen wird gut geschaut.» Für andere Tiere fand sie bei Privatpersonen und Freunden eine neue Bleibe. «Ich danke allen herzlich dafür.»
«Müssen uns fragen, wie oft man so etwas der Bevölkerung noch zutrauen kann»
Die Bevölkerung von Brienz macht aktuell eine herausfordernde Zeit durch. Das versteht auch der Gemeindepräsident von Albula/Alvra, Daniel Albertin. Die Evakuierung sei zwar aufgrund der Faktenlage unumgänglich gewesen. Aber: «Wir müssen uns fragen, wie oft man so etwas der Bevölkerung noch zutrauen kann.» Ihm sei bewusst, dass solche drastischen Massnahmen für die Psyche der Bevölkerung «gar nicht förderlich» seien.
Am Schluss geht es aber um das eigene Leben. «Sie sind für sich gegangen, nicht für die Behörden», sagt Daniel Albertin. «Ein drittes Mal macht das keiner mit», sagt Marcellina Alig.