Die Impfquote stagniert – das Virus floriert. Seit Mitte Juli steigen die Covid-Fallzahlen wieder rasant. Doch dieses Mal ist eine klar umgrenzte Bevölkerungsgruppe gefährdet: «Wir steuern auf eine Welle der Ungeimpften zu», sagt Christoph Berger, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen.
Wer nicht erkranken will, braucht jetzt die Spritze: Es dauert sechs Wochen, bis der Schutz vollständig aufgebaut ist. Und im Herbst hebt die vierte Welle an – mit der Delta-Variante des Coronavirus, so aggressiv wie keine zuvor.
Die gute Nachricht: Impfstoff gibts genug! Allerdings zögern immer noch viele. Sind ihre Bedenken berechtigt? Was wissen wir wirklich über die Krankheit – und was über den Schutz davor?
Virus kann jede Altersgruppe schwer treffen
Für Gesundheitsminister Alain Berset ist klar: «Jeder wird mit dem Virus in Kontakt kommen – über eine Impfung oder über eine Ansteckung.» Deshalb erhöht der Bundesrat nun den Druck: «Ungeimpfte können sich nicht mehr auf staatliche Schutzmassnahmen verlassen.»
Bis heute will sich die Hälfte der Bevölkerung nicht impfen lassen. Pauline Vetter, Infektiologin am Universitätsspital Genf: «Inzwischen bestätigen zahlreiche Daten, dass die Impfstoffe nicht nur wirksam, sondern auch sicher sind. Eine Corona-Erkrankung hingegen birgt das Risiko eines schweren Verlaufs und bringt selbst bei einer milden Erkrankung störende Symptome.»
Im schlimmsten Fall führt die Ansteckung zum Tod. Für ältere und Risikopatienten unter den Ungeimpften ist diese Gefahr sehr real. Viele Junge machen einen milden Krankheitsverlauf durch, aber es kann auch Menschen im arbeitsfähigen Alter oder Kinder schwer treffen.
Nicht einmal Covid-Genesene dürfen sich in Sicherheit wiegen, warnt Pauline Vetter: «Die Antikörper-Antworten nach der Impfung sind höher als nach einer Infektion.»
Hunderttausende Menschen in der Schweiz von Long Covid betroffen
Gravierend auch die Möglichkeit von Langzeitfolgen. Eine neue Umfrage unter Long-Covid-Betroffenen in der Schweiz kommt zum Schluss: Nebst Erschöpfungssymptomen sind die häufigsten Beschwerden Belastungsintoleranz, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Kurzatmigkeit sowie Atemnot unter Belastung. Die Erkrankten berichten aber auch von Ängsten und Depressionen.
Nach BAG-Schätzungen erlebte seit Beginn der Pandemie über ein Drittel der Schweizer Bevölkerung eine Infektion mit dem Virus. Chantal Britt, Gründerin und Präsidentin des Vereins Long Covid Schweiz: «Wir gehen davon aus, dass mindestens zehn Prozent der Corona-Erkrankten von Long Covid betroffen sind. Das wären in der Schweiz Hunderttausende Menschen.»
Long Covid kann alle treffen, sagt Britt: «Über 80 Prozent sind zwischen 30 und 60 Jahre alt, und die meisten von ihnen waren vor der Erkrankung topfit.» Nur logisch also, dass die Neuanmeldungen bei der IV aufgrund von Langzeitfolgen zunehmen.
«Gibt keine wissenschaftlichen Hinweise, dass die Impfung zum Tod führt»
Aber was ist mit dem Risiko der Vakzine? Zwar müssen Geimpfte nach der zweiten Spritze mit ein bis zwei Tagen Unwohlsein und grippeähnlichen Symptomen rechnen. «Doch das ist zum einen harmlos, zum anderen gut so», sagt Christoph Berger. «Was wir spüren, ist die Antwort des Immunsystems auf die Impfung. Bei der zweiten Impfung reagiert der Körper oft stärker, weil er den Erreger bereits kennt.»
Spätfolgen seien von den in der Schweiz verwendeten mRNA-Vakzinen kaum oder gar nicht zu erwarten, betont Berger. Dennoch grassieren krasse Verschwörungstheorien, die viele verunsichern. Nur: Behauptungen über implantierte Chips oder Genmanipulation sind Humbug. «Und es gibt keine wissenschaftlichen Hinweise, dass die Impfung zum Tod führt», sagt Berger.
Was es indessen durchaus gibt: kritische Argumente, die nicht offenkundig falsch sind – und trotzdem nicht stimmen. Besonders junge Frauen machen sich Sorgen, weil es immer wieder heisst: Die Spritze macht unfruchtbar! Auch hier winken Fachleute ab: «Das ist schlicht und einfach falsch», sagt Christoph Berger. Umgekehrt hingegen treffe zu: «Eine schwere Corona-Erkrankung kann die Reserve an Eizellen reduzieren.»
Bereits neun Millionen Impfdosen in der Schweiz verabreicht
Die europäische Arzneimittelagentur erwähnt in einem neuen Bericht mögliche Hautreaktionen und Nierenleiden im Zusammenhang mit mRNA-Impfungen. Sie weist aber auch darauf hin, dass es sich um wenige Fälle handelt.
Fakt ist: Bis heute wurden in der Schweiz mehr als neun Millionen Impfdosen verabreicht. Bei weniger als 0,05 Prozent der Geimpften wurden Nebenwirkungen gemeldet, 65 Prozent waren nicht schwerwiegende Fälle.
In 0,01 Prozent können schwerwiegende Nebenwirkungen auftreten. «Aber diese schweren Nebenwirkungen sind meist allergische Reaktionen und leicht zu behandeln», sagt Olivia Keiser, Epidemiologin an der Uni Genf.
Die meisten Hospitalisierten sind ungeimpft
Bei Geimpften gelange das Virus zwar in die oberen Atemwege und den Rachen, sagt Christoph Berger. «Doch der Körper kann dank der Immunreaktion dagegen ankämpfen.» Wenn die Viren in den Rachen kommen, können auch Geimpfte sie übertragen – aber das ist vor allem für Ungeimpfte ein Problem: Sie haben ein 80-mal höheres Infektionsrisiko als Geimpfte, wie eine aktuelle Studie aus der Waadt zeigt.
In der Schweiz sind mittlerweile mehr als 4,5 Millionen Personen vollständig geimpft. 563 von ihnen haben sich seit Januar infiziert – das entspricht 0,01 Prozent. Über 90 Prozent aller mit Covid Hospitalisierten hingegen sind Ungeimpfte. Und das, obwohl sich ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung seit Beginn der Impfkampagne halbiert hat.
Impfung wird freiwillig bleiben
Die Kleinen müssen trotzdem auf den Piks warten: «Wir können noch nicht sagen, ob und wann Kinder unter zwölf Jahren geimpft werden», sagt Impfchef Berger. «Dazu ist die Datenlage einfach noch zu dünn.» Umso wichtiger, dass sich möglichst viele Erwachsene impfen lassen.
Kommt bald noch mehr Druck auf die Zögernden zu? «Die Impfung ist freiwillig – und dabei bleiben wir», sagt Christoph Berger. «Wir können auch ohne rigorose Impfregeln mindestens weitere zehn Prozent zur Impfung bewegen.»