«Wird das Haus abgerissen, werden viele Erinnerungen ausgelöscht»
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Hausbesitzer ärgert Tunnelbau:«Mit dem Abriss werden viele Erinnerungen gelöscht»

Ehepaar Wüthrich droht Enteignung am Bielersee
Ihr Haus soll einem Parkplatz für Baumaschinen weichen

Annemarie und Ronald Wüthrich wollten am Bielersee alt werden. Nun stehen sie vor dem Nichts: Das Bundesamt für Strassen darf ihr Haus abreissen.
Publiziert: 17.12.2023 um 10:56 Uhr
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Aktualisiert: 20.12.2023 um 10:47 Uhr
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Kämpft um sein Zuhause: Ronald Wüthrich hat mit seiner Frau Annemarie am Bielersee ein Haus gekauft. Jetzt will der Bund die beiden enteignen.
Foto: Philippe Rossier
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Lino SchaerenRedaktor

Ronald Wüthrich (66) arbeitete 37 Jahre als Kantonspolizist. Heute zweifelt er an dem Staat, dem er so lange treu gedient hat.

Vor 14 Jahren kaufte er mit seiner Frau Annemarie (65) ein kleines Haus direkt am Bielersee, beim historischen Weiler Wingreis der Gemeinde Twann-Tüscherz BE. Inmitten von Reben und nah am Wasser wollte das Ehepaar seinen Lebensabend verbringen. Doch aus dem Traum wurde ein Albtraum.

Seit kurzem haben Annemarie und Ronald Wüthrich Gewissheit: Das Bundesamt für Strassen (Astra) darf sie enteignen. So hat es das Bundesverwaltungsgericht entschieden. Das Astra will das Einfamilienhaus abreissen, um dort etwa zehn Jahre lang den «Baustelleninstallationsplatz» für einen Autobahntunnel einzurichten, mit dem die Seegemeinde Twann umfahren werden soll. Ronald Wüthrich ist fassungslos: «Um einen temporären Parkplatz für Baumaschinen zu schaffen, wird unser Daheim zerstört.»

Vor fünf Jahren wurden die Wüthrichs erstmals von den Plänen der Behörde informiert. Es war ein Schock. Über ihr Haus wurde ein Enteignungsbann gelegt. Seither darf das Ehepaar nicht mehr in sein Eigenheim investieren. Annemarie und Ronald Wüthrich kämpften bis zuletzt. Im August urteilte das Bundesverwaltungsgericht und wies ihre Beschwerde vollumfänglich ab: Das Interesse der Allgemeinheit sei wichtiger als die Interessen des Ehepaars.

Ihr Schicksal bewegt die Gemeinde

Für die Wüthrichs brach mit dem Urteil der Bundesrichter eine Welt zusammen. Nun hadern sie mit ihrem Schicksal – und dem Staat. Denn es sind nur wenige Meter, die ihnen zum Verhängnis werden. Das Tunnelportal wird zwar rund 800 Meter weiter westlich in den Berg gebohrt. Weil die Platzverhältnisse zwischen Bielersee und Rebbergen aber so knapp sind, erstreckt sich die lang gezogene Baustelleninstallation bis direkt zum Weiler Wingreis. Dort liegt das Haus der Wüthrichs rund 60 Meter ausserhalb der historischen Siedlung – und kann deshalb gemäss Angaben der Bauherren nicht verschont werden.

Das Bundesverwaltungsgericht sah es genauso, das Urteil ist inzwischen rechtskräftig. Auf einen Weiterzug ans Bundesgericht haben die Wüthrichs verzichtet. Ihr Anwalt riet ihnen ab, so etwas sei teuer und biete kaum Aussicht auf Erfolg.

Das Schicksal des Ehepaars beschäftigt die ganze Gemeinde. Auch Twann-Tüscherz hatte Einsprache eingereicht und forderte eine Verkleinerung der Baustelleninstallation. «Wir wollten unbedingt verhindern, dass die Familie Wüthrich enteignet wird», sagt Gemeindepräsidentin Margrit Bohnenblust (66). Mehr Gehör als die Hausbesitzer fand aber auch der Gemeinderat nicht.

Mit ihrem Einsatz für die Bevölkerung des Weilers Wingreis wollten die Verantwortlichen von Twann den Schaden durch die Umfahrung begrenzen. Denn die Tunnelfrage spaltet die Gemeinde. Das Idyll in den malerischen Winzerdörfern entlang des Bielersees ist trügerisch: Viele Anwohner fühlen sich geplagt von Lärm und Abgasen der Nationalstrasse, die sich zwischen Wasser und Jura durchzwängt. Im Dorfkern von Twann wartet man deshalb sehnsüchtig auf den Bau des Umfahrungstunnels.

