ETH-Forscher warnt vor neuer Corona-Super-Variante
«Covid-22 könnte noch schlimmer werden»

Wegen Delta ist jeder Ungeimpfte ein potenzieller Superspreader. Doch es steht noch Ärgeres bevor: Wissenschaftler Sai Reddy kündigt eine Variante an, die weit gefährlicher ist.
Publiziert: 22.08.2021 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 23.08.2021 um 15:06 Uhr
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«Toute personne non vaccinée qui contracte le Delta peut être un super-propagateur», explique Sai Reddy, immunologiste à l'EPFZ.
Foto: Siggi Bucher
Interview: Danny Schlumpf Fotos: Siggi Bucher

Die meisten Infizierten und fast alle Covid-Hospitalisierten sind ungeimpft. Ist es so einfach: Wer sich nicht impft, kriegt das Virus?
Sai Reddy: Wegen dem Impfprogramm wurden die meisten einschränkenden Massnahmen aufgehoben. Die Ungeimpften werden also viel weniger geschützt. Und die Delta-Variante ist viel ansteckender. Das ist nicht mehr Covid-19. Ich würde es Covid-21 nennen. Deshalb ja: Wer sich gegen die Impfung entscheidet, wird irgendwann das Virus kriegen.

In den Schulen häufen sich die Ansteckungen. Sind Kinder die neuen Superspreader?
Neuste Daten zeigen: Die Viruslast von Delta ist so gross, dass jeder Ungeimpfte, der sich mit der Variante ansteckt, ein Superspreader sein kann. Und weil Kinder unter zwölf Jahren sich nicht impfen lassen können, werden sie zu einer grossen Gruppe potenzieller Superspreader.

Sollten sich die Kinder impfen lassen?
Absolut. Sobald wir genügend Belege haben, dass die Impfung für Kinder unter zwölf Jahren sicher ist, müssen wir eine massive Kampagne für ihre Impfung starten.

Die Vakzine schützen uns nicht zu 100 Prozent. Werden Impfdurchbrüche jetzt zunehmen?
Wir werden im Herbst einen Anstieg der Fälle und damit auch der Impfdurchbrüche erleben. Allerdings nicht, weil die Impfstoffe schlecht wirken, sondern weil wir eine tiefe Impfrate haben. Deshalb werden viel mehr Viren zirkulieren. Wenn die Impfrate nicht rasch steigt, können nur noch harte einschränkende Massnahmen Schlimmeres verhindern.

Eine Million Israelis haben bereits den Booster erhalten. Wie effektiv schützt er gegen Delta?
Ein Grund, warum Delta die Impfung überwinden kann, ist die sehr grosse Viruslast. Dem müssen wir mit einem hohen Level an Antikörpern begegnen. Genau das bewirkt der Booster. Jüngste Berichte aus Israel und den USA zeigen: Nach sechs Monaten sind die aktuellen mRNA-Vakzine nur noch bis zu 60 Prozent gegen eine symptomatische Delta-Infektion wirksam. Sie sind aber immer noch sehr wirksam gegen schwere Symptome. Ein Booster dürfte uns zurück zu 90 Prozent führen.

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Gemäss BAG wird es in der Schweiz vor 2022 keine Booster für die breite Bevölkerung geben.
Viele Leute haben sich im Juni impfen lassen, deshalb ist dieses Timing in Ordnung. Aber es muss gleich zu Jahresbeginn losgehen, um eine weitere Welle zu verhindern.

Und was, wenn neue Virusvarianten kommen?
Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine neue Variante auftaucht, bei der wir uns nicht mehr nur auf die Impfung verlassen können. Und wo auch immer sie entsteht, wird sie mit Sicherheit die Schweiz erreichen. Deshalb müssen wir uns für die nächsten Jahre auf mehrere Impfungen einstellen, die laufend an neue Varianten angepasst werden.

Was passiert, wenn die Impfquote in der Schweiz auf dem aktuellen Stand verharrt?
Viele Schulen haben den Betrieb ohne Masken und ohne grössere Einschränkungen aufgenommen. Alle Restaurants, Bars und Hotels sind offen. Steigt die Impfrate nicht substanziell an, erleben wir einen Anstieg der Fälle und Hospitalisationen, der mindestens so massiv ist wie im letzten Jahr. Dann kommt unser Gesundheitssystem erneut an seine Kapazitätsgrenze – oder noch schlimmer. Wir sollten das sehr ernst nehmen. Hätten wir jetzt nicht wenigstens 50 Prozent Geimpfte in der Schweiz, würden wir wegen Delta einen Katastrophensommer wie in Indien oder Brasilien erleben.

