Auf einen Blick
- Brienzer müssen erneut ihr Zuhause verlassen, Rückkehr wohl erst 2025 möglich
- Angst vor Schuttstrom und Zerstörung des Hab und Guts
- 1,2 Millionen Kubikmeter Fels rutschen 20 Zentimeter pro Tag
Diskussion wurde wieder emotional
Bereits beim Infoabend am 12. November wurde deutlich, wie emotional aufgeladen die Diskussion um eine Umsiedlung ist. Auch am Mittwochabend wurde die Verzweiflung der Brienzerinnen und Brienzer deutlich, wie ein «Tagesanzeiger»-Bericht zeigt.
«Dass eine Umsiedlung eine Mammutaufgabe ist, ist mir klar», soll ein Brienzer demnach bei der Informationsveranstaltung gesagt haben. «Aber ich bin schwer enttäuscht, dass wir nicht früher einbezogen wurden», kritisierte er. Seit 2020 ist bekannt, dass die Betroffenen nach Möglichkeit in Vazerol ein neues Zuhause finden wollen. Tiefencastel steht bei ihnen weniger hoch im Kurs. «Ich kenne kaum einen Brienzer, der in die Talsohle ziehen will», schob der Mann nach.
Gemeindepräsident Albertin zeigte Verständnis dafür, dass die Brienzerinnen und Brienzer nicht ins schattige Tal nach Tiefencastel umgesiedelt werden wollen. «Wir werden niemanden zwingen», sagte er weiter. Und er hoffe auch, dass alle nach Vazerol können.
Umsiedlung erst in sieben bis acht Jahren?
«Die Brienzer sind heute auf der Strasse», rief der Dorfbewohner, um schliesslich emotional zu werden. «Niemand weiss heute, wann und wohin er umziehen kann. Wir haben Risse in den Fassaden und Risse im Herzen.»
Auch die Nachrichtenagentur keystone-SDA zitierte einen wütenden Brienzer. Ob es sich dabei um dieselbe Person handelt, ist unklar. Die Gemeinde plane seit dreieinhalb Jahren an den Wünschen der Betroffenen vorbei, so die vom Redner vorgetragene Kritik.
Die Gesetze würden eine rasche Umsiedlung blockieren, klagte der Betroffene weiter. Mit den aktuellen Vorschriften sei mit sieben bis acht Jahren zu rechnen. Er forderte deshalb den Gemeindepräsidenten dazu auf, direkt mit dem Bundesrat Kontakt aufzunehmen und die raumplanerischen Blockaden auszuhebeln, damit bereits im nächsten Frühjahr mit Erschliessungsarbeiten begonnen werden kann.
Applaus für Albertin
Eine Entscheidung rückt für die Betroffenen immer näher: Hoffen sie auf die ungewisse Rückkehr oder entscheiden sie sich für die Umsiedlung und ein Stück Bauland. «Die Last liegt auf euch allen», fasste es Gemeindepräsident Daniel Albertin am Ende der Veranstaltung treffend zusammen.
«Es war ein extrem schwieriger Schritt, euch ein zweites Mal zu evakuieren. Ein drittes Mal werde ich das nicht mehr machen», sagte er in Tiefencastel. Solange die Brienzer in ihrem Dorf bleiben wollen, werde er dafür sorgen. Aber er habe gemerkt, dass die Belastung für viele zu gross geworden sei. Viele applaudierten.
Umsiedlung: Brienzerinnen und Brienzer haben einen Favoriten
Das erneut wegen einer Steinlawine evakuierte Bündner Dorf Brienz GR könnte nach Tiefencastel GR und Alvaneu GR umgesiedelt werden. Die Gemeinde Albula stellte am Mittwoch ein entsprechendes Konzept vor. Doch die Betroffenen wollen lieber nach Vazerol GR.
70 Prozent der betroffenen Brienzerinnen und Brienzer würden lieber nach Vazerol umgesiedelt werden. Dies ergab eine Umfrage von 2020. Doch bis vor Kurzem war Vazerol selbst durch einen Bergsturz gefährdet. Erst vor drei Monaten gab es für diesen Standort Entwarnung.
Nicht genügend Bauland in Vazerol GR
Ein betroffener Brienzer nannte dieses Hin und Her am Mittwochabend bei der Präsentation des Umsiedlungskonzepts einen «Boykott». Die Gemeinde habe an den Wünschen der Betroffenen vorbeigeplant.