Bevölkerung leidet unter Verkehrslärm

Ganz anders ist die Stimmung im rund einen Kilometer entfernten Weiler Wingreis, wo der Verkehr wieder aus dem Berg kommen wird. Dort schaut nun nicht nur das Ehepaar Wüthrich in die Röhre. Der Lärm bleibt – und obendrauf gibt es eine zehnjährige Grossbaustelle mitten in den geschützten Rebbergen. «Im Dorf Twann wollen sie ihre Ruhe. Was ein paar 100 Meter weiter passiert, interessiert sie nicht», sagt Annemarie Wüthrich. Seit 2019 arbeitet ein Bürgerkomitee daran, den Tunnelbau zu verhindern. Gefordert werden stattdessen eine Temporeduktion und ein Transitverbot für den Schwerverkehr. Die Tunnel-Befürworter reagierten mit der Gründung einer eigenen Interessengemeinschaft.

Die lokalen Behörden sitzen in diesem Streit zwischen Stuhl und Bank. Der Gemeinderat von Twann-Tüscherz steht zwar hinter der Umfahrung und vertritt damit wohl die Mehrheit der lokalen Bevölkerung. Doch auch die Gemeinde hätte sich eine andere Lösung gewünscht. Eine mit einem längeren Tunnel, der auch den Weiler Wingreis umfährt. Doch Kanton und Bund hatten dafür kein Gehör.

Und so hoffen die Tunnelgegner nach wie vor, den 227 Millionen Franken teuren Bau zu verhindern. Die Chancen sind allerdings nicht sehr gross, die juristischen Mittel sind ausgeschöpft, der Tunnelbau ist bewilligt. Zumindest einen Teilerfolg errang die bekannte Demeter-Winzerin Anne-Claire Schott (37), die sich im Vorstand des Bürgerkomitees engagiert. Sie verliert durch den geplanten Baustelleninstallationsplatz gut 2000 Quadratmeter ihrer Reben. Auch sie zog deshalb bis vor das Bundesverwaltungsgericht – und bekam dort zumindest in einzelnen Punkten recht.

Ihre Reben kann Schott zwar nicht retten. Das Gericht hat das Astra aber angehalten, auf die angrenzenden Anbauflächen mehr Rücksicht zu nehmen. Der Bund muss ein Bodenschutzkonzept erstellen, das den biodynamischen Rebbau berücksichtigt – wobei Schott einbezogen werden muss. Und um die Trauben vor Immissionen zu schützen, dürfen die Strassenbauer nur so lange asphaltieren, bis sie zu reifen beginnen. Zudem erhält Schott das Land nach zehn Jahren Bauarbeiten zurück und darf es dann wieder neu bepflanzen. «All das sollte selbstverständlich sein», sagt die Winzerin. Für die Reben, die plattgemacht werden, hat Schott inzwischen Ersatz gefunden.

Wo bleibt die Menschlichkeit?

Annemarie und Ronald Wüthrich wissen derweil noch nicht, wie es mit ihnen weitergeht. Kürzlich wurde ihnen mitgeteilt, dass die Bauarbeiten nach der Weinlese im Herbst 2027 beginnen sollen. Die Enteignung ihres Hauses wurde noch nicht eingeleitet. Ein Funke Hoffnung ist deshalb geblieben. «Wir gehen nicht, bevor der Abriss unseres Daheims nicht in Stein gemeisselt ist», sagt Annemarie Wüthrich.

Tatsächlich lässt das Astra die Tür einen Spalt breit offen. Je nach Bauunternehmen, das den Zuschlag für den Bau des Tunnels erhält, sei nicht ausgeschlossen, dass die Parzelle doch nicht benötigt werde.

Die Wüthrichs wünschen sich, dass die Behörden bis dahin wenigstens endlich auf Augenhöhe mit ihnen kommunizieren. Bisher seien viele offizielle Schreiben eingegangen, sagt Ronald Wüthrich. Was seine Frau und er vermissen, sei die Menschlichkeit.

Sie hätten zu spüren bekommen, was es bedeute, wenn die geballte Staatsmacht einfache Bürger trifft, sagt der ehemalige Kantonspolizist.

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