«Es gibt nichts zu tun im Propog. Da gehst du kaputt»
Der härteste Knast der Schweiz geht zu

Von nächtlichem Geschrei, verrussten Zellen und eingeritzten Schachbrettern: Das provisorische Polizeigefängnis (Propog) auf dem Zürcher Kasernenareal wird abgerissen. Ein letzter, exklusiver Einblick.
Publiziert: 23.04.2023 um 14:01 Uhr
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Aktualisiert: 23.04.2023 um 19:45 Uhr
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1994 angesichts des Drogenelends bewilligt, ursprünglich für fünf Jahre geplant: Das provisorische Polizeigefängnis (Propog) auf dem Zürcher Kasernenareal.
Foto: Thomas Meier

Das Gefängnis hat sich seine Gefangenen einverleibt. Ihre Verzweiflung. Ihre Angst. Ihre Wut. «Unschuldig hinter Gittern», wurde in eine Zellentür geritzt, darüber das Datum: 3. 10. 04. Auf einer anderen Tür steht: «Wir schreien nicht ‹Fuck›, sondern ‹Kill the Police›». Und immer wieder die gleichen vier Buchstaben: «Free» – Hoffnung und Forderung zugleich. Die Häftlinge haben ihre Botschaften mit Zahnpasta oder Asche an die Wände geschmiert, mit den Zippern ihrer Reissverschlüsse hineingeritzt.

Der härteste Knast der Schweiz

Es ist leer, aber nicht still im Zürcher provisorischen Polizeigefängnis, abgekürzt Propog. Im Sommer haben die letzten Insassen den dreistöckigen Betonbau auf dem Kasernenareal verlassen. Das Propog galt unter Anwälten als Anstalt mit dem strengsten Haftregime. Selbst hartgesottene Polizisten seien froh, wenn sie das Gebäude wieder verlassen können, hiess es einmal im «Tages-Anzeiger». Das Propog war ein Unort, mitten im Herzen der Stadt. Ein Mahnmal auf Zeit – an Zeiten, die man lieber vergisst.

Von draussen konnte man nur erahnen, was hinter den dicken Mauern geschah. Journalisten hatten keinen Zugang, Anwälte kannten nur die Besucherzimmer. Hörte man etwas, waren es Schauergeschichten: Hier beging im August 2014 ein Rega-Angestellter Suizid, der versucht hatte, Michael Schumachers Krankenakte an die Medien zu verkaufen. Hier waren Elfjährige inhaftiert – im normalen Hafttrakt, ein Verstoss gegen internationale Grundsätze.

Der Straftäter Brian, bekannt als Carlos, war schon hier, ebenso Fussballmanager Erich Vogel oder Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz. Sie sassen in den kleinen Zellen: Metallrost, durchgelegene Matratze, Holztisch, vergittertes Fenster.

«Ich war Stammgast.»

Ilias Schori, Ex-Häftling des Zürcher Notknasts und heute Dozent beim Verein «Gefangene helfen Jugendlichen», erinnert sich: «Im Winter war es eiskalt, im Sommer brütend heiss. Es stank immer – nach abgestandenem Rauch, Knastküche, dem Schweiss von Ungeduschten.» Heute stinkt es nur noch nach abgestandener Luft.

Als 14-Jähriger kam Schori das erste Mal ins Propog. Man steckte ihn mit Erwachsenen in eine Zelle. Er kam immer wieder: zuerst weil er aus Heimen geflohen war, später wegen Diebstählen.«Ich war Stammgast.»

23 von 24 Stunden am Tag in einer Zelle

Mit den Zellen im Kasernengebäude gab es 141 Haftplätze. Ins Propog kamen Festgenommene, bevor ein Richter über Untersuchungshaft entschied und sie allenfalls in andere Anstalten verlegt wurden. Maximale Aufenthaltsdauer: sieben Tage. Die Polizeihaft ist die restriktivste Form der Haft: 23 von 24 Stunden am Tag in einer Zelle, allein, manchmal zu zweit, ohne zu wissen, was kommt. Hier setzt der Haftschock ein, hier erleiden Insassen Panikattacken oder Anfälle.

Eine Zelle im zweiten Stock ist schwarz vor Russ, ein Häftling muss sie in Brand gesetzt haben. Ausdruck der Verzweiflung? Ein Versuch, Druck zu machen? Oder schlicht ein Unfall?

