Der Albtraum beginnt frühmorgens um sechs. Es klingelt bei Familie M*. Kaum ist die Tür offen, dringt ein Dutzend Polizisten in die Wohnung ein. Am Ende dieses Tages vor zwei Jahren nimmt die Staatsmacht den Vater mit. Sechs Monate lang werden die Kinder ihn nicht wiedersehen.
M. ist ein Zürcher in den Vierzigern mit gepflegter Erscheinung und hellblauen Augen, ein Akademiker und Unternehmer ohne Vorstrafen, wie er bei einem Treffen beteuert. M. genoss ein gutbürgerliches Leben in der Finanzbranche.
Aus dem sozialen Umfeld gerissen
Doch damit ist es ab sofort vorbei. Er wird eines Wirtschaftsdelikts bezichtigt. Die Vorwürfe liegen mehrere Jahre zurück.
Die Nacht verbringt M. im provisorischen Zürcher Polizeigefängnis, er wird es sein Leben lang nicht vergessen. «Dort wollen sie dich brechen», sagt er: 23 Stunden eingesperrt, eine Stunde Hofgang hinter Gittern, mieses Essen, beissender Geruch. «Die Hölle», sagt M., «auf Schweizer Autobahntoiletten herrschen bessere Verhältnisse.»
Ex-Raiffeisendirektor Pierin Vincenz sowie dessen Berater und Mitangeklagte Beat Stocker haben am eigenen Leib erfahren, wovon M. spricht.
Beide sassen über drei Monate in U-Haft. Vincenz: «Was ich in den letzten Wochen erlebt habe, wünsche ich niemandem.» Kurz vor Beginn ihres Verfahrens, das als Schweizer Wirtschaftsprozess des Jahrzehnts gilt, sprach Stocker in der «NZZ am Sonntag» über den Haftschock, den er erlitten hatte.
U-Haft mit Folgen
Mediziner sprechen vom Vulnerabilitäts-Stress-Modell. Ulf Sternemann, Chefarzt der psychiatrischen Gefängnisgrundversorgung in Zürich, vergleicht dabei zwei Regentonnen unterschiedlichen Volumens – bei einigen laufe das Fass schneller über.
Die Folgen sind Wut, Angst, Sorgen, Kopfschmerzen, Ohnmachts- oder Schamgefühl. «Manche leiden ein paar Tage unter Stressreaktionen, andere monatelang, werden gar suizidal oder entwickeln eine Haftpsychose», sagt der Arzt.
Ohnmacht und Ungewissheit seien das Schlimmste, sagt M. Unmöglich, etwas zu regeln. Sämtliche Konten sind gesperrt, sein Unternehmen kollabiert sofort. Wie soll die Familie durchkommen? Wie lang bin ich weg? Oder wie Regisseur Roman Polanski sagte, der bislang prominenteste Schweizer Ex-Gefangene: «Was einen so wütend macht, wirklich irre macht in der Zelle – du bist so hilflos!»
Harter Alltag im Untersuchungsgefängnis
Nach einer Woche wird M. in ein Untersuchungsgefängnis verlegt. Die Veränderung wirkt extrem bedrohlich, wie im Horrorfilm. Sein neuer Alltag besteht aus einem harten Bett in einer kleinen Zelle, wenigen Stunden für Sport oder einer Runde auf dem Stockwerk.
Unter den Insassen kommt es wiederholt zu Rangeleien. M. versucht, sich möglichst normal zu verhalten. Am Wochenende werden fast alle durchgehend in ihre Zellen gesperrt. Vielen erhalten starke Medikamente.
M. nimmt nichts. Besuchsanträge seiner Frau werden abgelehnt, Briefe bekommt er erst Wochen später ausgehändigt, berichtet er.
Im Rahmen der legalen Möglichkeiten werde alles getan, den Insassen den Aufenthalt möglichst schwierig zu gestalten, ist er überzeugt: «Die U-Haft gibt sich einen rechtsstaatlichen Anstrich, in Wahrheit ist sie ein massives Druckmittel, das an weissrussische Zustände erinnert.»
Kritik an Härte
Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) kritisierte in den vergangenen Jahren mehrmals entschieden die Härte der Schweizer U-Haft. «Sie ist die rigideste und strengste Haftform», sagt Kommissions-Vizepräsident Leo Näf. Obwohl für alle Inhaftierten die Unschuldsvermutung gelte.
Immer wieder ist zu hören, dass die U-Haft hierzulande im Vergleich mit anderen europäischen Nationen zu den härtesten gehört. Das Schweizerische Kompetenzzentrum für den Justizvollzug (SKJV) hat für SonntagsBlick einen Vergleich mit dem Ausland gemacht. Dabei zeigte sich: U-Haft wird in der Schweiz häufiger angeordnet als in anderen Nationen des Kontinents, insbesondere im Vergleich mit Deutschland, Österreich und Italien.
Doppelt so viele Suizide
Auch die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in U-Haft Suizid begeht, ist hierzulande im Vergleich zum regulären Strafvollzug mehr als doppelt so gross. 60 Prozent aller Suizide im Freiheitsentzug geschehen während der U-Haft. Im europäischen Mittelwert liegt dieser Wert bedeutend tiefer: bei 37,5 Prozent. Einer der Gründe dafür dürfte sein, dass die U-Haft in fast allen Kantonen als Einzelhaft vollzogen wird.
