Markus Eberle ist ein guter Hirt. Er kennt die Alp besser als seine Hosentasche. Der 24-Jährige weiss, wo die Schafe besonders gern grasen, wo der Wald beginnt und das Gelände unwegsam wird.
Im kalten Juni hilft ihm dieses Wissen allerdings wenig. Ständig drückt von unten der Nebel in die Flumserberge. Eberle sieht 10, höchstens 15 Meter weit, der Geruchssinn seiner Hunde ist eingeschränkt. «Das hat der Wolf knallhart ausgenützt», sagt der Hirt.
In den ersten Nächten des Alpsommers, als seine Herde noch in der Nähe der Hütte eingepfercht war, kommt das Raubtier fast jeden zweiten Tag. Kurz vor Mitternacht schlagen die Hirtenhunde ein erstes Mal an, zwischen 4 und 5 Uhr morgens wieder. «Wir wurden regelrecht belagert.»
Was dann Ende Juni passiert, bezeichnet Eberle heute als «Massaker». Acht Schafe tötet der Wolf, vier verletzt er so schwer, dass sie von ihrem Leiden erlöst werden müssen. Auf der Alp Halde bewachen zu dem Zeitpunkt drei Hunde die 662 Schafe. So, wie es das Herdenschutzkonzept des Kantons St. Gallen vorsieht.
Vollgepumpt mit Adrenalin
Auch danach macht der Wolf weiter, tappt in die Fotofalle, die Eberle 50 Meter von der Alphütte entfernt aufgestellt hat. «Er hatte keine Furcht mehr, beobachtete uns Tag und Nacht.» Eberles Partnerin lässt den einjährigen Sohn keine Sekunde lang aus den Augen.
Die Anwesenheit des Wolfs macht die Schafe unruhig. Vollgepumpt mit Adrenalin knurren die Hunde gegen die Dunkelheit an, werden müder und müder. Eines Nachts ist die Energie aufgebraucht – Hirtenhund Fly wird im Kampf mit dem Wolf verletzt.
Druck auf Rösti steigt
Jetzt befindet sich Markus Eberle in einer Situation, in die er gar nie geraten wollte. Der Hirt, der die Ruhe und die Abgeschiedenheit der Berge liebt, das Leben in der Natur und sämtliche Tiere, muss plötzlich Journalistinnen und Journalisten Auskunft geben.
Der Besitzer von Fly, ein Bauer aus der Region, der bei den Rissen vier Schafe verlor, hatte Bauernverbandspräsident Markus Ritter alarmiert. Dieser lud vergangene Woche zur Pressekonferenz auf die Alp Halde, um den Druck auf Albert Rösti zu erhöhen.
Im Herbst entscheidet der Bundesrat über die revidierte Jagdverordnung. Mitte-Nationalrat Ritter fordert, dass Wolfsrüden nach «massiven Angriffen» auf Nutztiere unverzüglich abgeschossen werden dürfen. Ansonsten würden die «schlechten Eigenschaften» des Wolfs an die Welpen weitergegeben. «Tägliche Angriffe auf die Herde machen Hirte und Hunde fix und fertig. Alle sind am Ende ihrer Kräfte.»
Es gebe ihm enorm zu denken, wie schnell die Wölfe lernten, die Schutzmassnahmen zu überwinden, sagt Bauernpräsident Ritter. Es finde ein eigentliches Wettrüsten zwischen den Hirten, ihren Hunden und dem Wolf statt. «Alles, was die sogenannten Spezialisten von den Umweltverbänden sagen, wurde von der Realität eingeholt.»
Risse sind rückläufig
David Gerke, Geschäftsführer der Gruppe Wolf Schweiz, widerspricht: Die Wölfe seien heute nicht schlauer als vor 20 Jahren, so der Solothurner Grünen-Kantonsrat. Dass die Risse pro Wolf rückläufig sind, sei zweifelsfrei auf den Herdenschutz zurückzuführen. «Diese Hunde sind in höchstem Masse effizient und stehen weltweit seit Hunderten von Jahren im Einsatz.»
Entscheidend sei, dass eine Herde «kompakt» geführt werde. Was Gerke meint, verdeutlicht das Beispiel aus dem vergangenen Jahr. Im Kanton Graubünden ereigneten sich zwar zwei Drittel aller Risse in Herden mit Schutzhund. Jedoch erfolgten diese nur in acht Prozent der Fälle im Einflussbereich der Hunde. Die Schafe hielten sich also fernab der Herde auf, als sie angegriffen wurden.
Ein Job: Gefahren abwehren
Was auf der Alp Halde passiert sei, wolle er aus der Ferne nicht beurteilen, sagt Gerke. Die Aufgabe eines Herdenschutzhundes sei aber klar: Gefahren abwehren – mit dem Einsatz von 50 Kilogramm Körpergewicht. «Wenn wir nicht akzeptieren wollen, dass es diese Kämpfe zwischen Wolf und Hund gibt, können wir es gleich bleiben lassen.» Die Politik instrumentalisiere nun die Geschehnisse auf der Alp Halde, sagt Gerke. «So wird eine Stimmung gegen den Wolf geschürt, die uns nicht weiterbringt in der Diskussion.»
Seit dem letzten Winter dürfen Wölfe in der Schweiz zur Verhütung künftiger Schäden präventiv getötet werden. Nächste Woche diskutieren die Kantone an einer Sitzung die geplanten Regulierungsmassnahmen. Anschliessend gehen die Gesuche ans Bundesamt für Umwelt, das diese prüft. Zum grossen Halali auf den Wolf geblasen wird dann schon ab dem 1. September – viel früher als im letzten Jahr, als es erst im Dezember losging.
Der Gruppe Wolf Schweiz bereitet dies Sorgen. Im September seien die Jungwölfe noch nicht selbständig, sagt David Gerke. Körperlich und geistig seien sie nicht in der Lage, selbst auf Nahrungssuche zu gehen. Darum sei es wichtig, dass die Kantone besonders gut hinschauten. «Es darf nicht sein, dass Muttertiere gejagt werden, deren Junge dann jämmerlich verenden.»
Herdenschutzhund Fly geht es besser
Fly, der bei der Verteidigung der Herde drei Zehen verloren hat, erholt sich derweil bei seinem Besitzer. Es geht ihm besser, doch mit neun Jahren ist seine Zeit als Hirtenhund wohl zu Ende.
Nach den Angriffen hat Markus Eberle den Herdenschutz verstärkt. Neu bewachen fünf Hunde die Schafe, die Nächte verbringen die Tiere noch enger zusammengepfercht.
Hundertprozentige Sicherheit gebe es auf der Alp aber nie, sagt der Hirt. Entfernt sich ein Schaf zu weit von der Herde und verirrt sich im unübersichtlichen Gelände, kann es immer noch leicht zur Beute werden.
Er sei definitiv kein Wolfsgegner, sagt Markus Eberle. «Das Raubtier war schliesslich vor uns da.» Er plädiert jedoch dafür, dass schneller und bewusster aussortiert werde. Wenn ein Rudel die natürliche Scheu verliere und brenzlige Situationen auf der Alp verursache, müsse es eben weg, sagt der Hirt. «Der Wolf darf den Respekt vor den Menschen niemals verlieren.»