Maria José Soler (63) hat ein wachsames Auge. Die Beizerin führt seit 20 Jahren das Ristorante Indipendenza an der gleichnamigen Piazza. 100 Plätze, davon 60 auf der Terrasse. Das braucht ihre ganze Aufmerksamkeit. Doch immer wieder schweift der Blick über den Tresen auf den Platz. Das Handy ist stets griffbereit, eine Durchwahl zur Gemeindepolizei abgespeichert. «Heute regnet es. Da sind wenige Flüchtlinge unterwegs. Aber wenn die Sonne scheint, dann ist der Platz voll von ihnen.»
Das Lokal befindet sich nahe des Asylzentrums. Die Piazza ist ein Treffpunkt der Migranten. Und die würden immer wieder Ärger machen, so die gebürtige Portugiesin. Richtig schlimm sei es seit sechs Monaten. Für viele Migranten und Flüchtlinge ist Chiasso ein Wegpunkt auf dem Weg nach Norden – quasi das Lampedusa der Schweiz. Wirtin Maria José Soler zählt auf: «Sie prügeln sich, zerschlagen Dinge. Sie kommen auf unsere Terrasse, belästigen und beleidigen die Gäste. Sie sind betrunken, sie stören. Sie kommen ins Lokal und stehlen die Smartphones. Du darfst das Handy nicht auf dem Tisch lassen. Sobald du dich wegdrehst, greifen sie danach. Sie haben sogar versucht, uns die Lautsprecher zu klauen.»
«Es sind einfach zu viele»
In der Elefantenrunde von Blick TV am Sonntagabend versicherte SVP-Präsident Marco Chiesa (49) den anderen Talk-Gästen: «Sie alle wollen nicht in Chiasso wohnen!». Für Maria José Soler durchaus keine Stammtischparole. «Die Situation ist eine schlechte Reklame für Chiasso. Leute von ausserhalb kommen nicht mehr hierher. Viele Läden schliessen oder ziehen um.» Dabei sei Chiasso immer gastfreundlich gewesen. «Es sind einfach zu viele. Wo sollen wir sie hintun? Wir sind ein kleiner Ort», sagt Wirtin Maria José Soler.
Bajoz Musa (29) marschiert mit seinem rot-weissen Schirm im Design der Schweizer Flagge über die Piazza. Vor acht Jahren kam er aus Gambia nach Lausanne VD. «Dort lernte ich meine Ehefrau kennen, eine Tessinerin. Wir haben einen kleinen Sohn», erzählt Musa. Er hat die Aufenthaltsbewilligung und Arbeit. Wegen der Familie seien sie nach Chiasso gezogen. «Hier sind viele mit dunkler Hautfarbe», sagt der Afrikaner, «es macht mich wütend, wenn sie im Supermarkt stehlen.» In ihrer Heimat würden sie für solche Delikte sogar getötet. Nun wachse auch der Rassismus in Chiasso. «Leute, die mich nicht kennen, nennen mich einen Kriminellen, nur weil ich schwarz bin.»
«Die Leute haben Angst»
Der Regen fällt. Menschen stehen unter den Arkaden. Elena (43) will nicht den Nachnamen sagen, aber Dampf ablassen. Sie ist Vizepräsidenten der Stadtviertelkommission des Zentrums. «Wir fordern ein Treffen mit Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (59)», sagt die Tessinerin. So ginge es nicht weiter. «Eltern bringen ihre Kinder nicht mehr auf den Spielplatz. Die Leute haben Angst.» Die Frau vom Kiosk mischt sich ins Gespräch. Namentlich genannt werden will auch sie nicht. «Viele Migranten sind schon am Morgen betrunken. Nicht alle sind schlecht, aber es gibt eben auch solche.» Sie versuchten Zigaretten bei ihr zu schnorren, hätten aber Geld im Portemonnaie.
Das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) meldete für September schweizweit 7120 irregulär eingereiste Flüchtlinge oder Migranten. Die allermeisten Grenzübertritte entfielen dabei auf den Kanton Tessin, wie das BAZG meldet: 4098 der 7120 irregulären Grenzübertritte passierten an der Südgrenze. Im August wurden hier noch 2873 illegale Grenzübertritte registriert. Zum Grossteil handelt es sich bei den Einreisenden um afghanische Staatsangehörige, wie das BAZG meldet. Italien nimmt täglich maximal 20 bis 40 Migranten zurück.
Schon im Sommer waren im Bundesasylzentrum in Chiasso 545 Personen untergebracht, mittlerweile sind es 600 – in einer Gemeinde mit etwa mehr als 7800 Einwohnern. Das Staatssekretariat für Migration meldet, dass eine Verschiebung der Migrationsrouten für den Anstieg im Tessin verantwortlich ist.
Das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) meldete für September schweizweit 7120 irregulär eingereiste Flüchtlinge oder Migranten. Die allermeisten Grenzübertritte entfielen dabei auf den Kanton Tessin, wie das BAZG meldet: 4098 der 7120 irregulären Grenzübertritte passierten an der Südgrenze. Im August wurden hier noch 2873 illegale Grenzübertritte registriert. Zum Grossteil handelt es sich bei den Einreisenden um afghanische Staatsangehörige, wie das BAZG meldet. Italien nimmt täglich maximal 20 bis 40 Migranten zurück.
Schon im Sommer waren im Bundesasylzentrum in Chiasso 545 Personen untergebracht, mittlerweile sind es 600 – in einer Gemeinde mit etwa mehr als 7800 Einwohnern. Das Staatssekretariat für Migration meldet, dass eine Verschiebung der Migrationsrouten für den Anstieg im Tessin verantwortlich ist.
Ja, die Situation dürfe man nicht unterschätzen, sagt Stadtpräsident Bruno Arrigoni (62). Aber die Aussage von Marco Chiesa sei übertrieben. «Es ist richtig, die Menschen, besonders die Älteren, sind schon verunsichert», sagt der Tessiner, «und unserer Gemeindepolizei sind die Hände gebunden.» 500 Einsätze habe es bereits in diesem Jahr wegen der Migranten gegeben. Wenn einer beim Stehlen oder Randalieren erwischt wird, sei er wenig später wieder frei, sagt Arrigoni. «Das Problem sei die Zahl der Migranten», so der Sindaco weiter. Noch vor zehn Jahren kamen 125 Flüchtlinge und Migranten in Chiasso unter. 2017 wurde ein zusätzliches Zentrum errichtet. Dann seien es 350 gewesen. Jetzt mit einer dritten Unterkunft sind es über 600. «Zu viel für einen Ort von 7800 Einwohnern», sagt Bruno Arrigoni. «Dabei gäbe es eine einfache Lösung: Die ankommenden Flüchtlinge auf andere Tessiner Städte verteilen!»
Die Zahl der Flüchtlinge, die über die Südschweiz einreisen, habe sich in den vergangenen Monaten verdoppelt, sagt Hauptmann Luca Cometti (44). Grund sei eine neue Balkanroute, die über den adriatischen Raum geht. Seit 22 Jahren hat der Einsatzleiter Zoll Süd mit Flüchtlingsbewegungen zu tun. «Die Migranten heute wissen genau, wohin sie wollen. Meist durchreisen sie die Schweiz, um in Länder wie Deutschland und Frankreich zu gelangen, wo sie ihre Diaspora finden» so Luca Cometti.