Das Fazit des Vergleichs: In der Schweiz wie im europäischen Ausland sind Untersuchungsgefangene gegenüber regulären Strafgefangenen schlechter gestellt, vor allem im Hinblick auf Einschlusszeiten, Aussenkontakte und Beschäftigung.
Etwas muss sich ändern
Seit einigen Jahren wird daher schweizweit diskutiert, wie man das Haftregime erleichtern könnte. Im Prinzip sei man bei vielen Gefängnisverantwortlichen auf offene Ohren gestossen, sagt Leo Näf von der NKVF. Doch die Umsetzung im Alltag bleibe schwierig: Ein Teil des Personals und der Staatsanwaltschaften hätten Einwände.
«Die Zeiten, in denen man Menschen über Monate lang während 23 Stunden am Tag einsperrt, müssen vorbei sein», sagt Joe Keel, Sekretär des Ostschweizer Strafvollzugskonkordats. Die Verfahrensleitungen indessen wendeten ein, dass eine Öffnung des Haftregimes das Verfahren negativ beeinflussen könnte: In vielen Fällen bestehe jedoch gar keine besonders hohe Verdunkelungsgefahr, die oftmals als Grund dafür genannt werde, dass die Insassen überhaupt so intensiv abgeschottet sind.
Scharfe Haftbedingungen dürften nicht als Druckmittel verwendet werden, sagt Keel: «Man darf in der U-Haft nicht Dinge im Menschen kaputtmachen, die dann im Strafvollzug oder im Zivilleben aufwendig repariert werden müssen.»
Als M. nach sechs Monaten freikommt, teilen ihm Freunde sorgenvoll mit, er sähe aus wie nach einer Chemotherapie – 15 Kilo hat er abgenommen.
«Auch Monate danach konnte ich kaum einschlafen», erinnert er sich. Das jüngstes Kind zeigt im Kindergarten starke Aggressionen, zum ältesten musste er eine neue Bindung aufbauen.
Zürich als Vorreiter
Geht es um die U-Haft, ist oft von Zürich die Rede, das die meisten Insassen zählt – und wo das Haftregime so hart wie nirgendwo sonst war. Bis Regierungsrätin Jacqueline Fehr sich daran machte, die U-Haft zu reformieren. Die Mammutaufgabe wurde zu einem Erfolg.
Konkrete Änderungen, die gemäss ihrer Direktion für alle U-Häftlinge neu gelten: Eine offene Zellentür und Gruppenvollzug an sieben bis neun Stunden pro Tag, tägliche Duschmöglichkeiten, Schulangebot, Gesundheitsdienst, mehr psychiatrische Betreuung, mehr Sportangebote. Auch ein Mehrphasenmodell der Haft (zuerst restriktiv, dann immer offener) habe man eingeführt.
Fragt man Zürcher Strafverteidiger nach der Umsetzung, tönen manche skeptisch. Für das Gros der U-Häftlinge habe sich nicht viel verbessert, sagt Tanja Knodel vom Verein Pikett Strafverteidigung.
Die Situation sei nach wie vor schwierig. Es gebe meist keinen Kontakt zur Aussenwelt, keine Beschäftigung oder Arbeit und nur eine Stunde Hofgang. Für Menschen, die lange in U-Haft seien, gelte unter gewissen Umständen das Mehrstufenmodell. Knodel: «Nur kenne ich aus meiner Praxis keinen einzigen Fall, wo dieses Modell angewendet wurde.»
Gregor Münch vom Zürcher Anwaltsverband attestiert Jacqueline Fehr ernsthafte Bemühungen, etwa das mehrmalige Duschen pro Woche, vermehrten Gruppenvollzug oder den Aufbau einer Kriseninterventionsabteilung. Doch auch er hat das Mehrphasenmodell bei seiner Arbeit noch nie bemerkt.
Anwälte fordern Verbesserungen
Unabhängig davon, ob sich die Haftbedingungen allmählich verbessern, die Praxis der Gerichte bleibt streng. Marcel Bosonnet, bekannt geworden als Anwalt des Whistleblowers Edward Snowden: «Die U-Haft wird von der Staatsanwaltschaft noch immer als ein Geständnislabor missbraucht.»
Tanja Knodel wünscht sich, dass die Inhaftierten als Einzelfall betrachtet werden und nicht einfach ein einheitliches Haftregime durchgezogen wird: «Wenn etwa bei jemandem Fluchtgefahr besteht, gibt es keinen Grund, dass die Person deswegen nicht mit der Mutter telefonieren darf.»
Der Verteidiger Diego Gfeller kritisiert, es werde noch immer zu schnell und zu lange U-Haft angeordnet, statt auf Ersatzmassnahmen wie die Fussfessel zu setzen. Zwar könnten die Gefangenen nun endlich mit ihren Anwälten telefonieren. Doch nicht politischer Wille, sondern Corona habe dies bewirkt.
Ungewisse Zukunft
Derweil ist für M. unklar, wie sein Fall ausgehen wird. Noch ist offen, ob es überhaupt zu einer Anklage kommt. «Auch bei uns geschieht Unrecht», erklärt er die Lage seinen Kindern.
«Die U-Haft kann uns alle treffen», sagt Strafverteidigerin Tanja Knodel: «Es reicht ein falscher Verdacht, eine Verwechslung oder zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.»
* Name geändert