Diskussion nach Unfall
Wie wird der Gotthard sicher?

Mit Entgleisungsdetektoren wäre das Gotthard-Drama kleiner ausgefallen. Doch die Schweiz konnte sich auf europäischer Ebene nicht durchsetzen.
Publiziert: 20.08.2023 um 00:18 Uhr
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Aktualisiert: 21.08.2023 um 07:54 Uhr
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Die Güterwagen im Gotthard waren teilweise mit Lebensmittel beladen.
Foto: Keystone
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Raphael RauchBundeshausredaktor

Der Gotthard-Mythos hat Risse bekommen. Eigentlich sollte das Projekt für «Innovationskraft, Präzision und Zuverlässigkeit» stehen, wie die damalige Verkehrsministerin Doris Leuthard 2015 erklärte – ein Jahr vor den Feierlichkeiten zur Eröffnung des Gotthard-Basistunnels.

2016 rauschte Leuthard mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel durch die neue, zwölf Milliarden teure Röhre. Wofür sich die Öffentlichkeit nie interessierte: Deutschland und weitere EU-Länder hatten Schweizer Vorstösse für eine Verpflichtung zum Einbau von Entgleisungsdetektoren im Güterverkehr jahrelang ausgebremst. Hätte es diese Vorschrift gegeben, wäre der Unfall im Gotthard wohl deutlich glimpflicher abgelaufen. Und auch die Aufräumarbeiten würden sich kaum bis ins nächste Jahr hinziehen.

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Lokführer konnte nichts dafür

Diese Woche teilten die SBB mit: Der Führer des Unglückszugs – laut Tamedia-Zeitungen handelt es sich bei der Mehrheit der Wagen um solche des deutschen Ablegers der Zuger Firma Transwaggon – konnte vorn auf der Lok gar nicht mitbekommen, dass weit hinten ein Güterwaggon entgleist war. Erst acht Kilometer später, als die defekte Einheit über eine Weiche fuhr, krachte es. «Der Güterverkehr ist ein dummer Verkehr», sagt Rudolf Büchi von der SBB-Abteilung Infrastruktur. «Wir haben keine Informationen, was hinten im Zug geschieht.»

Anders sieht es bei Zügen mit Entgleisungsdetektoren aus. Entgleist ein Wagen, bringt eine Schnellbremsung den Zug zum Stehen. Oder der Lokführer erhält ein Warnsignal und kann reagieren.

Technik hätte weitere Schäden verhindern können

Die Ingenieurin Irmhild Saabel (60) ist überzeugt: Mit schärferen Vorschriften wäre der Schaden im Gotthard-Basistunnel geringer ausgefallen. «Detektoren können keine Entgleisung verhindern. Aber sie hätten verhindert, dass der Zug noch acht Kilometer weiterfährt und weitere Infrastruktur beschädigt.» Saabel ist Mitglied der Geschäftsleitung der Wascosa AG in Luzern, die Güterwaggons europaweit vermietet. «Zwei der Wagen des Gotthard-Unfallzugs sind von Wascosa, beide sind mit Entgleisungsdetektoren ausgestattet. Die Wagen sind jedoch aufgrund ihrer Position im Zugverband, also am Anfang oder Ende des Zuges, nicht entgleist und konnten deswegen auch nicht Alarm schlagen.»

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Der Titel eines Wascosa-Newsletters aus dem Jahr 2014 klingt wie die Vorwarnung für das, was nun tatsächlich eingetreten ist: «Der Einsatz von Entgleisungsdetektoren bei Tunnelfahrten – eine Massnahme zur Erhöhung der Sicherheit im Schienengüterverkehr.» Die Diskussion über diese Technik begann sogar schon früher – nach dem Zugunglück von Zürich-Affoltern im Jahr 1994, als ein Tankwagen entgleiste, kilometerlang weitergeschleppt wurde, umkippte und in Flammen aufging.

Schon damals wurden Geräte zur Prävention entwickelt. «Die erste Generation von Entgleisungsdetektoren war fehleranfällig. Mit der neueren Generation macht unser Unternehmen gute Erfahrungen», sagt Saabel. «Am Ende ist es eine Geldfrage: Mehr Güterverkehr soll von der Strasse auf die Schiene, deswegen soll der Schienenverkehr so günstig wie möglich werden. Und deswegen hatte das Ausland Interesse daran, eine Detektorenpflicht zu verhindern.»

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Verbesserte Infrastruktur im Tunnel

Das Bundesamt für Verkehr (BAV) teilt mit, es habe «mehrere Anläufe auf internationaler Ebene» gemacht – ohne Erfolg. «Die Europäische Eisenbahnagentur und einzelne EU-Staaten hatten Bedenken bezüglich Kosten-Nutzen, Zweckmässigkeit und Sicherheit dieser Massnahme.» Lediglich für Chlor-Transporte in der Schweiz habe das BAV den Einsatz von besonders sicheren, mit Entgleisungsdetektoren ausgerüsteten Wagen durchsetzen können, allerdings «nur auf freiwilliger Basis».

Der ehemalige SBB-Chef Benedikt Weibel (77) bringt eine weitere Variante ins Spiel, um den Gotthard-Basistunnel sicherer zu machen: «Es ist unrealistisch, jeden Güterwaggon mit einem eigenen Detektor auszustatten. Wir sollten darüber nachdenken, die Infrastruktur im Tunnel mit neuen Sensoren zu verstärken.» Die könnten auf Vorkommnisse wie Entgleisungen reagieren – und in der Lok Alarm schlagen. Weibel: «Erste Projekte hierzu gibt es im Ausland. Das wäre auch was für den Gotthardtunnel.»

Personenverkehr erst 2024 wieder möglich

Noch handelt es sich aber um Zukunftsmusik. Die Räumungsarbeiten im Gotthard laufen auf Hochtouren. Ab Mittwoch soll die Vollsperrung aufgehoben sein. In einer Röhre kann dann der Güterverkehr wieder fliessen. Passagiere müssen sich noch bis zum nächsten Jahr gedulden.

Erst wenn die zweite Röhre instandgesetzt ist, wird der Gotthard wieder für Reisende geöffnet. Bis dahin rollen Personenzüge über die alte Gotthard-strecke. Die Fahrzeit von der Deutschschweiz ins Tessin verlängert sich dadurch um rund eine Stunde. Passagiere in Richtung Mailand (I) müssen in Chiasso TI umsteigen und mit bis zu zwei Stunden zusätzlicher Fahrtzeit rechnen.

Die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle will nächste Woche erste Details zum Gotthard-Unglück bekannt geben. Die Diskussion darüber, wie der Gotthard sicherer werden kann, läuft bereits.

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