Der Gemeindepräsident von Albula, Daniel Albertin, zeigte denn auch Verständnis dafür, dass die Brienzerinnen und Brienzer nicht ins schattige Tal nach Tiefencastel umgesiedelt werden wollen. Dort soll gemäss dem Konzept Wohnraum für 100 Personen geschaffen werden. Weitere 70 Personen könnten Platz in Alvaneu Dorf erhalten.
Vazerol soll nun nach der Entwarnung wieder in die Planung aufgenommen werden, so die Gemeinde. Im Februar versprach sie mehr Informationen. Derzeit gibt es in Vazerol gemäss den Behörden noch nicht genügend Bauland.
Pläne für Umsiedlung werden konkreter
Das erneut wegen einer Steinlawine evakuierte Bündner Dorf Brienz GR könnte nach Tiefencastel GR und Alvaneu GR umgesiedelt werden. Die Gemeinde Albula stellte am Mittwoch ein entsprechendes Konzept vor. Die Finanzierung ist aber noch nicht abschliessend geklärt.
Das Konzept der Gemeinde sieht vor, in Alvaneu Dorf Wohnraum für 70 Personen, und in Tiefencastel für 100 Personen zu schaffen, wie die Gemeindebehörden am Mittwochabend den betroffenen Einwohnenden vorstellte.
Umsiedlung konkretisiert
Wer eine solche Umsiedlung finanzieren würde, ist aber noch unklar. Die Gemeinde habe beim Bund und beim Kanton nach Subventionen gefragt, sagte Benno Burtscher, Präsident der zuständigen Kommission der Gemeinde Albula. Am Dienstag habe der Bund «eine im Grunde positive Antwort» an den Kanton gesendet. Diese müsse aber noch analysiert werden.
Für das bedrohte Dorf Brienz gibt es zwei Rettungsmassnahmen. Neben der nun konkretisierten Umsiedlung wird unter dem Dorf an einem Entwässerungsstollen gebaut. Dieser soll die Landmasse entwässern und so die Rutschungen massiv eindämmen.
Jetzt gilt Phase Rot
Im Brienz GR hat am Sonntag um 13 Uhr die Frist für die Evakuierung des kompletten Dorfes geendet. Nun gilt die Phase Rot. Damit ist der Zutritt bis auf Weiteres verboten.
Derzeit finde gerade der abschliessende Kontrollgang statt, erklärte Christian Gartmann, Sprecher der Gemeinde Albula, der Nachrichtenagentur Keystone-SDA nach dem Mittag. Nach dessen Abschluss werde die Gemeinde offiziell über den Abschluss der Evakuierung informieren.
Am Kontrollgang mit dabei sind Vertreter von Feuerwehr, Polizei, Gemeindebehörden sowie dem kantonalen Amt für Militär und Zivilschutz. Sie müssen sicherstellen, dass sämtliche rund 80 Einwohnerinnen und Einwohner von Brienz GR das Dorf verlassen haben und sich niemand mehr im Gefahrenbereich aufhält.
Die zwei Zufahrtsstrassen zum Dorf werden blockiert. Eine Rückkehr ins Dorf ist möglicherweise erst im Frühling 2025 wieder möglich, vorausgesetzt, die 1,2 Millionen Kubikmeter Gestein sind bis dahin schon ins Tal gedonnert.
Welche Geschichte die Brienzer bislang schon durchlebt haben, liest du hier.
Alle Brienzer verlassen das Dorf
Am Samstag sind im Bündner Bergdorf Brienz die Evakuierungsarbeiten planmässig vorangeschritten. Es wird damit gerechnet, dass am Sonntagmittag alle rund 80 Einwohnenden und ihre Tiere das Dorf verlassen haben werden. Die Leute seien alle von allein gegangen, es müsse niemand im eigentlichen Sinne evakuiert werden, erklärte Christian Gartmann, Sprecher der Gemeinde Albula, der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Auch um Haustiere kümmerten sie sich selber. Die Gemeinde Albula, zu der Brienz gehört, stehe aber bei Bedarf nach wie vor zur Verfügung.
Die beiden Bauernhöfe von Brienz hätten ihre Tiere und Futtermittel inzwischen mehrheitlich evakuiert. Auch der über 500 Jahre alte Flügelaltar aus der Kirche ist inzwischen in seine Einzelteile zerlegt und abtransportiert worden. Der Berg verhalte sich derzeit ruhig, von einer vor einigen Tagen festgestellten Verlangsamung der Rutschung der Geröll- und Gesteinsschichten könne aber nicht mehr gesprochen werden.