Schori erzählt von Häftlingen, die an die Türe hämmern, die schreien, in allen möglichen Sprachen, auch nachts. Er sagt es, als ob es normal wäre. «Du bist nur mit den eigenen Gedanken beschäftigt: Wie geht es weiter? Wo komme ich hin? Was denken meine Eltern von mir? Fuck the Police! Ich wäre jetzt lieber mit der Freundin am Meer.»

Aufstehen um 6.15 Uhr, Licht aus um 21.30 Uhr

Schon der Bau des Propog war eine Notlösung. Das Gelände, auf dem es errichtet wurde, steht in der kantonalen Freihaltezone. 1994: Es war die Zeit nach der Räumung der offenen Szene am Letten. Angesichts des Drogenelends bewilligte das Stimmvolk den Bau eines Gefängnisses auf der Kasernenwiese. Provisorisch, für fünf Jahre. Daraus wurden 30. Im Safe des Gefängnisarztes steckt noch heute ein Schlüssel mit der Aufschrift «Methadon».

Im Propog gab es kein Handy, keinen Fernseher, nichts zu lesen – ausser den Inschriften. Totaler Reizentzug. Auf einigen Holztischen sind Schachbretter eingeritzt, Häftlinge bastelten sich Spielfiguren aus dem Papierleintuch und spielten Tic-Tac-Toe.

Am Fenster einer Zelle klebt noch die Hausordnung – Monotonie im Laminat: Aufstehen um 6.15 Uhr, Essen um 6.30 Uhr, 10.30 Uhr und 16.30 Uhr. Licht aus um 21.30 Uhr. Einzige Orientierungshilfe war das Radio, das mit den Nachrichten die Uhrzeit durchgab. Die drei Zigaretten, die Ilias Schori pro Tag bekam, verteilte er sich über diesen. Rauchte immer nur eine halbe, ohne Filter.

Isolation lässt Häftlinge sprechen

«Es gibt nichts zu tun. Du liegst auf dem Bett, hörst den Rauchabzug, vom Fenster siehst du an eine Hauswand», sagt Schori. «Und von draussen hörst du das Caliente-Fest: die Musik, den Bass, das Lachen der Leute.» Eine Stunde Hofgang gab es pro Tag – wobei der Hof ein zubetonierter Platz war, auf dem man oben durch den Natodraht nur den Himmel sehen konnte. Abgeschirmt von der Aussenwelt. Auch im leer stehenden Gebäude fühlt man sich beengt, beelendet von der Trostlosigkeit.

«Im Iran, in Syrien wirst du gefoltert, um zu gestehen. Bei uns sperren sie dich ein, 23 Stunden, auf 8,5 Quadratmetern, wenn du Pech hast, mit einem anderen Geschädigten. Ich sage das den Schülern jeweils: Stellt euch vor, ihr sitzt 23 Stunden zu Hause in eurem WC. Da gehst du kaputt. Da fängst auch du an zu reden.»

Schon bei der Eröffnung nicht mehr Zeitgemäss

Die Kommission zur Verhütung von Folter hat die Zürcher U-Haft wiederholt kritisiert. Die Kantonspolizei wollte zuerst keine Besichtigung zulassen: Das Gebäude sei «ein baufälliges Providurium», das im aktuellen Zustand ein falsches Bild einer zeitgemässen Haft liefere.

Zeitgemäss wars schon zu seinen besten Zeiten nicht. Schori erinnert sich: Er sass im Polizeiwagen auf dem Weg ins Propog, seine Hände hinter dem Rücken gefesselt, er schaffte es, sie während der Fahrt nach vorne zu nehmen. «Als der Aufseher das sah, hat er mich angeschrien, mir gedroht, er schlage mich zusammen.» Er bleibe so lange im Wagen, bis er das rückgängig mache. Schori tats, zusammengekrümmt. «Man wird als Verbrecher behandelt, nicht als Mensch. Ich war ja auch einer, aber trotzdem.»

Propog wird recycelt

Am Montag fahren die Bagger auf. Das Kasernenareal wird zum Bildungszentrum umgebaut. Die Gefangenen ziehen ins Gefängnis Zürich West um, wo vieles anders und besser werden soll – man sich aber bereits zu Beginn beim Personalbestand verplant hat.

Das Propog lebt weiter: Teile der Knastküche tun ihren Dienst auf einem kantonalen Bauernhof in Hombrechtikon, die Gitterroste der Betten dienen als Dachgeländer in einer neuen städtischen Genossenschaft. Die Büromöbel hat das Baudepartement übernommen. Sogar der Beton bekommt eine zweite Chance: Er sei sehr hochwertig, heisst es.

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