Erneute Evakuierung in Brienz GR wird vorbereitet – Bewohner verzweifelt
«Wie lange wollen sie uns das noch zumuten?»

Bis zu 1,2 Millionen Kubikmeter Felsschutt bewegen sich auf das Dorf zu. Der Gemeindeführungsstab bereitet vorsorgliche Massnahmen vor. Die Bevölkerung steht vor einer «riesigen psychischen Belastung».
Publiziert: 09.11.2024 um 07:33 Uhr
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Aktualisiert: 10.11.2024 um 09:45 Uhr
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Am Samstagabend wurde die Bevölkerung über eine mögliche Evakuierung informiert.
Foto: keystone-sda.ch

Auf einen Blick

  • Schutthalde in Brienz GR bewegt sich
  • Die Felsmasse könnte das gesamte Dorf treffen
  • Zeitpunkt der Evakuierung könnte jederzeit kommen
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SDASchweizerische Depeschenagentur

Das Bündner Bergdorf Brienz droht erneut verschüttet zu werden. Eine Steinlawine könnte mit über 80 Stundenkilometern das Dorf erreichen. Möglicherweise müssen die Bewohnerinnen und Bewohner bereits in den kommenden Tagen evakuiert werden.

«Bereiten Sie sich bitte umgehend darauf vor», sagte Pascal Porchet, Leiter des kantonalen Amts für Militär und Zivilschutz am Samstagabend vor der Betroffenen in Tiefencastel GR. Es solle alles mitgenommen werden, was mit Geld nicht ersetzt werden könne. Es drohe eine Evakuierung von mehreren Monaten.

Gesteinsmassen könnten schneller abrutschen als letztes Mal

Die 1,2 Millionen Kubikmeter absturzgefährdeten Gesteinsmassen seien im Vergleich zum letzten grossen Ereignis vom Juni 2023 sehr feucht. Deshalb müsse davon ausgegangen werden, dass sie schneller abrutschen und weiter ins Dorf vordringen könnten. Zuletzt nahm die Rutschgeschwindigkeit des Gesteins massiv zu. Die Gemeinde rief deshalb am Samstagmorgen die «Phase Gelb» aus. Damit wird eine Evakuierung vorbereitet.

Die Bevölkerung steht unter einer «riesigen psychischen Belastung», wie der Gemeindepräsident sagte. «Wie lange wollen sie uns das noch zumuten?», fragte ein Bewohner an der Informationsveranstaltung. Er lebe mit gepackten Koffern. Man müsse sich vorstellen, was das mit einem mache.

Für Landwirte eine «Katastrophe»

Ein anderer bat die Gemeinde, den Schritt der erneuten möglichen Evakuierung zu überdenken. Insbesondere für Landwirte sei die Situation eine Katastrophe, auch weil eine Evakuierung Monate dauern könnte. Ein weiterer Landwirt klagte, er wisse nicht, wohin mit seinen Tieren, insbesondere weil der Winter bevorstehe. Die letzte Evakuierung hatte im Frühling stattgefunden.

Der Gemeindepräsident Daniel Albertin versuchte die Stimmung zu beruhigen: «Sie können auf unsere Solidarität vertrauen.» Er verwies auf den laufenden Bau des 2,3 Kilometer langen Entwässerungsstollens unterhalb des Dorfes. Für 40 Millionen Franken soll er die Landmasse entwässern und so den Druck auf die Rutschungen reduzieren. Die Behörden hätten deshalb den Glauben nicht verloren, die Heimat zu erhalten, so Albertin weiter. Dennoch musste er sich der Kritik stellen, nicht auf existenzielle Fragen zu antworten. Die Wohnbedingungen seien katastrophal, so ein weiterer Betroffener.

Laufend neue Spalten

Brienz wurde zuletzt am 12. Mai 2023 evakuiert. In der Nacht auf den 16. Juni 2023 gingen 1,2 Millionen Kubikmeter Fels als gewaltiger Schuttstrom ab. Dieser stoppte kurz vor dem Dorf und verschonte dieses. Anfangs Juli 2023 konnten die Brienzerinnen und Brienzer in ihre Häuser zurückkehren.

Drohnenaufnahmen zeigen Ausmass von Felssturz
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Bilder vom Sommer 2023:Drohnenaufnahmen zeigen Ausmass von Felssturz

Mitte März 2024 waren wiederum einige tausend Kubikmeter Felsmaterial oberhalb der Gemeinde abgestürzt. Das Bündner Bergdorf wurde dabei verschont. Weil das Plateau, der mit fünf Millionen Kubikmetern grösste und höchste Teil oberhalb des Dorfes mit 4,3 Metern pro Jahr gegen das Tal rutschte, bildeten sich laufend neue Spalten. Teile der Felswand verloren dadurch Halt und stürzten ab.

Keine längeren Vorwarnzeiten

Zuletzt führten im Mai des laufenden Jahres heftige Niederschläge zudem zu vermehrten Block- und Steinschlägen aus der Rutschung. Für das Dorf bestand laut Behördenangaben damals aber ebenfalls keine Gefahr.

Anders als bei der «Insel» im Sommer 2023 könnten keine längeren Vorwarnzeiten erwartet werden. 

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