Sai Reddy persönlich

Der US-Amerikaner Sai Reddy (40) wurde in Chicago geboren, wo er den medizintechnischen Studiengang Biomedical Engineering absolvierte. Seine Dissertation schloss Reddy 2008 an der EPFL in Lausanne ab. Nach Aufenthalten an den amerikanischen Universitäten Texas und Colorado kehrte der Wissenschaftler 2011 in die Schweiz zurück. Reddy lehrt als Assistenzprofessor am Department of Biosystem Science and Engineering der ETH in Basel. Sein Forschungsschwerpunkt ist die synthetische Immunologie. Reddy ist mit einer Schweizerin verheiratet.

Der US-Amerikaner Sai Reddy (40) wurde in Chicago geboren, wo er den medizintechnischen Studiengang Biomedical Engineering absolvierte. Seine Dissertation schloss Reddy 2008 an der EPFL in Lausanne ab. Nach Aufenthalten an den amerikanischen Universitäten Texas und Colorado kehrte der Wissenschaftler 2011 in die Schweiz zurück. Reddy lehrt als Assistenzprofessor am Department of Biosystem Science and Engineering der ETH in Basel. Sein Forschungsschwerpunkt ist die synthetische Immunologie. Reddy ist mit einer Schweizerin verheiratet.

Brauchen wir regelmässiges Testen und Genom-Sequenzierung noch?
Ja, aber wir müssen die beiden Elemente kombinieren. Testen zeigt uns an, ob wir positiv oder negativ sind. Das Sammeln von Informationen über die Genom-Sequenz des Virus wiederum ermöglicht uns die Erkennung neuer Varianten. Aber bis jetzt werden in der Schweiz die Viren von weniger als zehn Prozent der Patienten auf diese Weise analysiert. Deshalb habe ich zusammen mit internationalen Partnern die beiden Dinge verknüpft: Wer getestet wird, erhält gleichzeitig eine Genom-Sequenzierung. Die Methode heisst Deep Sars. Sie ermöglicht uns, neue Varianten früher zu entdecken.

Sind schon Varianten erkennbar, die noch gefährlicher sind als Delta?
Es gibt die bekannten Varianten Beta aus Südafrika und Gamma aus Brasilien. Beide haben Fluchtmutationen entwickelt: Sie können den Antikörpern teilweise ausweichen. Delta wiederum ist viel ansteckender, hat aber bis jetzt keine Fluchtmutationen gebildet.

Und der nächste Schritt ist eine Kombination?
Das ist unausweichlich. Es ist die nächste Phase der Pandemie, wenn Beta oder Gamma infektiöser werden oder aber Delta Fluchtmutationen entwickelt. Das wird das grosse Problem des kommenden Jahres sein. Covid-22 könnte noch schlimmer werden als das, was wir jetzt erleben.

Wie können wir darauf reagieren?
Wenn eine solche Variante auftaucht, müssen wir sie so früh wie möglich erkennen und die Impfstoffhersteller müssen die Vakzine rasch anpassen. Das Auftauchen dieser neuen Variante ist das grosse Risiko. Wir müssen uns darauf vorbereiten.

Wie werden der kommende Herbst und Winter aussehen?
Es werden sechs sehr harte Monate. Der Sommer 2021 fühlte sich an wie derjenige von 2019. Aber der kommende Herbst und Winter werden so sein wie im letzten Jahr. Dafür verantwortlich sind die Delta-Variante und die Tatsache, dass wir keine höhere Impfrate haben. Die Variante können wir nicht kontrollieren, aber wir können die Impfrate beeinflussen.

Wie sieht die Zukunft dieser Pandemie aus?
Das Virus und unser Immunsystem sind jetzt eng miteinander verbunden – wie zwei Tänzer: Das Immunsystem bewegt sich und das Virus reagiert. Wir werden noch lange mit dem Virus tanzen. Wahrscheinlich während Jahren, vielleicht für den Rest unseres Lebens.

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