Kontrollgang am frühen Sonntagnachmittag
Um die Bewegung am Berg noch besser überwachen zu können, wurden am Freitag 17 weitere Prisma-Spiegelreflektoren mit Seilen an einem Helikopter hängend am Hang montiert. Damit könne über einen Laser-Tachymeter im Dorf die Distanz zu den entsprechenden Punkten in der Rutschung gemessen werden, so Gartmann.
Die Frist für die Evakuierung des Dorfes läuft am Sonntag um 13 Uhr ab. Daraufhin werden Vertreterinnen und Vertreter von Feuerwehr, Polizei, Gemeindebehörden sowie dem kantonalen Amt für Militär und Zivilschutz einen Kontrollgang durchführen. Dabei wird sichergestellt, dass sich niemand mehr im Gefahrenbereich aufhält.
Rückkehr erst im Frühjahr?
Sobald dies gegeben ist, werden die zwei Zufahrtsstrassen zum Dorf – eine in Richtung Osten und eine in Richtung Westen – mit Betonblöcken, Scherengittern und Zollschranken blockiert. Auch alle Feldwege würden versperrt und auf den Feldern selber Markierungen mit rot-weissen Baustellenbändern und Signaltafeln angebracht, führte Gartmann aus. So sollte garantiert niemand mehr das Dorf betreten.
Von einer baldigen Rückkehr ins Dorf können die Brienzerinnen und Brienzer nicht ausgehen. Sie müssen möglicherweise bis zu sechs Monate und damit bis nächstes Frühjahr warten, bis die Steinlawine von selbst abgeht. Eine künstliche Sprengung der absturzgefährdeten 1,2 Millionen Kubikmeter Gestein ist nicht möglich.
Klimawandel nicht schuld an Felsstürzen
Die Schuttlawinen, Felsstürze und Blockschläge haben laut dem Geologen Stefan Schneider nichts mit dem Klimawandel zu tun. Die Ereignisse in Brienz gehen viel weiter zurück. Deshalb könne er sich einen Zusammenhang «beim besten Willen nicht vorstellen», sagt er zur Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Der Beginn der Ereignisse markiert ein Schuttstrom von 1878. Damals rutschen ähnlich grosse Gesteinsmassen rechts oberhalb des Dorfes mit einer Geschwindigkeit von vier Metern pro Tag ab. Eineinhalb Jahre war der Strom in Bewegung, bis er schliesslich 100 Meter vor dem Dorf stoppte.
Schneereicher Winter trägt Mitschuld
Danach folgten immer wieder grössere und kleinere Felsstürze sowie zahlreiche Blockschläge. Und auch der Untergrund des Dorfs ist seit Menschengedenken in Bewegung.
Mutmassungen zufolge könnte jedoch der schneereiche Winter von 1999 die Bewegungen beeinflusst haben, so Schneider. Als damals die riesigen Schneemengen schmolzen, gelang viel zusätzliches Wasser ins Erdreich. Zusammen mit der dort herrschenden Geologie eine gefährliche Mischung.
Das Hochplateau, auf dem Brienz GR liegt, besteht in seinem Untergrund aus Bündner Schiefer und sogenanntem Flysch - einer sehr weichen Gesteinsart. Mischt sich Wasser dazu, entsteht ein schmieriger Brei, wie Schneider weiter ausführte.
Permafrost hat keine Auswirkungen
Zusammen mit der Neigung des Gesteins führt dies nun dazu, dass der Berg oberhalb von Brienz, sowie auch das ganze Dorf rutscht. 2,5 Meter pro Jahr bewegt es sich jährlich talwärts. Bei der sich nun lösenden Schutthalde oberhalb des Dorfes sind es Stand Dienstag rund 20 Zentimeter pro Tag.
Auch auftauender Permafrost habe keine Auswirkungen in Brienz GR. Dafür liegt das Dorf auf rund 1100 Metern viel zu tief. Permafrost findet sich erst ab Höhen von 2300 Metern.
Gemeindepräsident: «Brienz fordert alle»
Damit sind alle Fragen aus der Bevölkerung beantwortet. Gemeindepräsident Albertin richtet sich mit abschliessenden Worten an die Anwesenden: «Versuchen wir die Evakuierung miteinander und nicht gegeneinander zu schaffen. Wir wollen behilflich sein in dieser sehr schwierigen Zeit. Brienz fordert alle, von der Gemeinde bis zur Bündner Regierung.»
Huwiler: Mit Sprengung nichts forcieren
Christian Gartmann liest eine weitere Frage vor. Sind Sprengung und Schuttstrom mit Blick auf das Ergebnis, der Zerstörung des Dorfes, dasselbe? «Wir sollten es nicht forcieren», mahnt Andreas Huwiler. Es könne auch sein, dass sich der Schuttstrom wieder verlangsame.
Wie stabil ist das Plateau?
Wie schätzen die Experten das Plateau ein? «Die Schuttrutschung trägt nicht zur Stabilität des Plateaus bei. Das Plateau wird dadurch nicht instabil werden. Wie sich das Plateau langfristig verhalten wird, wissen wir nicht», sagt Huwiler. Wenn der Entwässerungsstollen fertig ist, sollte die Rutschung laut dem Experten entschärft sein.
Berg könnte abgetragen werden
Könnte man die Schutthalde abtragen? «Die Schutthalde allein können wir nicht abtragen, aber den gesamten Berg. Das könnten wir machen, aber das dauert Jahre oder Jahrzehnte. Das wäre ein gewaltiges Projekt», sagt Andreas Huwiler vom Amt für Naturgefahren.
Die Nerven liegen blank. Erneut müssen die Brienzerinnen und Brienzer ihr Zuhause verlassen – dieses Mal wahrscheinlich für mehrere Monate. Wenn es schlecht läuft, kommt es erst im Frühjahr 2025 zu einer Rückkehr.
«Wir müssen in Monaten rechnen – bis in den Frühling 2025. Dies stellt eine enorme Herausforderung dar», sagte Gemeindepräsident Daniel Albertin am Dienstagabend im Rahmen einer Infoveranstaltung. Aktuell rutschen 1,2 Millionen Kubikmeter Fels mit einer Geschwindigkeit von 20 Zentimetern pro Tag ins Dorf hinab. Geologe Stefan Schneider machte klar: Es sieht nicht danach aus, dass die Geschwindigkeit wieder abnimmt.
In Brienz geht die Schuttstrom-Angst um
Bedeutet: Die Einwohner müssen weg. Zunächst gilt die Phase Orange, ab Sonntag, 13 Uhr, die Phase rot – absolutes Betretungsverbot. «Es ist einfach zu gefährlich, sich in Brienz aufzuhalten, mit dieser Situation am Berg. Hier länger, als bis Sonntag zu warten, wäre eine Gefahr gewesen», erklärte Schneider.
Das gefällt nicht jedem. Bei manchen macht sich die Angst breit, dass sie vielleicht nie wieder zurückkommen, der Schuttstrom alles Hab und Gut und das geliebte Gebäude zerstört.
Verzweifelter Hausbesitzer meldet sich zu Wort
«Ich verliere auf meinem Haus 355'000 Franken», klagte ein Mann, der sich nach den Statements der Behördenvertreter, zu Wort meldete. Es ging um eine mögliche Umsiedlung und eine Entschädigung für den Verlust des Hauses. «Die finanziellen Probleme sind für niemanden gelöst. Wir sind nicht blöd», sagt er. «Wir wissen nicht, was wir für unsere Gebäude bekommen», schiebt er nach. «Uns hilft niemand! Unser Land ist im Moment 10 Franken wert.»
Gemeindepräsident Daniel Albertin beschwichtigte: «Wir versuchen, euch so gut wie möglich zu helfen.» Dem Hausbesitzer reichte diese dünne Antwort nicht aus.
«Etliche werden bei einer dritten Evakuierung nicht mehr gehen. Dann wird es einen Skandal geben», kündigte er an. Albertin, sichtlich darum bemüht, zu beruhigen, entgegnete: «Ihr geht nicht für uns, ihr geht für euch.»
Brienzer sind besorgt
Die Sorge ist gross, das wird an diesem Abend spürbar. «Wenn es gefährlicher wird, dauert es nicht nur Monate, sondern viel, viel länger», lautete eine andere verzweifelte Wortmeldung.
«Versuchen wir die Evakuierung miteinander und nicht gegeneinander zu schaffen», appellierte der Gemeindepräsident gegen Ende der Veranstaltung. Da hatte sich die Stimmung wieder etwas beruhigt.
Brienz fordere alle, von der Gemeinde bis zur Bündner Regierung, so Albertin. Offensichtlich erfordert die neuerliche Evakuierung vor allem eines: starke Nerven.